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Ausgabe:

September/2002

Spalte:

886–889

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Fricke, K. D. und S. Meurer [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die Geschichte der Lutherbibelrevision. Von den Anfängen 1850 bis 1984.

Verlag:

Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 2001. 389 S. gr.8 = Arbeiten zur Geschichte und Wirkung der Bibel, 1. Geb. ¬ 35,00. ISBN 3-438-06251-8.

Rezensent:

Birgit Stolt

Mit diesem Band wird eine neue Reihe begründet, in der "Themen aus der Schnittstelle zwischen theologischer Reflexion und kirchlicher Bibelpraxis" behandelt werden sollen. Von den dreizehn Herausgebern seien hier nur Johannes Anderegg, Martin Brecht und Helmut Reinitzer genannt um zu beleuchten, dass Philologie, Lutherforschung und Bibelforschung schwerpunktmäßig mit hervorragenden Wissenschaftlern vertreten sind. Laut dem Vorwort zur Reihe erhoffen Herausgeber und Verlag von den Arbeiten zugleich eine "kirchenverbindende Wirkung".

Die Sprache der Lutherbibel hat bekanntlich die deutsche evangelische Frömmigkeit jahrhundertelang zutiefst geprägt und sich in Gebet, Kirchenmusik, Liedgut, Erbauungsprosa sowie in Sprichwörtern und Redewendungen niedergeschlagen. Von der Mitte des 19. Jh.s an hatte sich die deutsche Sprache jedoch so weit verändert, dass Luthers Bibel immer unverständlicher wurde. Die evangelischen Landeskirchen zusammen mit den Bibelgesellschaften beschlossen daher eine sprachliche Revision, die altertümliche Ausdrücke ersetzen und notwendige Korrekturen vornehmen sollte, wobei Luthers Erbe soweit wie möglich bewahrt bleiben sollte. Im Vorwort bemerkt Siegfried Meurer, dass die Initiative nicht von der Kirche ausging, sondern von den Bibelgesellschaften, die - nicht zuletzt! - die notwendigen erheblichen finanzielllen Mittel aufbrachten. Der vorliegende Band zeichnet den Revisionsprozess nach, der sich über hundert Jahre erstreckte und vorerst mit der Revision von 1984 seinen Abschluss gefunden hat.

Die Aufgabe, den Luthertext dem aktuellen Sprachgebrauch anzupassen, um Verständlichkeit zu sichern, gleichzeitig jedoch den einmaligen Charakter der Luthersprache zu bewahren, ist gelegentlich als "Quadratur des Kreises" bezeichnet worden. Noch jede Revision ist auf Kritik gestoßen. Wann ist der Punkt erreicht, wo der Text nicht mehr als Luthers Sprache empfunden wird? Der Rezeption nach zu urteilen, war er mit der NT-Fassung von 1975 erreicht. Sehr distanziert verhält sich das Vorwort zu dem einmaligen Vorgang, dass eine Rückrevision dieses Textes vorgenommen werden musste, als die Fassung von 1975 von zwei Landeskirchen und der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche in Österreich abgelehnt worden war. Meurer verzichtet auf die Schilderung der Kritik unter Hinweis auf den Band "Verrat an Luther?" (Stuttgart 1977, Bd. 17 der Reihe "Die Bibel in der Welt"). Über die Rückrevisionsarbeit gibt Ernst Lippold einen knappen Überblick (s. u.); er nennt sie einen "einmaligen Vorgang", eine "erstaunliche Entwicklung". Da man hier Grenzen der Revidierbarkeit definieren kann, wäre eine ausführlichere Darstellung lehrreich gewesen. Nicht nur die wissenschaftlichen Grundlagen haben seit Luthers Zeit Zuwachs erfahren, auch die Germanistik ist seit den sechziger Jahren mit der sog. "pragmatischen Wende" durch Textlinguistik und Rezeptionsästhetik mit neuen Einsichten bereichert worden, wobei sich überraschenderweise zeigte, dass Luther einige davon in Ansätzen bereits vorweggenommen hat. War in der Fassung NT 75 Luthers Sprache noch als "alltägliche Umgangssprache" eingeschätzt worden, wurde ihr in der 84er Fassung eine eigene "Textsorte Lutherbibel" zuerkannt.

Die Revisionsgeschichte wird in sieben Einzelbeiträgen dargestellt. Von den Anfängen der ersten kirchenamtlichen Revisionen gibt Lothar Schmidt einen ausführlichen Bericht (37-129) über die zahlreichen Konferenzen, Sitzungen, Kirchentagungen und Beschlüsse von Bibelgesellschaften, Kirchenräten, Konsistorien und Kommissionen bis zur Probebibel 1883, mit den Namen der wichtigsten Mitwirkenden. Von den Mitarbeitern wird Karl Frommann, der die Verantwortung für die sprachliche Behandlung des Luthertextes trug, eigens von Walter Rupprecht gewürdigt (130-148; Wiederabdruck eines Vortrags von 1987). Rupprechts Beitrag geht über die im Titel genannte Grenze hinaus, indem er das Geschick der 1892 (nach Frommanns Tod) erschienenen Lutherbibel bis 1982 skizziert und sogar die vehemente Kritik von Walter Jens 1980 am NT 75 anführt.

Klaus Dietrich Fricke referiert "Die Fortsetzung der Revisionsarbeit von 1870 bis 1956" (149-187), die seit 1870 nun auch die Revision des Alten Testaments enthält. Drei kirchenamtliche Revisionen endeten mit dem "Revidierten Text 1956". Die oft dramatischen Spannungen zwischen einzelnen Kommissionsmitgliedern demonstrieren die großen Schwierigkeiten und Probleme mit denen man zu kämpfen hatte. Als "Schlüsseljahr" wird 1928 bezeichnet, wo die Grundsätze festgelegt wurden, die seither gültig blieben, über deren "Dehnbarkeit" jedoch gestritten wurde (160.174 f.).

Wilhelm Gundert referiert in einem konzisen Beitrag über "Die Revision des Alten Testaments 1964" (188-196; Erstdruck in "Kirche in der Zeit" 1964). Seit 1960 war auch ein Germanist, Prof. F. Tschirch, für Fragen der deutschen Sprache zuständig. Die Revision des Alten Testaments ist reibungsloser verlaufen, wenn auch hier Spannungen bestanden, die aus Luthers christologischem Verständnis des AT herrührten. Die Kommission ist einen Mittelweg gegangen und hat mitunter Luthers Übersetzung in einer Anmerkung gebracht, wo sie wesentlich vom Urtext abwich (194 ff.).

Klaus Dietrich Fricke: "Probleme und Stand der Revision der Apokryphen der Lutherbibel" (Erstdruck 1967 in "Die Bibel in der Welt" Bd. 10) behandelt Texte, die Luther als sekundär, jedoch "sehr nützlich zu lesen" betrachtete. Hier besteht ein Sonderproblem, indem man jetzt erkannt hat, dass Luther hier nicht selbst übersetzt, sondern Texte seiner Mitarbeiter "leicht sprachlich überarbeitet" hat, so dass man vorsichtig von "dem reformatorischen Erstübersetzer" spricht (213-215).

In einem Beitrag von Wilhelm Gundert: "Die Revision des Neuen Testaments von 1975" (218-228; Erstdruck in "Luther" 49, 1978), wird angesichts der vehementen Kritik ein defensiver Ton angeschlagen. Die Kritik zeige, "wie schwer es manche Kreise nehmen, wenn ein altvertrauter Wortlaut verändert wird". Die jetzt abgeschlossene Revision sei wahrscheinlich der letzte Versuch, an der Lutherbibel festzuhalten: "Rückkehr zum alten Luthertext würde bedeuten, sie für die Gemeinde aufzugeben" (228). Der nächste Beitrag widerlegt dies: Ernst Lippold, "Die Revision des Neuen Testaments der Lutherbibel 1981-1984" (229-249, Erstdruck in "Die Bibel in der Welt" 21, 1985), der auch die sprachwissenschaftlichen Fortschritte reflektiert, die zu einer neuen Einschätzung der Luthersprache geführt haben.

Einblick in die jahrzehntelange mühsame und oft undankbare Revisionsarbeit im Einzelnen mit ihren Problemen, Konflikten und Lösungsversuchen vermittelt der dritte Teil, der Berichte der Revisoren der Lutherbibelausgaben 1883-1955 sowie Vor- und Nachworte zu durchgesehenen Ausgaben wieder abdruckt. Die Revisionsgrundsätze von 1928 sind abgedruckt S.352. - Wünschenswert wäre gewesen, auch etwas über die "Loccumer Richtlinien" zu erfahren, auf die wiederholt bei der Diskussion der heiklen Eigennamensfragen hingewiesen wird ("ein dorniges Problem", Lippold 238; 239 u. a.).

Die Bibliographie von Klaus Dietrich Fricke erhebt den Anspruch, "[...] alle Veröffentlichungen zur Revision der Lutherbibel, soweit diese nachweisbar sind" zu enthalten (31). Aus dem Vorwort wird ersichtlich, dass der Herstellungsprozess Schwierigkeiten bot, die bei der Rezn. Hemmungen erwecken, Kritik zu äußern: "Die Titel waren verzettelt und mußten listenmäßig erfaßt werden, womit er [Fricke] bis zu seinem überraschenden Tode am 17.6. befaßt und nahezu fertig geworden war" (31). Man fragt sich, ob Fricke selbst abschließend Kontrollen vorgenommen hätte, und wer die Fertigstellung übernommen hat. Stichproben ergeben schnell, dass Lücken und Mängel bestehen und neben dem Zettelkasten auch die neue Technik hätte ausgenutzt werden sollen.

Von meinen eigenen Aufsätzen (auf S. 237 von Lippold als bei der Revision 1984 "klärend" bezeichnet), fehlt beispielsweise der S. 233 f. ausführlich zitierte: "Biblische Erzählweise vor und seit Luther - sakralsprachlich - volkssprachlich - umgangssprachlich?" (aus Vestigia Bibliae 4, 1982, 179-192), und der Aufsatz: "Luther, die Bibel und das menschliche Herz. Stil- und Übersetzungsprobleme der Lutherbibel damals und heute" (1983), der als "Manuskript, Eisenach ..." angeführt wird, ist vielmehr gleich zweimal abgedruckt, und keinesfalls an entlegener Stelle: 1. in "Muttersprache" Bd. 94, Sonderheft (1983/84) 1-15, sowie in "Die Zeichen der Zeit" 37, 1983, 295-302. - Auch das Vortragsmanuskript von Walter Jens: "Revision der Luther-Bibel - Das letzte Wort?", ist später gedruckt bei H. Müssener [Hrsg.]: "Aspekte des Kulturaustausches zwischen Schweden und dem deutschsprachigen Mitteleuropa nach 1945", Stockholm 1981, 311-328. - Zu den "Loccumer Richtlinien" fehlt der Aufsatz von Joachim Lange: "Lutherbibel und Loccumer Richtlinien" in S. Meuerer [Hrsg.], "Die neue Lutherbibel", Stuttgart 1985, 82-90 sowie Frickes eigener Aufsatz in "Die Bibel in der Welt" 16, 1976, 131-140. - Die Reihe "Vestigia Bibliae" wird konsequent "Vestigiae ..." bezeichnet und der Titel von Bd. 4 auf S. 386.387 und 388 jedesmal in anderer Fassung angeführt. - Dies sind nur Stichproben, die auf Mängel hinweisen, die ohne Zweifel auf den durch die Umstände erschwerten Herstellungprozess zurückzuführen sind. (Vgl. zum Problem "Lutherbibelrevisionen" jetzt B. Stolt, Martin Luthers Rhetorik des Herzens, Tübingen 2000 = UTB 2141, 112-126.145 f.).

An dem sorgfältig rückrevidierten Text waren als Germanisten zunächst Johannes Erben, danach hauptsächlich Dieter Gutzen beteiligt. Ebenso auffällig wie der erbitterte Streit gegen die Version von 1975 ist die große Stille um die Fassung 1984. Sie hat sich offenbar in den vergangenen Jahren bewährt, auch in der Konkurrenz mit der "Einheitsübersetzung". Der vorliegende Band dokumentiert den langwierigen, mühevollen, konfliktreichen und oft undankbaren Arbeitseinsatz vieler Mitarbeiter, dem zu verdanken ist, dass uns der fünfhundert Jahre alte Text noch heute anspricht und packt.