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Ausgabe:

September/2002

Spalte:

884–886

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Calzolari Bouvier, Valentina, Kaestli, Jean-Daniel, et Bernard Outtier [Eds.]

Titel/Untertitel:

Apocryphes arméniens. Transmission - Traduction - Création - Iconographie. Actes du colloque international sur la littérature apocryphe en langue arménienne (Genève, 18-20 septembre 1997).

Verlag:

Lausanne: Éditions du Zébre 1999. 190 S. m. 21 Taf. z. T. farb. gr.8 = Publications de l'Institut Romand des Sciences Bibliques, 1. Kart. sFr 65,00. ISBN 2-970008-89-0.

Rezensent:

Folker Siegert

Die Armenier sind ein "Volk der Schrift" seit ihrer Annahme einer Religion, die der Schrift bedurfte. Gegen Ende des 3. Jh.s ließ König Trdat (Tiridates) sich taufen, und mit ihm nahmen seine Großen und die ganze Nation das Christentum an (vgl. Rez., Die Armenier, Volk der Schrift. Eine späte Parallele zum jüdischen Schicksal, in: Müller, H.-P./Siegert, F. [Hrsg.]: Antike Randgesellschaften und Randgruppen im östlichen Mittelmeerraum. Münster 2000, 189-221; Lit.: 218-221). Seither beansprucht das armenische Volk den Ruhm, die älteste christliche Nationalkirche der Welt zu sein. Jedenfalls ist es die älteste noch bestehende. Die schuf sich einen Gelehrtenstand, ähnlich dem der jüdischen Rabbinen, und die armenische Intelligenz unterhielt - das ist außergewöhnlich - freundschaftliche Beziehungen zur jüdischen Minderheit.

Die nach der Erfindung des armenischen Alphabets (5. Jh. n. Chr.) rasch aufblühende armenische Literatur - gleich ob übersetzt oder neu geschaffen - ist geprägt von ihrer Nähe zur Bibel und zu den jüdischen Traditionen (als Bibliographie s. R. W. Thomson: A Bibliography of Classical Armenian Literature to 1500 [CC], Turnhout 1995; dort zu den Apokryphen: S. 233- 238). Vieles Jüdische (wie die pseudo-philonischen Predigten) besitzen wir nur noch in armenischer Übersetzung.

Ein weiteres Charakteristikum ist ein besonderes Geschichtsbewusstsein, das sich auch und gerade in den apokryphen Texten (oder sagen wir: para-biblischen Midraschim) verrät. Gleich in ihrer Einleitung knüpft die Hauptherausgeberin, Valentina Calzolari Bouvier, Professorin für Armenisch an der Universität Genf, den historischen Faden an, der durch das sonst so verwirrende Labyrinth der jüdisch-christlichen "apokryphen" Literatur zu führen geeignet ist: Mit ihrer Geschichtsschreibung wie auch mit ihren Legenden tragen sich die Armenier in die Geschichte Gottes mit seinem erwählten Volk mit ein, ohne in die dem Westen so geläufige Feindschaft zum zeitgenössischen Judentum zu geraten. So haben sie auf Grund ihrer engen Beziehungen zu Syrien den apokryphen Briefwechsel Jesu mit König Abgar von Edessa übernommen. Addai/Thaddäus, einer der zweiundsiebzig Apostel von Luk 10, soll ihn überbracht haben. Das Martyrium dieses Addai wird aus den übersetzten Texten getilgt, um ihn - in der armenischen Fortschreibung der Abgar-Legende - weiterreisen und zum Apostel Armeniens werden zu lassen. Erst dort wird er zum Märtyrer. Ein eigenes armenisches Bartholomäus-Martyrium lässt sodann Bartholomäus, einen aus Jesu Zwölferkreis, die Arbeit fortsetzen und seinerseits in Armenien zum Märtyrer werden; beide finden ein gemeinsames Grab. - Historisch gesehen hat Armenien das Christentum tatsächlich auf zwei Wegen erhalten, einmal - in syrischer Form- über die Osrhoene, das andere Mal - griechisch - über Kappadokien.

Freilich kann man lächeln über diese immer noch mythische Art, Apostolizität zu behaupten (die Kirche Armeniens nennt sich ja auf diese Weise die "Armenisch-Apostolische Kirche"). Auf der anderen Seite - so sagt uns die Hgn. - hatte der Widerstand gegen den Druck aus Byzanz diese Stütze nötig, und sie hat gewirkt. In gleichem Sinne haben gerade Armeniens älteste Geschichtsschreiber (Agathangelos, Koriun) ihre Berichte in den Rahmen biblischer Betrachtungen eingefügt, die das Providentielle in den Ereignissen erkennbar machen: Durch ihre - mit hohen Opfern bezahlte - Annahme und Bewahrung des Christentums sind die Armenier "in vollem Sinne zu einem Erwählten Volk geworden" (14). Mesrop/Maschtots, der Bringer der Schrift, wird mit Mose verglichen, womit eine neue Warnung gegen Rückfall in den Götzendienst sich verbindet. Das Geschichtswerk des Agathangelos schließt mit Ps 78(77), 5-8: "Er richtete ein Zeugnis auf in Jakob und gab ein Gesetz in Israel/ und gebot unsern Vätern, es ihre Kinder zu lehren" (ebd. 15).

Das gleiche Geschichtsbild erweist unter dem unscheinbaren Titel Two Armenian Manuscripts and the Historia Sacra ein Beitrag von Michael Stone (21-31): Ein Traktat Über die Monate der Hebräer verbindet den traditionellen armenischen Kalender mit dem essenischen Sonnenkalender. Die Heiligkeit Israels und seiner Priester ist Gegenstand frommer Betrachtung (29). In die Völkertafeln des Alten Testaments tragen sie sich ein unter den Japhetiten als eines der 72 Völker der Erde - und als eines von 12 Völkern, die sich der Schrift bedienen. Die Übersicht über den Codex Harley 5459 der British Library (32-36) bietet eine eindrucksvolle Darstellung des traditionellen armenischen Geschichtsbildes als eines Teils der weltumspannenden Heilsgeschichte. Stone resümiert sein Manuskript: "The overall sequence of the manuscript so far reflects the Historia sacra and then the great teachers of the Church, followed by the Parousia, the eschaton and the assertion of God's rule. Old Testament chapters are selected so as to demonstrate or prefigure matters in relation to these overall themes." Nun wundert man sich nicht, dass in Armenien Privatleute, Philosophen und Könige Namen tragen aus der Hebräischen Bibel. In alledem wird Israel beerbt, aber nicht enterbt.

Legende und Geschichtsschreibung überschneiden sich, oder besser: geben einander Farbe. Stone bemerkt, dass die frühe armenische Geschichtsschreibung sich aus der Makkabäer-Geschichte inspiriert, insbesondere aus dem 1. Makkabäerbuch (30). Manches Jüdische ist verarbeitet in armenischen Midraschim, genannt tschark (Homilien). Daneben ist viel Christlich-Apokryphes ins Armenische übersetzt und auch weitergedichtet worden. Die zwei Fassungen des sog. Protevangelium Jacobi haben Anlass gegeben zu deren drei im Armenischen: So Nira Stone, Apocryphal Stories in Armenian Manuscripts (161- 170).

Ergänzend zu dem Buch sei an dieser Stelle verwiesen auf die armenische Verkündigung Jonas in Ninive, die jüdischen Vorbildern folgt, streckenweise aber auch wörtlich Ephraem dem Syrer (übers. bei Rez., Zwei hellenistisch-jüdische Predigten, Bd. 2, Tübingen 1992, 220-229; frz. in SC 435, Paris 1999, 97-103). Erst in dem Moment, wo dieser in eine antijüdische Polemik ausbricht, geht der armenische Midrasch eigene Wege und findet einen versöhnlichen Schluss. Die Niniviten preisen Israel selig; doch scheut sich Jona, sie mit ihm in sein Heimatland ziehen zu lassen: Zu sehr könnten sie von den Verhältnissen dort enttäuscht sein. Mit seiner Mutter (nach jüdischer Tradition ist dies die Witwe von Zarpat) wandert er aus "ins Land Ismaels". Das ist ja wohl eine - wiederum nicht unfreundliche- Anspielung auf die muslimischen Araber, die Jona ihrerseits verehren.

Wir können weitere Haftpunkte des Interesses in diesem Band nur andeuten. Christoph Burchard schreibt auf S. 73-90 über Character and Origin of the Armenian Version of Joseph and Aseneth. Bekanntlich ist die armenische Überlieferung dieses Textes gleich wichtig wie alle anderen. Das gilt auch noch, wenn Burchard jetzt die Übersetzung erst ins 10./11. Jh. datiert.- Andere Beiträge bezeugen die Arbeit der Bestandsaufnahme des gedruckten und v. a. des ungedruckten apokryphen Materials, die im Wirkungskreis der drei Herausgeber des Bandes sich derzeit abspielt.

Kritisch zu vermerken ist gelegentlich der Rückgang auf veraltete Literatur: Die Datierung der Eusebius-Übersetzung, für die auf S. 10, Anm. 7 ein Werk von 1877 namhaft gemacht wird, ist längst veraltet und um ein Jahrhundert "abgerutscht". Das Hypomnestikon des Ioseppos, auf S. 24 Anm. 15 nach Fabricius' Codex Apocryphus Veteris Testamenti von 1723 zitiert, wäre bequemer nachzuschlagen in MPG 106, 15-176.

Wir können diese Veröffentlichung und das in ihr vorgestellte Projekt nur begrüßen und hoffen, dass unser Verständnis des spätantiken Christentums - gerade in der vielgeschmähten konstantinischen Ära - daraus künftig bereichert wird.