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Ausgabe:

Juli/August/2002

Spalte:

841–843

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Meyer, Harding

Titel/Untertitel:

Versöhnte Verschiedenheit. Aufsätze zur ökumenischen Theologie. II: Der katholisch-lutherische Dialog.

Verlag:

Frankfurt/M.: Lembeck; Paderborn: Bonifatius 2000. 387 S. gr.8. Kart. ¬ 29,00. ISBN 3-87476-367-6 u. 3-89710-094-0.

Rezensent:

Jörg Ulrich

Nachdem der 1998 erschienene erste Band der gesammelten Aufsätze zur ökumenischen Theologie sich eher allgemeineren Fragen zur Ökumene gewidmet hatte, konzentriert sich der zweite Band ganz auf die Texte zum katholisch-lutherischen Dialog.

Der erste Teil dieses zweiten Bandes zeichnet die Geschichte des katholisch-lutherischen Dialogs in ihren drei wichtigen und mittlerweile als abgeschlossen anzusehenden Phasen nach. Der Beitrag "Evangelium und Kirche" (17-41) fasst die Vorgeschichte und erste Phase dieses Gesprächs zusammen, also die Jahre von 1965 bis zum Malta-Bericht 1972; er versteht sich als Kurzzusammenfassung dessen, was M. 1973 in seinem Buch "Luthertum und Katholizismus im Gespräch" breiter ausgeführt hatte. Als Hauptresultat jener Gespräche ist eine gemeinsame Bejahung der kriteriologischen Funktion der Rechtfertigungslehre festzuhalten, während bei der Frage nach dem Verständnis von Kirche, insbesondere bei der Amtsfrage, trotz einiger Annäherungen eine noch unzureichende Klärung zu diagnostizieren war (41). Die Beiträge "Konsens und Kirchengemeinschaft", "Das Gespräch über eine katholische Anerkennung des Augsburger Bekenntnisses" und "Strukturierte Gemeinschaft ohne gemeinsame Strukturen?" (42-103) beleuchten die zweite Phase des Dialogs in den Jahren 1973 bis 1984; als deren prägende Faktoren werden das fortschreitende Bemühen um Konsensbildung, der Bezug dieser Konsensbildung zur jeweiligen geltenden kirchlichen Lehre sowie das Bemühen um Verwirklichung kirchlicher Gemeinschaft auf Basis der erreichten Konsense herausgearbeitet (45). Die restlichen drei Beiträge des ersten Teils (104-189) widmen sich der dritten Phase des Dialogs (1986-1994) bis hin zur Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre (GE). Erwägungen "Zur Bedeutung und Tragweite der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre" schließen den ersten Teil des Aufsatzbandes folgerichtig ab.

Die Einsicht, dass mit der GE eine schlechterdings notwendige Voraussetzung für eine Abendmahlsgemeinschaft zwischen Katholiken und Lutheranern geschaffen sei, ohne dass man die GE selbst bereits als Ermöglichung solcher Abendmahlsgemeinschaft ansehen dürfe (186 f.), gilt dem Vf. als Grundlage für sein abschließendes Plädoyer, als "kommunitäre Gestalt" des erreichten Konsenses eine "eucharistische Gastbereitschaft" in besonderen Fällen und bei besonderen Anlässen zu ermöglichen; dass sich dieses Plädoyer gerade auch angesichts der gegenwärtig obwaltenden kirchenrechtlichen Situation zugleich als Versuch einer Ermutigung und Bitte in Richtung auf die römisch-katholische Kirche versteht, wird klar ausgesprochen (189). Freilich will M. ein etwaiges Nichtentsprechen einer solchen Bitte durch die römisch-katholische Kirche unter keinen Umständen als Infragestellung des Rechtfertigungskonsenses gedeutet wissen (189); man könnte zurückfragen, wie es denn dann um die faktische Leistungsfähigkeit solchen Konsenses und um die immer wieder beschworene kriteriologische Funktion der Rechtfertigungslehre innerhalb des erreichten Konsenses bestellt ist.

Der zweite Teil des vorliegenden Aufsatzbandes widmet sich einzelnen noch größtenteils offenen Kontroversfragen im katholisch-lutherischen Dialog. Er umfasst die Themen Tradition- Kirche - Bischofsamt - Primat - Mariologie, ist also ganz auf die Kernbereiche der Ekklesiologie konzentriert. Die Beiträge stellen sich im Wesentlichen als Versuch dar, die Grundtexte reformatorischer Überlieferung, namentlich die lutherischen Bekenntnisschriften, nach vorhandenen Konsenspotenzialen für das zukünftige ökumenische Gespräch abzusuchen: Vier der insgesamt neun Beiträge des zweiten Teils befassen sich eingehend mit den BSLK, namentlich zu den Themen Bischofsamt, Apostolizität und Papsttum.

Als wichtiger und bleibender Ertrag dieser Aufsätze ist festzuhalten, dass sie durch differenzierte Analyse manch immer wieder transportiertes kontroverstheologisches Vorurteil zu korrigieren imstande sind und eingespielte Abgrenzungs- und Selbstimmunisierungsreflexe auf lutherischer Seite in Frage stellen. Doch erheben sich gegen das von M. eingeschlagene Verfahren hin und wieder auch Bedenken, die nicht nur der Kirchenhistoriker teilen wird.

So erhellend einige der zu Tage geförderte Einsichten zweifellos sind, so schwierig wird man denn doch andererseits die Tatsache empfinden, dass die Interpretationen der Texte bisweilen unter erheblichem Theoriezwang der Auslegungsintention stehen. Ein Beispiel muss genügen: Dass Melanchthon in seinem Tractatus de potestate et primatu papae nicht das ius divinum des Papstprimats, sondern nur ein übersteigertes, maximalistisches Verständnis des ius divinum-Anspruchs (sic!) abgelehnt habe (337f.), ist trotz entgegenlautender Beteuerung des Vf.s zweifellos eine gewagte Behauptung; die Folgerung, Melanchthons "Argumentation könnte darauf hinweisen oder so interpretiert werden, daß der Traktat den ius-divinum-Anspruch des päpstlichen Primats nicht unter allen Umständen bestreiten, wohl aber ihn anders verstanden sehen will, als die zeitgenössische römische Theologie es tat" (338), widerspricht der vielfachen und mit zahlreichen biblischen und historischen Argumenten untermauerten Option für den ius humanum-Charakter des Papsttums im Tractatus und in anderen Äußerungen Melanchthons.

Die beiden von M. angeführten Belegstellen mit der Argumentationsstruktur "Selbst wenn der römische Bischof den Primat kraft göttlichen Rechtes besitzen sollte ..." sind im Kontext des Traktates eindeutig als Irrealis zu interpretieren: selbst unter dieser unzutreffenden Prämisse wäre es nötig, sich ihm zu widersetzen, sobald er falsche Gottesdienste und Lehre verteidigt. Von einem Zugeständnis Melanchthons im Sinne einer möglichen Akzeptanz des ius divinum des Primats kann keine Rede sein. M. sieht das selbst und räumt ein: "Zwar findet sich in seinem Traktat keine explizite Aussage dieser Art" (337). Er ist aber von seiner grundsätzlichen ökumenischen Option zu Gunsten einer möglichen Hinnahme des Papstprimats (unter Bedingung des kritischen und korrigierenden Primats des Wortes Gottes) in der evangelisch-lutherischen Kirche derart fasziniert, dass er die beiden Stellen im Tractatus de potestate et primatu papae ganz gegen Melanchthons eigentlich und breit belegte Argumentation interpretiert. Zudem muss, wie immer es um die Exegese der beiden fraglichen Stellen steht, grundsätzlich darauf aufmerksam gemacht werden, dass die Auffassung Melanchthons, ein das Evangelium zulassender Papst könne in seiner Supriorität menschlichen Rechts akzeptiert werden, in den Zusammenhang der seinerzeit aktuellen (kirchen-)politischen Lage im Reich gehört und noch längst kein zureichendes Argument für einen gesamtkirchlichen Einheitsdienst auch heute benennt.

Dass die gewichtigen, umsichtigen, letztlich ein ganzes Lebenswerk im Auftrag der Ökumene repräsentierenden Aufsätze M.s jetzt in einer gut greifbaren, zudem erschwinglichen Ausgabe erhältlich sind, ist außerordentlich zu begrüßen. Die Bände stellen in ihrer Weise auch eine brauchbare Dokumentation wichtiger Bereiche der ökumenischen Entwicklung der letzten gut drei Jahrzehnte dar. Über den unbeirrten Ökumeneoptimismus, der aus M.s Aufsätzen und Beiträgen spricht, mag sich wohl mancher wundern, der die ökumenische Großwetterlage anno Domini 2001 nüchtern in den Blick zu nehmen gewillt ist. Gerade der historische Aufriss des ersten Teils macht aber in beeindruckender Weise deutlich, wie sich der katholisch-lutherische Dialog von den kleinsten Anfängen an Zug um Zug konstruktiv und auch vielversprechend weiterentwickelt hat bis hin zur "Gemeinsamen Erklärung". Falls Geschichte, auch die Geschichte der Ökumene, so funktionieren sollte, dass man aus erfolgreich zurückgelegten Entwicklungen der Vergangenheit auf die Perspektiven der Zukunft hochzurechnen berechtigt wäre, könnte man in diesen Optimismus M.s einstimmen.