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Ausgabe:

Juli/August/2002

Spalte:

836–839

Kategorie:

Kirchenrecht

Titel/Untertitel:

Lexikon für Kirchen- und Staatskirchenrecht. Bd. I: A-F. Hrsg. von A. Frhr. von Campenhausen, I. Riedel-Spangenberger, P. R. Sebott, H. Hallermann.

Verlag:

Paderborn-München-Wien-Zürich: Schöningh 2000. IX, 736 S. gr.8. ¬ 120,00. ISBN 3-506-75140-9.

Rezensent:

Hartmut Kreß

Ein Lexikon über Sachstand, Entwicklungen und die offenen Fragen von Kirchen-, Staatskirchen- und Religionsrecht bildet ein Desiderat. Dies gilt aus Sicht evangelischer Theologie und Sozialethik noch viel mehr als für die katholische Theologie, da dort die Befassung mit Kirchenrecht ungleich stärker institutionalisiert und Literatur viel umfänglicher vorhanden ist. Wie konstruktiv es sein kann, Handbücher oder Lexika von vornherein auf evangelisch-katholisch kooperativer Basis zu konzipieren, belegt exemplarisch das Handbuch der christlichen Ethik (1. Aufl. 1978 f.).

Das hier vorgelegte Lexikon weckt hohe Erwartungen, auch deshalb, weil ein interkonfessionell angelegtes Lexikon des Kirchenrechts von vornherein vor erheblichen Grundlagenproblemen steht. Dem Bearbeiter der deutschen Ausgabe des Codex Iuris Canonici, W. Aymans, zufolge begreift sich die katholische Kirche "kraft Wesens" als "bestehende Rechtspersonalität"; dem Wort und dem Sakrament komme "rechtliche Natur" zu. Katholisch betrachtet besitzt das Kirchenrecht also überragenden ekklesiologischen Rang. Die Reformation entstand hingegen genau im Widerspruch gegen kirchenrechtliche Dominanz, Papstamt und kirchenamtlich-hierarchische Strukturen und rückte stattdessen anthropologisch-personale Leitgedanken, die innere Freiheit, das Rechtfertigungsgeschehen sowie ein personales Glaubens- und Gewissensverständnis ins Zentrum. Ein katholischer Artikel des Lexikons (Art. Depositum fidei von N. Lüdecke) bringt den evangelisch-katholischen Grunddissens auf den Punkt: Es sei die für die römisch-katholische Kirche charakteristische enge Verknüpfung von Glaube und Recht, die "vor bes. ökumenische Vermittlungsaufgaben stellt" (404).

Nun sind sogar im Kirchen- und Rechtsverständnis ökumenische Annäherungen zu verzeichnen. So hat sich der protestantische Begriff "Gemeinde" im katholischen Sprachgebrauch eingebürgert (H. Hallermann 357 im Art. Communitas fidelium). Die katholische Ehelehre vollzog eine Annäherung an protestantische Positionen, indem sie anstelle der augustinischen Ehegüter- und der tradierten Vertragslehre personale Elemente in den Vordergrund rückte (502, Art. Ehebund). Überhaupt hat das II. Vatikanum in Kirchenverfassungs-, -struktur- und -rechtsfragen personale Denkkategorien eingebracht, so dass die überlieferte Deutung der Kirche als societas perfecta durch eine Communio-Lehre überlagert wurde. Jedoch setzt dies die hierarchische, auf zentrale päpstliche Autorität fundierte Struktur der katholischen Kirche nicht außer Kraft; die katholische Kirche bleibt communio hierarchica (I. Riedel-Spangenberger 356). Die Bindung von Katholiken an die Lehre, die die amtliche kirchliche Autorität darlegt, gilt seit den 90er Jahren - unter anderem durch das Motu proprio Ad tuendam fidem, 1998- rechtlich sogar noch stärker als früher. Das Lehramt nimmt dabei zugleich die Meta-Kompetenz in Anspruch, seinerseits festzulegen, welche Lehren es überhaupt sind, zu denen es Verbindliches vorträgt; das Spektrum verbindlicher Lehren, zu denen Glaubens- oder äußere und innere Zustimmung verlangt wird, wird stetig ausgeweitet (N. Lüdecke 403 f.; R. Sebott 191, R. P. de Mortanges 386; vgl. 595 f.: Art. Enzyklika).

Manche Artikel deuten binnenkatholische Kritikpunkte am Kirchenrecht an, etwa zur Intransparenz bei der Austragung von Konflikten, die "nicht stets im Sinne der Betroffenen" verläuft (R. P. de Mortanges 387), zu Desideraten des innerkirchlichen Rechtsschutzes (H. Pree 607) oder zur mangelnden Gleichstellung der Frau (K. Walf 339). Gravierende innerkatholische Rechts- und Ethikkonflikte klammert der vorliegende Band indes aus. Ein Artikel Empfängnisverhütung fehlt. Erörterungen zur Auseinandersetzung über die Mitwirkung katholischer Stellen an der Schwangerschaftskonfliktberatung wären im Art. Abtreibung zu erwarten gewesen. Dieser Artikel ist aber in anderer Hinsicht interessant: Er hält zumindest offen - was medizinethisch und rechtlich an sich selbstverständlich ist -, dass bei Gefahr für Gesundheit und Leben der Frau eine Abtreibung stattfinden kann; denn hier liege kein absichtlicher Vorsatz der Tötung des Fötus vor (R. Potz 29). In der Enzyklika Evangelium vitae, 1995, Nr. 62, wurde jedoch so formuliert, dass sogar auf Grund medizinischer Indikation im engen Sinn eigentlich keine Abtreibung erfolgen darf (so deuten auch katholische Moraltheologen diese Passage). Eröffnen die Aspekte, die der Lexikonartikel vorträgt, innerhalb katholischen Rechtes doch noch einen Ausweg aus dem unvertretbaren, schlechterdings nicht mehr nachvollziehbaren Rigorismus der Enzyklika?

Die Überzahl der Artikel informiert über rechtliche Sachverhalte und Normen, ohne dass eine Problemdiskussion erfolgt. Zahlreiche Artikel geben Bestimmungen des katholischen Kirchenrechts wieder. Quantitativ überwiegen die katholischen Artikel in dem Lexikon, das daher eher katholisch geprägt als interkonfessionell gleichgewichtig ist. Durch den katholischen Akzent erklärt sich die Fülle von Artikeln zur Ehe - bis hin zu den Artikeln Copulatheorie, Ehebandverteidiger, Ehevollzug, Frauenraub usw. -, wodurch dann freilich die Aporien von Überjuridifizierung und Rechtskasuistik augenfällig werden. Zur Konzeption des Lexikons fällt auf und überrascht, dass wichtige Stichworte mit einem allgemein-rechtlichen und dann einem katholischen Teilartikel behandelt werden, sich aber kein evangelisch-theologischer Beitrag findet. So sind die Artikel "Bildung" und "Erziehung" (vgl. z. B. auch den Art. "Adoption") aufgegliedert in "1. allgemein" und "2. katholisch".

Nun trifft zu, dass sich die katholische Kirche, auch im Vergleich zur evangelischen Seite, mit großen finanziellen und personellen Ressourcen um den Bildungssektor bemüht (R. Ilgner 629). Dennoch ist nicht einzusehen, warum zu Bildung oder Erziehung ein evangelischer Beitrag fehlt, zumal der Protestantismus eine wegweisende Bildungstradition besitzt, darunter die Initiativen zur allgemeinen Volksschulbildung, auch für Mädchen, in der Reformation oder protestantische Universitätsreformbemühungen.

Die Artikel zu "Forschung" und "Forschungsfreiheit" - diesen Themen ist der Protestantismus ja besonders verbunden; man braucht lediglich an die historisch-kritische Forschung des 19. und 20. Jh.s zu erinnern - stammen ebenfalls allein aus katholischer Feder und tragen katholische Akzente vor. Den - freilich allzu knappen - Artikel "Ethik und Recht" hat kompetent und informativ der katholische Ethiker A. Anzenbacher geschrieben. Angesichts dessen, dass auch der Protestantismus Rechtstheorien und Naturrechtslehren entwickelt hat und dass die Verhältnisbestimmung von Ethik und Recht gegenwärtig geradezu zum gesellschaftspolitischen Schlüsselthema wird, hätten gleichgewichtig protestantische Zugänge dargelegt werden sollen. Dasselbe gilt für den Artikel "Fakultäten" (gemeint sind die katholisch- und evangelisch-theologischen Universitätsfakultäten). Hierzu gibt es nur Teilartikel "1. staatlich" und "2. katholisch". Der Teilartikel "staatlich" von E.-L. Solte erwähnt, dass zwei Staatskirchenverträge aus den 90er Jahren (Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt) für evangelisch-theologische Fakultäten ein Gutachterrecht der Landeskirche bei der Berufung von Professoren kennen, das das staatliche Ministerium binden soll (671). Hier wird also anders verfahren, als es üblicherweise für evangelisch-theologische Fakultäten staatskirchenrechtlich gilt (lediglich konsultatives, kein bindendes Votum einer Landeskirche); katholische Bestimmungen wurden auf evangelische Verfahrensregelungen übertragen. Der Artikel übergeht den Vorbehalt, den der Staatskirchenvertrag von Sachsen-Anhalt selbst hiergegen enthält, indem das Schlussprotokoll für den Zweifelsfall das Beharren des Staates auf Wissenschaftsfreiheit in Aussicht stellt (Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land Sachsen-Anhalt 1994, 178).

Im Literaturverzeichnis des Artikels werden weder die Publikationen der diese neue problematische Bestimmung in Frage stellenden Juristen (etwa Axel Vulpius oder Hermann Weber) noch anders lautende Auffassungen der evangelischen Theologie erwähnt, z. B. von Wolfgang Huber (Ev. Staatslex. 3. Aufl. 1987, 4094). - Ansonsten enthalten die Staatskirchenverträge oder Konkordate der 90er Jahre sinnvolle Rechtsfortschreibungen, die dem Wandel im Staat-Kirche-Verhältnis Rechnung tragen und in Artikeln des Lexikons zu Recht gewürdigt werden. Dazu zählt, dass in den betreffenden Bundesländern ein Bischof dem Vertreter des Staates, also dem Ministerpräsidenten keinen Treueeid mehr zu leisten hat (zurückhaltend hierzu indes I. Riedel-Spangenberger 272).

Zu vielen Einzelfragen, etwa zur Eucharistie, lässt das Lexikon die Differenzen zwischen evangelischem und katholischem Kirchenrecht zutage treten. Interessant sind die unterschiedlichen Akzente zu kirchenpolitischen Aspekten der europäischen Einigung. Der katholische Teilartikel läuft darauf hinaus, dass in einer künftigen EU-Verfassung die Kirchen verankert werden sollten (643); der Artikel "ev. " unterstreicht neben den kirchlichen Belangen sehr stark auch die gliedstaatliche kulturelle Pluralität und die Religionsfreiheit für alle Religionen und Religionsgemeinschaften (G. Robbers 642). Bedauerlich ist, dass das Lexikon keine Länderartikel enthält, also im ersten Band zum Beispiel keinen Artikel über das Staatskirchen- oder Religionsrecht in Dänemark oder Frankreich. Länder- und kulturvergleichende Artikel wären in Anbetracht des europäischen Einigungsprozesses wie auch zur Einschätzung hiesiger staatskirchenrechtlicher Standards hilfreich gewesen.

In der Bundesrepublik Deutschland geraten das Religions- und Staatskirchenrecht in Bewegung; dies wird an Urteilen des Bundesverfassungsgerichts deutlich (z. B. das Kruzifix-Urteil, im Jahr 2000 der Beschluss über den Status der Körperschaft des öffentlichen Rechts für Religionsgemeinschaften [2 BvR 1500/97] oder jetzt 2002 über die Erlaubnis des Schächtens für Muslime [1 BvR 1783/99]). Das vorliegende Lexikon zeigt auf, dass die evangelische Theologie ihren Nachholbedarf an kirchen-, staatskirchen- und religionsrechtlicher Kompetenz aufarbeiten sollte.