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Ausgabe:

Juli/August/2002

Spalte:

833 f

Kategorie:

Kirchenrecht

Autor/Hrsg.:

Jetzkowitz, Jens

Titel/Untertitel:

Recht und Religion in der modernen Gesellschaft. Soziologische Theorie und Analyse am Beispiel der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Sachen "Religion" zwischen den Jahren 1983 und 1997.

Verlag:

Münster-Hamburg: LIT 2000. 341 S. 8 = Marburger Beiträge zur Sozialwissenschaftlichen Forschung, 11. Kart. ¬ 25,90. ISBN 3-8258-4894-9.

Rezensent:

Michael Germann

Das Buch ist eine Dissertation im Fach Soziologie. Der Autor beschreibt sein Anliegen zum einen als ein "methodologisches", indem er vorführen will, wie sich "theoretische und empirische Forschung [...] von einer einheitlichen Erkenntnisbasis" aus miteinander verbinden lassen (13 f.). Zum anderen geht es ihm darum, das Verhältnis von Recht und Religion in der deutschen Gesellschaft von heute zu erläutern. Den soziologischen Laien - wie den Rezensenten - interessiert vor allem, was die Soziologie zu diesem zweiten Gegenstand zu sagen hat.

Jetzkowitz stellt das Verhältnis von Recht und Religion in den Zusammenhang einer "Theorie des sozialen Wandels". Danach steht die moderne Gesellschaft durch ihre fortschreitende "interne Ausdifferenzierung" unter Innovationsdruck. Ist sie zur Innovation nicht hinreichend fähig, führe die Ausdifferenzierung zur "Auflösung gesellschaftlicher Ordnung" (68). Die Innovationsfähigkeit erweise sich an der "Inklusion neuer, innovationsträchtiger Handlungsmuster in die bestehende Gesellschaftsstruktur". Eine solche Inklusion wird als Leistung der Rechtsordnung beschrieben. Wesentlich für das "Inklusionspotential" der modernen Gesellschaft sei die Ablösung ihrer Rechtsordnung von der religiösen Gemeinschaftsbildung (123.129). Als Indikator für das "Inklusionspotential" greift J. die Konfliktlösung durch Gerichte heraus. Ihr unterschiebt er die Alternative zwischen "Werte-Generalisierung" und "Werte-Spezifikation": Die Gerichte haben die Wahl, ob sie die "Werte, die sich in der Rechtsordnung ausdrücken", - zum Beispiel die Religionsfreiheit - entweder "verallgemeinern" (damit ist vermutlich gemeint: von partikularen Wertvorstellungen abstrahieren) oder aber "spezifizieren" (damit ist vermutlich gemeint: im Sinne einer "tradierten" partikularen Wertvorstellung fortschreiben). Eine Rechtsprechung, die im Sinne der "Werte-Generalisierung" entscheide, steigere das "gesellschaftliche Inklusionspotential"; hingegen lasse eine Rechtsprechung, die in den Bahnen der "Werte-Spezifikation" bleibt, die "Segmentation gesellschaftlicher Substrukturen" erwarten (132-134).

Mit diesem Kriterium beleuchtet J. sodann die Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland, um "eine fundierte Prognose über ihr Integrationspotential zu erarbeiten" (135). Das "Datenmaterial", das hierfür die gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland repräsentieren soll, besteht aus 25 Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts aus den Jahren 1983 bis 1997, ausgewählt per Volltextsuche nach dem Stichwort "Religion" in den für die amtliche Sammlung ausgewählten Entscheidungstexten. In 23 dieser 25 Entscheidungen diagnostiziert J. eine "Werte-Spezifikation". Von der vorweg unterstellten Annahme aus, "daß Religion und Rechtsordnung in der Bundesrepublik trotz nomineller Trennung von Staat und Kirche weitgehend amalgamiert sind" (241, andeutungsweise zuerst 127.165 f.181), hatte er auch nichts anderes erwartet (242). Daraus schließt er, "daß gesellschaftliche Substrukturen einen Prozeß zunehmender Segmentation durchlaufen"; die "Inklusion neuer, innovationsträchtiger Handlungsmuster in die bestehende Gesellschaftsstruktur" werde "durch vested interests behindert" (248.250 f.); "gesellschaftsstrukturelle Innovationen haben es daher in Deutschland schwer" (249). Den hierfür zu zahlenden Preis nennt J. im Rahmen der theoretischen Ausführungen am dramatischsten: Auf dem Spiel steht die "Existenz des Systems" (134).

Wer das Verhältnis von Recht und Religion in der Bundesrepublik Deutschland von der rechtswissenschaftlichen Seite her kennt, wird gegen dieses Vorgehen zumindest eines einwenden müssen: Die sogenannte "Inhaltsanalyse" der Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen vermag in keiner Hinsicht das Urteil zu tragen, das J. über das "Inklusionspotential" der deutschen Rechtsordnung fällt. Es muss hier nicht näher darauf eingegangen werden, dass selbst die so enge Selektion von Entscheidungen zu heterogen ist, um ohne weitere Gewichtung etwas Generelles über den Umgang des Gerichts mit "Wertmustern" aussagen zu können. Am Nerv der Sache nagen jedenfalls die Zweifel darüber, nach welchen Kriterien J. die einzelnen Entscheidungen als "Werte-Generalisierung" oder "Werte-Spezifikation" deutet. Das Buch gibt über diese Schlüsselfrage keine einsichtige Auskunft. Wenn es ihm tatsächlich auf die Ablösung der Rechtsentscheidung von religiös und weltanschaulich partikular gebundenen Positionen ankommt, dann konfrontiert er die Rechtsprechung mit etwas dem Prinzip nach längst Selbstverständlichem. Für ein Urteil über die Einlösung dieses Anspruchs wird sich auch die beobachtende "Inhaltsanalyse" doch näher darauf einlassen müssen, wie ein Gericht im Rahmen der juristischen Methode eine religiös und weltanschaulich neutrale Rechtsanwendung leistet. Vielleicht zeigt sich dann, dass die Rechtslage und die Rechtspraxis unter dem Grundgesetz gerade dadurch zur "Werte-Generalisierung" beitragen, dass sie etwa den "Wert" Religionsfreiheit im Konfliktfall jeweils nach Maßgabe des Selbstverständnisses des einzelnen Grundrechtsträgers "spezifizieren". Wie das im Einzelnen geschehen kann, das ist die Sorge der Juristen. Bei ihnen kann die Soziologie auch eine eingehende Reflexion über die Säkularisierung und religiös-weltanschauliche Neutralität der Rechtsordnung finden, die ihr manchen interdisziplinären Anschlusspunkt bieten dürfte.

Das Buch von J. macht jedenfalls darauf aufmerksam, dass sich mit Grenzgängen zwischen Soziologie und Rechtswissenschaft in Sachen Recht und Religion noch Neuland erschließen lässt - eine gewisse Trittsicherheit vorausgesetzt.