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Ausgabe:

Juli/August/2002

Spalte:

823–825

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Duncker, Ludwig, u. Helmut Hanisch [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Sinnverlust und Sinnorientierung in der Erziehung. Rekonstruktionen aus pädagogischer und theologischer Sicht.

Verlag:

Bad Heilbronn: Klinkhardt 2000. 298 S. 8. Kart. ¬ 20,40. ISBN 3-7815-1088-3.

Rezensent:

Martin Rothgangel

Der vorliegende Sammelband des Gießener Pädagogen Ludwig Duncker und des Leipziger Religionspädagogen Helmut Hanisch stellt in dreifacher Hinsicht eine wirkliche Bereicherung der (religions-)pädagogischen Diskussion dar: Erstens zeichnet sich hier ein Dialog zwischen Pädagogik und Religionspädagogik ab, wie er vor allem von Seiten der Religionspädagogik oftmals gewünscht wird, aber doch in der Regel kaum stattfindet. Zweitens wird angesichts der gegenwärtigen Vielfalt konkurrierender Sinnangebote mit der Frage nach "Sinnverlust und Sinnorientierung in der Erziehung" ein aktueller Themenbereich in den Blick genommen. Und drittens ist es den Herausgebern gelungen, zum Teil sehr bedenkenswerte Beiträge in einer Publikation zu vereinen und klar unter folgenden fünf Rubriken zu strukturieren: I. Systematische Zugänge (mit Beiträgen von Karl Ernst Nipkow, Johannes Fischer und Klaus Giel), II. Gesellschaftliche Orientierungen (Heinz-Werner Wollersheim, Wolfram Kurz), III. Der Blick auf Kindheit und Jugend (Friedrich Schweitzer, Helmut Hanisch), IV. Implikationen für Schule und Unterricht (Ludwig Duncker, Christian Grethlein), V. Ethische Grundlegungen (Helmar Junghans, Susanne Endres) und schließlich VI. Skeptische Rückfragen (Wilfried Lippitz). Im Folgenden sollen einige exemplarische Schlaglichter einen ersten Eindruck von dieser Publikation vermitteln.

In gewohnt souveräner Manier versteht es Karl Ernst Nipkow, interdisziplinäre Überlegungen zur komplexen Formel "Sinn- und Wertfragen" vorzunehmen. An seinem Beitrag wird u. a. deutlich, dass die Sinnkategorie in der Allgemeinen Pädagogik und der Schulpädagogik auf Grund metaphysischer Vorbehalte kein Leitbegriff geworden ist, im Unterschied zu Kategorien wie "Identität" und "Selbstbestimmung". Im Vergleich dazu liegt im Horizont kirchlicher Bildungspolitik und Religionspädagogik zwar ebenfalls kein völlig befriedigender Diskussionsstand vor, aber doch "grundsätzlich ein sehr viel stärkeres Interesse am Thema wie am Begriff des Sinns" (15).

Ganz bemerkenswert sind die Ausführungen des Zürcher Systematischen Theologen Johannes Fischer "Religiöse Erziehung als Befähigung zu sinnvoller Lebensführung". Mit dem Begriff der Lebensführung wendet er sich gegen einseitig rationalistische Konzepte des Handelns und geht in seinem Beitrag Schritt für Schritt der spannenden Frage nach, "in welcher Beziehung Handeln und Spontaneität zueinander stehen und wie beides sich miteinander vermitteln läßt" (35). Fischer legt überzeugend dar, warum die Sinnkategorie nicht auf den kognitiven Bereich begrenzt werden darf und "das schulische Lernen, um als sinnvoll erfahren zu werden, auf eine ihm entsprechende Atmosphäre angewiesen" (50) ist.

Der Leipziger Pädagoge Heinz-Werner Wollersheim gelangt in seinem Aufsatz "Orientierung im Ungewissen. Comenius in unserer Zeit" auf dem Hintergrund der soziologischen Theorie von P. Berger und Th. Luckmann zu der Schlussfolgerung, dass für uns inhaltlich betrachtet ein Zurückgehen auf Comenius' Orientierung im Ungewissen nicht mehr möglich sei. Einen entscheidenden Grund sieht er darin, dass die Überlegungen von Comenius letztlich auf der Isomorphie von Wissensordnung einerseits und göttlicher Schöpfungsordnung andererseits beruhen (98), aber gegenwärtig "die christliche Sinnordnung nicht ohne weiteres für alle Menschen auf der Welt verbindlich gemacht werden kann" (105). Diese anregende Untersuchung weckt unwillkürlich den Wunsch, dass der Autor in eine explizite Diskussion mit religionspädagogischer Literatur zum Thema treten oder dass ihm eine religionspädagogische "Antwort" folgen würde.

In der Tat wäre es für die Hgg. sicherlich kein leichtes, aber doch ein lohnendes Unterfangen gewesen, die verschiedenen Beiträge aus der Pädagogik sowie aus der Theologie/Religionspädagogik noch stärker in einen direkten Dialog miteinander zu "verwickeln" oder am Ende dieses Bandes resümierend zu vergleichen. Es trügt wohl kaum der Eindruck, dass auch hier insofern eine "Asymmetrie" des Dialogs zwischen Pädagogik und Religionspädagogik vorherrscht, als von religionspädagogischer Seite aus wesentlich intensiver das interdisziplinäre Gespräch mit der Pädagogik gesucht wird als umgekehrt. Diesen Eindruck könnte man z. B. erhärten mit den vorzüglichen Beiträgen von Friedrich Schweitzer ("Zwischen Sinnerfahrung und Sinnlosigkeit. Perspektiven der Kinder- und Jugendforschung im religionspädagogischen Horizont") und Christian Grethlein ("Vom Sinn des Lernens und dem Lernen von Sinn. Religionspädagogische Hinweise zu einem schulpädagogischen Problem"), deren Ausführungen halten, was der interdisziplinär ausgerichtete Titel verspricht.

Wie fruchtbar ungeachtet jener Asymmetrie dieser Dialog mit der Pädagogik für die Religionspädagogik sein kann, zeigen je auf ihre Weise die beiden Artikel der Gießener Pädagogen Ludwig Duncker ("Vom Sinn des Lernens. Bildungstheoretische Perspektiven für die Ausgestaltung schulischer Lernprozesse") und Wilfried Lippitz ("Meine Ausdrucksmittel sind 26 Buchstaben - Autobiographische Sinnfixierungen des Ich"). In den "skeptischen Rückfragen" des letztgenannten Autors wird auf erhellende Weise ein "schräger Blick" auf die Frage geworfen, wie es um die Autonomie und Rationalität der Subjekte bestellt ist, denen Sinnfindungs- und Weltanschauungsfragen als ihre Privatsache zugemutet wird. Dieser Artikel ist für unterschiedlichste Leserkreise relevant, seien sie an erkenntnistheoretischen Überlegungen interessiert oder an qualitativer Forschung zu autobiographischem Material.

Bei einem Sammelband lässt es sich kaum vermeiden, dass aus der Sicht des Rez. auch das eine oder andere "Fragezeichen" enthalten ist. Dementsprechend sei angemerkt, dass der Artikel von Helmar Junghans "Erziehung zur Gerechtigkeit bei Martin Luther" deutlicher auf das "Sinn-Thema" dieser Publikation hätte bezogen werden können. Ganz andere Fragen stellen sich durch den Beitrag von Klaus Giel "Lernen - Erweiterung des Sinnhorizontes". Auf Grund seiner "konjunktivischen" These(n) und seines alles andere als einfach zu folgenden Gedankenganges wird dem Leser nicht wenig zugemutet, damit sich die zweifellos enthaltenen "Perlen" zu einer "Gedankenkette" fügen. Auch inhaltlich ließe sich nachfragen, ob der Lernbegriff selbst unter dem Vorzeichen von enracinement (Einwurzelung) ein wirklicher Ersatz für den Bildungsbegriff ist und ob der Autor letztlich nicht doch die Bedeutung wissenschaftlichen Wissens für Lehr-Lernprozesse überschätzt.

Insgesamt fallen solche Kritikpunkte angesichts der Fülle an ausgezeichneten Beiträgen jedoch nicht ins Gewicht, so dass der vorliegende Band für alle Interessenten sehr zur Lektüre empfohlen werden kann. Es bleibt zu wünschen, dass Publikationen dieser Art folgen werden, die dem Dialog zwischen Pädagogik und Theologie/Religionspädagogik weiteren Auftrieb verschaffen können.