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Ausgabe:

Juli/August/2002

Spalte:

819–823

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

1) Döhnert, Albrecht 2) Liepold, Rainer

Titel/Untertitel:

1) Jugendweihe zwischen Familie, Politik und Religion. Studien zum Fortbestand der Jugendweihe nach 1989 und die Konfirmationspraxis der Kirche.

2) Die Teilnahme an der Konfirmation bzw. Jugendweihe als Indikator für die Religiosität von Jugendlichen aus Vorpommern. Traditionen, Bilanzen, Visionen und Fremdbestimmung.

Verlag:

1) Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2000. 494 S. gr.8 = Arbeiten zur Praktischen Theologie, 19. Geb. ¬ 45,50. ISBN 3-374-01818-1.

2) Frankfurt/M.-Berlin-Bern- Bruxelles-New York-Wien: Lang 2000. 422 S. 8 m. Abb. = Greifswalder theologische Forschungen, 1. Kart. ¬ 50,10. ISBN 3-631-35925-X.

Rezensent:

Martin Steinhäuser

Nahezu zeitgleich sind an den evangelisch-theologischen Fakultäten in Leipzig und Greifswald zwei empirische Untersuchungen angefertigt worden, die mit ähnlichem Thema, Erkenntnisinteresse und methodischem Verfahren einem mehrfach benannten Forschungsdesiderat nachgehen (vgl. z. B. ThLZ 124, 1999, 816 ff.): Wie ist, auch mehrere Jahre nach dem Ende der ideologisch zugespitzten DDR-Situation, der Fortbestand der Jugendweihe auf beachtlichem Teilnahmeniveau zu erklären? Was bedeutet das für die Religiosität der Jugendlichen? Was folgt daraus für das Verständnis von Konfirmation und die Arbeit mit Konfirmanden und Konfirmandinnen?

In seiner Greifswalder Dissertation (1998) geht Rainer Liepold davon aus, dass Religiosität zum Dasein jedes Menschen gehöre. Ihre Funktion bestehe darin, die unmittelbare Erfahrung in Zeichen und Symbolen ("Appräsentationen") zu transzendieren, und zwar näherhin als Kontingenzbewältigung im Dienst der Individuation (20 ff.). Mit dieser weitreichenden Hypothese wertet der Vf. 45 Interviews mit 14- bis 17-Jährigen, die er nach Repräsentativitätskriterien 1996/97 in Vorpommern auswählte und führte, inhaltsanalytisch aus: 53 % Jugendgeweihte, 20 % Konfirmierte, 5 % mit Firmung, 22 % ohne öffentliches Fest.

Der Aufbau der Untersuchung ist sehr gut nachvollziehbar (hilfreiche Zwischengliederungen und -bilanzen, dokumentierte Interviews 335-422). Nachdem der Vf. Voraussetzungen, Grenzen und Anliegen seiner Arbeit (18-28) skizziert hat, referiert er seinen methodologischen Ansatz sowie die Einordnung in den kirchen- und religionssoziologischen Forschungsstand (29-88). Einem kurzen Überblick über das historische und gegenwärtige Verhältnis von Konfirmation und Jugendweihe (89- 134) folgt dann der erste Hauptteil (135-184).

In ihm entnimmt der Vf. den Interviews, (1) dass weder die Jugendweihe noch die Konfirmation einem "klar zu beschreibenden gesellschaftlichen Milieu" zugehörten; (2) dass beiden Feiersorten von den Jugendlichen ein hoher biographischer, familienbezogener Stellenwert zugemessen werde, bei einigen Konfirmanden von einem explizit religiösen Selbstverständnis getragen und dass (3) die Entscheidungen für die Jugendweihe hauptsächlich durch "gesellschaftliche Konventionen" veranlasst seien, für die Konfirmation dagegen durch "konkrete Gründe", häufig in Verbindung mit Überlegenheitsvorstellungen dieses Rituals. Darin, wie auch im Erleben (4) und in der Deutung (5) der Feier, findet der Vf. drei Gruppen: (A) Für alle Jugendgeweihten seien stereotyp die öffentliche Präsentation, Mode-Accessoires, die Erinnerungspräsente und die Einordnung der Jugendweihe als "Übergangsritual mit enttäuschend wenig erkennbaren Folgen" kennzeichnend (unter Geringschätzung von Vorbereitungsstunden und der Ansprache). Ähnlich verhielte es sich bei den "Konfirmanden mit lebensweltlichem Zugang" (B), wohingegen bei den "Konfirmanden mit religiösem Zugang" (C) die emotionale und religiöse Ergriffenheit im Gottesdienst, die gemeinsame Zeit des Konfirmandenunterrichts und die Deutung als "symbolischer Ausdruck für das Erlangen der religiösen Mündigkeit" im Vordergrund positiven Erlebens stünden.

Auf der Basis der o. g. religionssoziologischen Hypothese versteht nun der Vf. die Jugendweihe als "nicht-kirchliches religiöses Ritual" - das seine Funktion (Vermittlung von "Lebensgewißheit", 187) auf Grund seiner Weltimmanenz im Vergleich mit der Konfirmation freilich "nur defizitär erfülle" (191). Um diese These zu belegen, systematisiert der Vf. im zweiten Hauptteil (200-280) die Äußerungen der Jugendlichen nach Kriterien von Religiosität: Materialistische Lebensdeutungen, Feste im (Kirchen-)Jahres- und Lebensrhythmus, Vorstellungen zum Sinn des Lebens, zu Vorsehung, zur Theodizee, zum Tod, zu Gott und extraterristischen Wesen, religiöse Praktiken und das Verhältnis zur Kirche und zu Sekten. L. resümiert: "Die Auswertung der Interviews widerlegte die verbreitete Einschätzung, dass in der DDR eine umfassende Säkularisierung stattgefunden habe. Es zeigte sich vielmehr, dass eine deutliche Mehrheit der befragten Jugendlichen ausdrücklich auf religiöse Vorstellungen und Handlungen zu sprechen kam. [Die Auseinandersetzung mit der Erfahrung von Kontingenz geschieht ausschließlich im Medium der Religion.] [...] Lediglich die Identifikation mit der kirchlich repräsentierten Hochreligion war wenig verbreitet." (283) Folgerichtig ordnet er die Jugendlichen in drei konzentrischen Kreisen: Religiosität - christliche Prägung - Kirchlichkeit (von außen nach innen). Was außerhalb dieser Kreise bleibt, schreibt der Vf. auf das Konto eines "illusionären Wirklichkeitsverständnisses" (291). Der innere Kreis hingegen stehe in der Gefahr einer (exklusiven) "kerngemeindlichen Frömmigkeitspraxis" (297).

Entscheidend für die "Schlußfolgerungen für die kirchliche Praxis" (295-311) ist nun, dass der Vf. aus diesem Ergebnis "realistische Chancen zur Wiederherstellung einer volkskirchlichen Situation" über eine Revision der Konfirmationspraxis ableitet, auch weil einige Indizien der Untersuchung darauf hindeuteten, dass "die befragten Jugendlichen der Kirche offener begegneten als ihre Eltern", und dass sich das westdeutsche volkskirchliche Teilnahmeverhalten als "stabiler" erwiesen habe als die ostdeutsche Entkirchlichung (299 f.).

Spätestens an dieser Stelle kommen dem Rez. erhebliche Zweifel. Denn in methodischer Hinsicht setzt der Vf. semantische und pragmatische Strukturen in den Äußerungen der Jugendlichen in eins. Die Verwendung eines religiös geprägten Sprachsymbols sagt, bei inhaltsanalytischer Auswertung, eben noch nicht viel über die lebenspraktische Bedeutung, die die Jugendlichen diesem Symbol beimessen wollen und können. Eine kulturtheologische "Missionsstrategie" (302, mit T. Rendtorff), die sich E. Neuberts ebenso verbreitete wie bestrittene Kritik am Konzept des "konfirmierenden Handelns der Gemeinde" zu Hilfe holt, muß ihre "Substanz" klären. Hier stößt der funktionale Religionsbegriff des Vf.s an seine Grenzen. Der Bezug auf Joh 3,8 ("Der Geist weht, wo er will", 297) oder auf W. Neidhart ("Der Christ [...] vertraut darauf, daß die nichttheologischen Faktoren Gottes Zielen dienen, obwohl er nicht weiß, wie das zugeht", 305) scheint dafür zu wenig. So sehr dem Vf. in seiner gemeindetheologischen Kritik einer idealisierten Minderheitensituation, einer alltagsfernen Verkündigungspraxis und einer mangelhaften Öffentlichkeitsarbeit (301 ff.) zuzustimmen ist, so schlicht geraten scheinen doch seine korrektiven Vorschläge unter Rekurs auf die westdeutsche Konfirmanden-Pädagogik der siebziger Jahre (Bäumler 1973) - von der abenteuerlichen Verbindung einer "notwendigen theologischen Forderung" der "pauschalen Abwehr lebensweltlicher Motive" in der Konfirmandenarbeit (305, wen meint der Vf.?) ganz abgesehen. Hier wäre didaktische Analyse angezeigt gewesen, am "Rahmenplan für die kirchliche Arbeit mit Kindern und Konfirmanden" (fehlt wie viele andere relevante Titel im Literaturverzeichnis) ebenso wie an vorfindlicher KU-Praxis. Auch eine theologisch-begriffliche Klärung zu "Mission und Bildung im Kontext von KU" wäre hilfreich gewesen. Interessante regional-historische Aufarbeitungen (Vorpommern) und durchaus faszinierende religionssoziologische Überlegungen riskieren Belanglosigkeit im Angesicht der Praxis. Einen exemplarischen Knackpunkt benennt der Vf. bezeichnenderweise nur als Frage: "Wie lange muß vor der Konfirmation der Konfirmandenunterricht besucht werden?" (303)

Kleinere Monita: Die auf S. 47 erwähnte "Anlage 5" fehlt, gelegentliche Wortfehler (185, 6. Zeile von unten: "Jugendweihe" und "Konfirmation" verwechselt) und Tippfehler sind stehen geblieben, teilweise erheiternd (95: "Christenehre").

Auch Albrecht Döhnert fragt in seiner Dissertation (Leipzig 1999) nach den religionssoziologischen Existenzbedingungen und subjektiven Funktionen der Jugendweihe in den ostdeutschen Bundesländern. Dazu geht er drei Schritte: Der "Historischen Annäherung: Jugendweihe im Kontext von Staat und Kirche" (13-216) folgt das Kernstück der Arbeit: "Empirische Studien zu J. und Konfirmation" (217-416). Ein kürzerer abschließender Teil sichtet "J. und K. im Spiegel von Sozialwissenschaft und Theologie" (417-470). Auch D. richtet den praktischen Ausblick auf die weitere Entwicklung der Konfirmation; der Erkenntnisweg konzentriert sich aber auf die Jugendweihe als deren Gegenüber - zunächst als ein weltliches, nicht als religiöses Ritual betrachtet.

Im I.Teil arbeitet der Vf. den gesellschaftlichen Ort der Jugendweihe im Spannungsfeld von Politik, Religion und Familie in vier Abschnitten heraus. Der einleitenden Darstellung der "Wurzeln der J. in der K." und der "Entstehung der J." (13- 31) folgen drei Periodisierungen: Vor 1933 (31-64), 1933-45 (65- 113) und 1945-89 (114-153). Abschließend skizziert er die wichtigsten gegenwärtigen Organisationsformen, Trägerstrukturen, Zahlenverläufe, Programmatiken und kirchlichen wie politischen Reaktionen zur Jugendweihe seit 1989 (154-212). Bereits dieser erste große Hauptteil zeigt die Qualität und Originalität der ganzen Untersuchung: Der Vf. nimmt das gesamte Spektrum verfügbarer Primär- und Sekundärquellen in den Blick und trägt mit akribischem Fleiß neue Details ein. Er systematisiert ein kompliziertes Feld gesellschaftlicher Entwicklungen (nützliche Grafiken 22.161), gewichtet sorgfältig widersprüchliches Zahlenmaterial und denkt immer wieder den inhaltlichen Tendenzen nach, anstatt sich mit der Darstellung von Abläufen zu begnügen oder vorschnelle Bewertungen vorzunehmen. Für den Hauptteil der Untersuchung ist besonders der Überblick über die Jahre seit 1989 ertragreich; hierin bieten die beiden "Fallbeispiele" zu den "J. des Sächsischen Verbands für Jugendarbeit und J." und der "JugendFEIER des Humanistischen Verbandes Deutschlands in Berlin" wertvolle Deskriptionen, speziell für Leser und Leserinnen außerhalb Ostdeutschlands (168-190).

Im II. Teil untersucht der Vf. Grundmuster unterschiedlicher Feier-Teilnahmen. Sein empirisches Material bilden insgesamt 33 Interviews, die er 1996 in Ostdeutschland führte, überwiegend in stark säkularisierten Regionen, aber auch im Erzgebirge mit seiner eher volkskirchlichen Situation. In den Interviews sind nicht nur 17 Jugendgeweihte, 6 Konfirmierte und 2 privat Feiernde vertreten, sondern auch 10 Eltern. Dieser weite Blickwinkel erschließt eine enorme Datenfülle und erlaubt vergleichende Interpretationen. Im Buch sind elf Auswertungen wiedergegeben (241-406). Anders als Liepold stützt sich Döhnert auf eine Modifikation der "objektiven Hermeneutik" und präpariert auf diese Weise, welche Typen von Entscheidungen der Jugendlichen für diese oder jene Feierform sichtbar werden, welche öffentliche und familiäre Bedeutung sie damit verbinden und was dabei an religiösen Orientierungsmustern deutlich wird. Es gehört zu den Vorzügen der Untersuchung D.s, dass diese Interviewauswertungen an keiner Stelle programmatische Positionen vorhalten, sondern den Lesern angesichts vielfältiger Deutungsangebote die interpretativen Entscheidungen anregend und einleuchtend darlegen. Jede der drei "Feiersorten" wird mit einer eigenen Bilanz versehen, die die empirischen Erträge systematisiert und trotz subjektiver Spezifika der Interviewten wiederkehrende Kennzeichen aufzeigt. In der "religiösen Orientierung" der Jugendweihe-Teilnehmer findet der Vf. (1) eine "ambivalente, offene und interessierte Haltung", (2) eine "indifferente" Haltung und (3) eine "argumentativ-kritische Auseinandersetzung mit Religion" (332 ff.). In einer zusammenfassenden Kurzübersicht zu sämtlichen Interviews (407 ff.) ordnet der Vf. die Jugendlichen in sechs Clustern auf zwei Achsen, dimensioniert nach den unterschiedlichen Ausprägungen von "Religiosität - Areligiosität" und "Familie-Öffentlichkeit". Um diese - in sich biographisch höchst komplexen - Zusammenhänge zu ankern, schlägt der Vf. vor, die "Feierbiographie der Familien" als einen Schmelztiegel anzusehen, der bei differenten Feierformen, besonders aber bei der Jugendweihe und den privat feiernden Jugendlichen sowohl die Faktoren der religiösen Sozialisation als auch die des kulturellen und sozialen Settings, als auch die allgemeinen politischen Bedingungen in sich aufzunehmen vermöge (415 f.). Dieser Vorschlag leuchtet ein, auch wenn man vielleicht fragen kann, ob nicht die hohe Bedeutung familiärer Faktoren für die Wahl und Deutung des jeweiligen Festes bereits zu den Voraussetzungen der empirischen Untersuchung gehört hatte (231) und das dementsprechend gewählte Forschungssetting (Jugendliche und einige ihrer Eltern) die familienbezogenen Erträge methodisch präfiguriert haben könnte; energische Falsifizierungsbemühungen hierzu sind jedenfalls nicht dokumentiert.

Im III., kürzeren Hauptteil stellt der Vf. systematische Bezüge des Problempaars "J. und K." her. Viele dieser sozialwissenschaftlichen und theologischen Überlegungen hätten, da sie nicht zwingend an die empirischen Ergebnisse anschließen bzw. diese nicht als fundiertes Instrument kritischer Auseinandersetzung mit den gängigen Theoremen nutzen, zwischen dem I. und II. Hauptteil vielleicht einen stringenteren Platz im Aufbau des Buches gehabt, um den Schluss resümierenden Überlegungen vorzubehalten. Auch in diesem Teil ordnet der Vf. nicht einfach vorliegende Entwürfe, sondern fügt ihnen neue und nützliche kleine Kenntnisse hinzu - etwa im Überblick zur "J. im europäischen Kontext", der mit der Mär aufräumt, es handele sich bei der Jugendweihe um eine exklusiv deutsche Feierform, und interessante Unterschiede zwischen protestantischen und katholischen Ländern aufzeigt (431 ff.).

Die abschließenden "Perspektiven der Konfirmation" (464ff.) sind im Bewusstsein der gesellschaftlich-kirchlichen Problemlage differenziert und letztlich aus der Sicht der Jugendlichen vorsichtig formuliert. "Die K. hat Teil an den Schwierigkeiten, Aporien und Sackgassen der Gesamtkirche. Die liturgisch-pädagogische Frage der K. ist davon nicht zu trennen." (459) In theologischer Hinsicht insistiert der Vf. auf der "inhaltlichen Substanz und alltagsweltlichen Relevanz der biblischen Botschaft" als "wichtigstes Talent der Konfirmandenarbeit" (467). In praktischer Hinsicht plädiert er für eine verbesserte Fortbildung für Pfarrer und Pfarrerinnen sowie, wie Liepold, für eine gezielte, öffentlich kommunizierte "Öffnung" der Arbeit mit Konfirmanden und Konfirmandinnen für "Quereinsteiger" (464ff., die Gruppe der "Interessierten, aber nicht kirchlich Entschiedenen", Cluster III). Angesichts der empirischen Ergebnisse wäre an dieser Stelle ggf. eine noch stärkere Verknüpfung zur familienbezogenen Arbeit der Kirchen möglich gewesen.

Der Band ist sehr solide gefertigt, kleinere Druckfehler (z. B. falsche Kopfzeile in 3.1) fallen nicht ins Gewicht.