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Ausgabe:

Juli/August/2002

Spalte:

816–818

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Biehl, Peter, u. Klaus Wegenast [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Religionspädagogik und Kultur. Beiträge zu einer religionspädagogischen Theorie kulturell vermittelter Praxis in Kirche und Gesellschaft.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2000. 252 S. 8. Kart. ¬ 34,00. ISBN 3-7887-1805-6.

Rezensent:

Karl Ernst Nipkow

Der Band ist der bedeutende Beginn einer grundlegenden Erschließung des Verhältnisses von Religion und Kultur unter religionspädagogischen Interessen. Die profunden Beiträge sind überaus facettenreich und zeigen gleichwohl innere Nähe. Zu dieser Kohärenz trägt der wegweisende theoretische Rahmen bei, mit dem Peter Biehl als spiritus rector den Reigen eindrücklich eröffnet: Ein kulturell-sprachlicher und phänomenologischer Ansatz gibt die Richtung an. "Kultur erscheint [...] im Zusammenhang mit den Begriffen Lebenswelt, Lebensform, Lebensstil, Lebenserfahrung, Lebensgestaltung, Lebensqualität. Eine bevorzugte Stellung nimmt der phänomenologische Lebensweltbegriff ein" (7 f., im Anschluss an M. Moxter, Kultur als Lebenswelt, 2000). In auffälliger Verdichtung wird verheißungsvoll "Leben" zum Interpretament und damit internen Leitbegriff von Kultur. Es würde lohnen, dem Gebrauch des Lebensbegriffs bei jedem Autor eigens nachzugehen.

Da auch Religion lebensweltlich in Kultur eingelagert ist, wird sie ebenso wie diese semiotisch als Zeichen- bzw. Symbolsystem gefasst (27, im Anschluss an Clifford Geertz). Die übergreifende Aufgabe ist mithin eine "Kulturhermeneutik", freilich nicht so, dass statische kulturelle Bestände für kanonisch erklärt werden oder "Bildung", die innere Seite von Kultur, als verschulte "Ausrüstung" verflachen darf, wie in geglückter kompositorischer Abrundung am Schluss des Buches Jürgen Oelkers in seinem geistvollen Essay über "Kultur und Bildung" warnt. Für Biehl geht es mit Walter Benjamin um "rettende Kritik" (36) und als Theologe um ein "eschatologisch gebrochenes Kulturverständnis" (50 f.). Analog beweist Oelkers ein feines Gespür für die Unverfügbarkeit von Bildung in dreifacher Begründung: Wie eine Person ihren "Stil" nicht "hat", sondern angelehnt an de Buffon "Stil" "ist" (234), ist Bildung nicht einfach Wissensbesitz; ferner ist sie konturierte Kraft zu "Distanz" (anstelle erlebnisgetönter Sucht nach Authentizität bzw. Echtheit, 240); schließlich ist sie in einer "unruhigen Existenz" (243) auf die "Unruhe des Verstehens" bezogen (245).

Die Stärke der Publikation liegt darin, dass die kulturell-lebensweltlichen und sprachlich-symbolischen Perspektiven Religion in der ganzen Breite ihrer kulturellen Verflechtungen freilegen und gleichzeitig die religionspädagogischen Aufgaben biblisch-christlich profiliert werden.

Bezeichnenderweise thematisiert gleich der zweite Beitrag von Klaus Wegenast die Bibel. Mit gesättigten geschichtlichen Kenntnissen werden Bibel und Bibelauslegungen einerseits als "abhängige Variable" der sie umgebenden Kulturwelten betrachtet, andererseits wird anpassungsresistent nach dem "Neuen" und "Anderen" gefragt (59), nach dem Glauben in "Differenz zur Kultur" (64).

Aus systematisch-theologischer Sicht klärt Matthias Zeindler, was grundsätzlich "gestaltetes Evangelium" meinen kann. Er diskutiert kundig Geschichte und Probleme einer "Theologie der Kultur" (hierzu H. Richard Niebuhr, Paul Tillich und Karl Barth), um seinerseits Religion und Kultur formal auf der Linie des kulturell-sprachlichen ("cultural-linguistic") Religionskonzeptes von George Lindbeck zu bestimmen und inhaltlich in einen trinitarischen Kontext zu rücken, mit dem Ziel des Dienstes an einer "gottgemäßen und damit menschengemäßen, ja, schöpfungsgemäßen Kultur" (96).

Mit Reiner Preul kommt ein herausragender Kenner des Kulturprotestantismus zu Wort, der dessen Gegenwartsbedeutung anhand von Otto Baumgarten ausleuchtet. Preuls eigene, letztlich an Luther orientierte bildungstheoretische Position trifft sich mit der Baumgartens: Es ist "die handlungsfähige, die Gestaltung von Kultur und Gesellschaft sich zu ihrer Aufgabe machende gebildete christliche Person" (122), freilich heute mit einer anderen Stoßrichtung, nicht fortschrittsoptimistisch, sondern im Zeichen der Bewahrung von Freiheit und Mündigkeit gegen fatale Folgen der Moderne.

Anschließend konkretisiert Henning Schröer "Glaube als kulturelle Lebensform" überzeugend und praxisnah nach drei Richtungen: "Gemeinde als Kultur des Vertrauens" (131), "Bibelarbeit als Gedenkkultur" (134) und "Ökumene als Friedenskultur" (136).

In der Mitte des Buches wechselt Christoph Bizer dem Gegenstand angemessen die Gattung, indem er über "Gottesdienst und Kultur" mit Jeremias Brief an die Verbannten (Jer 29,1-9) meditiert. Beides ist geboten, "Kultivierung" von Religion in ihrer "dämonisch-heiligen" Ambivalenz (142) und der "lebensdienliche" Gebrauch von Kultur an jedem Ort (150).

Friedrich Schweitzers kompetente, dichte Diskussion des komplexen Verhältnisses von "Jugendkultur und Religionspädagogik" führt die weitreichende "Fremdheit" zwischen "den kulturellen Lebens- und Anschauungsformen Jugendlicher und besonders der Kultur des kirchlichen Christentums" vor Augen (168). Nahtlos passt hierzu Hans-Martin Gutmanns spannende Darstellung von "Populärer Kultur im Religionsunterricht" mit einer aufschlussreichen Analyse von "Big Brother".

Mit Hans-Günter Heimbrocks wichtiger vergleichender Darstellung des Kulturbezugs des Religionsunterrichts in England, Norwegen, den Niederlanden und in Frankfurt ("Global - lokal- glokal?") weitet sich der Blick auf europäische Vielfalt. Zugleich werden neue methodische Instrumente vorgestellt, z. B. ethnographische aus England, regionale Kultur beachtende (Nordnorwegen) und Problemlösungen an Einzelschulen (Ede, NL).

Der Sammelband mit seinem überaus gehaltvollen Vorstoß in Neuland hat bahnbrechenden Charakter. Wie könnte die Betrachtung von "Kultur" im Paradigma von "Leben" und "Sprache" ergänzt werden? Die Brisanz des Pluralismusproblems legt nahe, die kulturtheoretische Reflexion noch stärker auch auf kulturelle "Konflikte" und das Paradigma der "Verständigung" zu konzentrieren. Das erste Paradigma hat eine größere Nähe zur Ästhetik als sprachlicher und lebensweltlicher "Wahrnehmung", das zweite eine größere zu Ethik und Politik (Kultur als Machtfrage, Symbole als Mittel der Indoktrination), wobei die Erklärungskraft der Evolutionären Psychologie und Ethik zu erproben wäre. Die Ansätze würden sich fruchtbar ergänzen.