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Ausgabe:

Juli/August/2002

Spalte:

811–813

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Wendebourg, Dorothea, u. Reinhard Brandt [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Traditionsaufbruch. Die Bedeutung der Pflege christlicher Institutionen für Gewißheit, Freiheit und Orientierung in der pluralistischen Gesellschaft. Hrsg. im Auftrag der Kirchenleitung der VELKD.

Verlag:

Hannover: Lutherisches Verlagshaus 2001. XIV, 217 S. 8. Kart. ¬ 13,90. ISBN 3-7859-0828-8.

Rezensent:

Siegfried Wiedenhofer

Der vorliegende Band ist zugleich eine Überraschung und keine Überraschung. Er ist eine Überraschung, insofern die traditionellerweise typisch katholische Sorge um die institutionelle Seite der kirchlichen Glaubensvermittlung hier evangelisch-lutherisch nun plötzlich mit kirchlichem Engagement (die Studie wurde vom Theologischen Ausschuss der VELKD erarbeitet und im Auftrag der Kirchenleitung herausgegeben) und mit erstaunlicher Systematik aufgenommen worden ist. Damit betritt die Studie Neuland, wie im Geleitwort von Bischof Knuth mit Recht betont wird. Auf der anderen Seite war eigentlich dieser Schritt in Deutschland zu erwarten, ja längst überfällig. Denn seit der Vierten Weltkonferenz für Glauben und Kirchenverfassung in Montreal 1963 und der Offenbarungskonstitution des II. Vatikanischen Konzils 1965 war klar, dass die traditionellen konfessionellen Gegensätze im Verständnis des Verhältnisses von Heiliger Schrift und Tradition so nicht mehr aufrecht erhalten werden können. Außerdem war inzwischen offenbar unübersehbar geworden, dass die Krise der Weitergabe des christlichen Glaubens an die nächste Generation in den gegenwärtigen nachtraditionalen Gesellschaften mit einer bloßen theologischen Relativierung kirchlicher und außerkirchlicher Vermittlungsinstitutionen nicht bewältigt werden kann. Sowohl Geleitwort (V-VIII) als auch Hinführung (1-11) geben (mit Recht) verschiedene Gründe für diese Lücke in der evangelischen Theologie an: vor allem die Tradition reformatorischer Traditionskritik, die gegen die (tatsächliche oder vermeintliche) katholische Vermischung des Wirkens Gottes mit der kirchlichen Vermittlung die Unverfügbarkeit des Wirkens des Heiligen Geistes und die Unterscheidung zwischen Wirken Gottes und "äußerem" Mittel betonte und deshalb mindestens tendenziell immer wieder einem individualistischen und spiritualistischen Verständnis des Glaubens zuneigte, zum anderen die faktisch weitgehend intakten kirchlichen und gesellschaftlichen Überlieferungsprozesse, die eine theologische Reflexion auf die kirchliche Überlieferung als nicht unbedingt notwendig erscheinen ließen. Mit Recht wird aber auch umgekehrt darauf hingewiesen, dass die neue systematische Befassung lutherischer Theologie mit den kirchlichen Überlieferungszusammenhängen sich durchaus auf Grundeinsichten reformatorischer Theologie berufen kann, auf CA V etwa, wonach Gott den Glauben weckt, wo und wann es ihm gefällt, aber durch äußere Mittel wirkt (4). In katholischer Optik ist hier von der "Sakramentalität" kirchlicher Vermittlung und Tradierung des Glaubens die Rede. Dabei gibt es neben den bestehenden Unterschieden deutliche Zeichen einer Konvergenz. Während katholischerseits neuerdings - reformatorische Impulse aufnehmend - vor allem die Frage der Transparenz der menschlich-kirchlichen Vermittlung in den Vordergrund rückt, wird hier lutherischerseits umgekehrt die Notwendigkeit der leibhaften Vermittlung des Glaubens in den Mittelpunkt gestellt. Von daher ist es - ökumenisch gesehen - mehr als nur bedauerlich, dass die vorliegende Studie jeden Blick auf die gegenwärtige katholische Traditionstheologie geflissentlich vermeidet (geradeso als ob eine Ansteckung vermieden werden sollte), obwohl es dort interessante Parallelen gibt (vgl. etwa B. Schoppelreich, Zeichen und Zeugnis. Zum sakramentalen Verständnis kirchlicher Tradition, Münster 2001; S. Wiedenhofer, Die Tradition in den Traditionen. Kirchliche Glaubensüberlieferung im Spannungsfeld kirchlicher Strukturen, In: D. Wiederkehr [Hrsg.], Wie geschieht Tradition? Überlieferung im Lebensprozeß der Kirche, Freiburg 1991, 127-172). Ökumenisch enttäuschend ist die Studie aber vor allem deshalb, weil die Bedeutung der ökumenischen Frage für die Tradierung des christlichen Glaubens (Zerrissenheit und Vielfalt des Zeugnisses, die einen kritisch-solidarischen Dialog in den Prozess der Glaubenstradierung selbst eingeschrieben haben) theologisch überhaupt nicht thematisiert wird.

Vielleicht ist damit auch schon zuviel verlangt. Denn davon abgesehen ist die Bedeutung der Studie nicht hoch genug einzuschätzen. Sie weist drei Teile auf. Der erste Teil behandelt Grundfragen des Begriffs christlicher Überlieferung (12-46), vor allem die Entstehung des Glaubens, das Verhältnis von äußerem Wort und unverfügbarem Wirken des Heiligen Geistes, die Notwendigkeit des menschlich-kirchlichen Glaubenszeugnisses, die zentrale Rolle des Gottesdienstes, die Frage des Maßstabes christlicher Überlieferung, Glaube als Heil und Orientierung. Gerade in diesem grundlegenden Teil hätte ein Gespräch mit der gegenwärtigen katholischen Traditionstheologie durchaus hilfreich sein können, schon allein um festzustellen, wie sehr man im gleichen Boot sitzt. Denn die Dialektik des Begriffes des kirchlichen Zeichens und Zeugnisses (Notwendigkeit und Transparenz des Zeichens) führt hier (spiegelverkehrt zu den katholischen Problemen) zur theologischen Gratwanderung, im Rahmen der geläufigen reformatorischen Relativierung der kirchlichen Glaubensvermittlung deren Notwendigkeit theologisch zu begründen und pastoral umzusetzen.

Der zweite Teil der Studie (47-88) zeichnet ein sehr hilfreiches und kenntnisreiches Bild von den Rahmenbedingungen religiös-weltanschaulicher Überlieferung in unserer Gesellschaft. Indem der Blick auf den kontingenten Charakter der gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen, auf die Strukturprobleme der gegenwärtigen Gesellschaft (besonders die Diskrepanz zwischen Selbstbestimmungsbedarf und Selbstbestimmungsfähigkeit) und die Wirksamkeit expliziter und vor allem auch impliziter weltanschaulicher und religiöser Überzeugungen gelenkt wird, wird mit vollem Recht eine gefährliche ekklesiologische Reduktion vermieden und das Problem christlicher Glaubensvermittlung auch gesellschaftlich geortet und erweitert. Der dritte und umfangreichste Teil wendet sich schließlich direkt der christlichen Überlieferung in unserer Gesellschaft zu (89-208). Hier geht es um den institutionellen Charakter christlicher Überlieferung (91-98), die Institutionen christlicher Überlieferung in der pluralistischen Gesellschaft (99-113), um die christliche Überlieferung in den Institutionen der Lebenswelt (114-155), in Institutionen der gesellschaftlichen Öffentlichkeit (156-192) und im Leben der Einzelnen (193- 199) sowie schließlich um den Zusammenhang der Überlieferungsorte (200-208). Die Bedeutung dieses dritten Teiles besteht vor allem darin, dass hier eine umfassende Gesamtschau der Institutionen der christlichen Überlieferung versucht wird, wie sie bisher in der Tat noch nicht vorhanden ist, wenn auch diese umfassende Systematik ob der Vielzahl der Überlieferungsorte im Einzelnen (mindestens teilweise) zu einer sehr schematischen und formalen Betrachtungsweise führt. Aber insgesamt handelt es sich um eine wichtige Studie, die in der lutherischen Theologie eine wirkliche Lücke schließt, aber auch in der katholischen Theologie Beachtung verdient.