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Ausgabe:

März/1999

Spalte:

342–346

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Vorgrimler, Herbert

Titel/Untertitel:

Wegsuche. Kleine Schriften zur Theologie. Bd. I u. II.

Verlag:

Altenberge: Oros 1997/98. XVI, 676 S. u. X, 758 S. 8 = Münsteraner Theologische Abhandlungen, 49,1 u. 2. Lw. DM je 120,-. ISBN 3-89375-150-5 u. 3-89375-160-2.

Rezensent:

Wolfgang Dietzfelbinger

Herbert Vorgrimler war seit 1972 bis zu seiner Emeritierung 1994 an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Münster. In unmittelbarer Nachfolge Karl Rahners hatte er dort den Lehrstuhl für Dogmatik und Dogmengeschichte inne. Hier veröffentlicht er in zwei stattlichen Bänden 79 Beiträge aus insgesamt 45 Jahren, der längste 45, der kürzeste 10 Seiten umfassend. Die Texte sind gelegentlich durch ein "Nachwort 1997" ergänzt. Der Quellennachweis am Ende des II. Bandes informiert darüber, wo, außer einigen nichtpublizierten Arbeiten, die Erstveröffentlichung erfolgt ist. Es sind sehr verschiedenartige literarische Genera: Dokumentationen, (Fest-)Vorträge und Vorlesungen, Beiträge zu Festschriften und Sammelbände. Eigens zu erwähnen wären darunter die Zeitschrift "Concilium" und die Schriftenreihe "Quaestiones disputatae", wo V. Redaktionsmitglied bzw. Schriftleiter gewesen ist. Seine Wortmeldungen, so gibt er Rechenschaft, seien zu ihrer Zeit in erster Linie immer einem Appell des Gewissens gefolgt und sollten deshalb nicht völlig vergessen oder unbeachtet bleiben.

Die beiden Bände umschließen neun große Themengruppen, unter die die einzelnen Studien subsumiert sind: Am umfangreichsten, nämlich 300 Seiten: VI Probleme der Kirche und ihrer Dienste; zum Diakonat. Darin gibt es eine (am Ende erfolglose) Warnung vor dem "Abenteuer eines neuen Weltkatechismus", ein Gutachten über die Diakonatsweihe für Frauen, sowie einen offenen Brief an den Verehrten Papst Jan Pawel, der dessen jüngst geäußerte Argumente für das Zölibat kritisiert. Es wird das gemeinsame (protestantisch: "allgemeine") Priestertum erörtert und der theologische Ort des Priesters bestimmt. Ein Aufsatz über den Geist des Konzils bildet unverhohlen Affront gegen das Interview, das Kardinal Ratzinger ("ein fröstelnder und gelangweilter Autor") 1985 zur Lage des Glaubens gegeben hat. Die schlechterdings vernichtende Anklage der Glaubenskongregation gegen die lateinamerikanische Befreiungstheologie wird unter den Begriffen "Christologie - Eucharistielehre - Sündenverständnis" analysiert. Ergebnis: Es "ist unübersehbar, welche Ängste die Glaubensbehörde hervorrufen, zu welchen Assoziationen sie verführen, welche Klischees sie verbreiten will. Die Verelendeten in Lateinamerika, die Campesinos und Indios, die Bewohner der Favelas und diejenigen, die sich um sie abmühen, werden den bitteren Preis für dieses Papier zu bezahlen haben." (II, 188/89).

Weniger offensiv, sondern eher grundsätzlich sind die 19 Aufsätze zur Thematik Glaubenszugänge und Interpretationen (I). Da wird eine heute angemessene Deutung der Person Jesu Christi versucht und die Aspekte einer katholischen Diskussion um den Heiligen Geist als Person beigebracht - mit einem Lutherzitat schließend. Anspruchsvoll, stark philosophisch ist der Traktat über die Wahrheit als Kategorie der katholischen Kirche und Theologie. Ins Gespräch mit evangelischen Theologen (Tillich, Bultmann, Zahrnt, Ott, Käsemann) treten die Arbeiten über den Theismus und den Untergang des religiösen Bewußtseins. Freilich, auch die gelehrteste Theologie bleibt bei V. nie Theorie allein; die pastorale Dimension ist stets berücksichtigt, und zwar nicht etwa bloß pflichtmäßig, sondern organisch erwachsen. Da ist der schöne Aufsatz über das Lesen durch die Augen des Herzens und der über das Gefühl in der Theologie. Über die Gelassenheit wird gehandelt, über die Gesundheit und über das kranke Kind. Dem evangelischen Rezensenten wird bewußt, in welch hohem Maß bei Themen der katholischen Theologie immer auch die kirchliche Tradition und der sensus fidelium zu bearbeiten ist. V. setzt sich gewissenhaft damit auseinander, aufnehmend, sichtend, kritisch, auch ausscheidend. So zeigt er, wie der freundliche Schutzengelglaube in sämtliche Aporien der Theodizeeproblematik gerät. "In wieviel Not - wurde der gnädige Gott nicht entsetzlich vermißt. Hat dieses Kind einen guten Schutzengel gehabt, was tat der Schutzengel des Nachbarkindes, als es jämmerlich im Bett verbrannte? Wo waren die Engel der Kinder in Ruanda?" (I, 258).

Irgendwann sucht man in der Fülle der Themen dann nach einem roten Faden. Wenn es so etwas gibt, ist es zweifellos die erstrangige Bedeutung, die die 34jährige Freundschaft und Zusammenarbeit mit Karl Rahner für V. hatte (I, IX). Eine eigene Themengruppe (VIII) trägt den Titel "Zur Aktualität Karl Rahners" - aber damit nicht genug: Es dürfte kaum ein Aufsatz zu finden sein, in dem dieser Name nicht genannt wäre. Als Grundzüge der Theologie Rahners arbeitet V. heraus die Einheit von Gottes- und Menschenliebe in einer mystischen Erfahrung, wobei die Treue zur kirchlichen Lehrtradition gewahrt bleibt: nicht Reduktion, sondern Konzentration. Instruktiv ist es, wie das geradezu zum Schlagwort gewordene Diktum von dem Christen von morgen, der ein Mystiker sein müsse, in seinem Kontext zitiert und erhellend erklärt wird: "Der Fromme von morgen wird ein ’Mystiker’ sein, einer, der etwas ’erfahren’ hat, oder er wird nicht mehr sein, weil die Frömmigkeit von morgen nicht mehr durch die im voraus zu einer personalen Erfahrung und Entscheidung einstimmige, selbstverständliche öffentliche Überzeugung und religiöse Sitte aller mitgetragen wird, die bisher übliche religiöse Erziehung also nur noch eine sehr sekundäre Dressur für das religiös Institutionelle sein kann" (II, 547). Durch diesen Kontext verliert Rahners These etwas von ihrem abstrakten Charakter. Sie wird noch anschaulicher, wenn man erfährt, daß bei ihm Mystik nichts elitär Mirakulöses ist, sondern grundsätzlich erlernbar. Konkrete Umstände können Orte der geheimnisvolle Erfahrung Gottes sein: Einsamkeit, Engagement in radikaler Verantwortung (Treue zum Gewissen, Pflichterfüllung mit dem Gefühl des Verzichts auf Selbstverwirklichung und -erfüllung, Gehorsam um Gottes willen) sowie Konfrontation mit dem Tod (Scheitern des eigenen Lebensplanes, Zerbrechen der eigenen intellektuellen Welt, die Realisierung der eigenen Banalität und Beliebigkeit) (II, 543).

Eine letzte Kostprobe: Karl Rahner, der von der römischen Kurie am liebsten vom Konzil ferngehalten worden wäre, wurde von dem Wiener Erzbischof Kardinal König zu seinem persönlichen Konzilstheologen berufen. Es ist reizvoll, aus dessen Akten Rahners Gutachten über die kurialen Schemata vor dem Konzil kennenzulernen: "Sie sind alle Ergebnisse einer dürftigen Schultheologie; richtig, ausgewiesen mit genügend vielen Zitaten aus päpstlichen Erklärungen der letzten Jahrzehnte, die vermutlich von denselben Männern verfaßt waren, aber bar jedes Charismas einer hellen, siegreichen, Geist und Herz der Menschen von heute gewinnenden Verkündigung" (II, 140). Und dem gegenüber die fünf Ziele, die Karl Rahner selber der Konzilsarbeit setzt : a) Die heute geltenden geistigen Voraussetzungen sind zu berücksichtigen. b) Von der geistigen Not heute muß die Kirche sich beunruhigen lassen. c) Die Antwort der Kirche muß geschehen mit dem Charisma einer Geist und Herz der Menschen gewinnenwollenden Verkündigung. d) Die bloße Wiederholung von Formeln ist unsinnig. e) Die moralischen Prinzipien müssen verbunden mit einem befreienden Trost für die Sünder verkündigt werden (II, 145).

Kardinal König war es auch, der als langjähriger Präsident des seinerzeitigen Sekretariats für die Nichtglaubenden (später Päpstlicher Rat für Kulturen) V. als Mitarbeiter dorthin berufen hatte. Aus dieser Tätigkeit erwuchs der "Dialog mit Andersdenkenden" (V), exemplifiziert am Gespräch mit Marxisten und Freimaurern. V. erweist sich als vorurteilsloser, von seiner reflektierten Position her freier Partner, der die Chancen, aber auch die Schwierigkeiten und Grenzen des Dialogs benennt. Was ihm jedoch am meisten zu schaffen macht, sind nicht die Andersdenkenden, sondern Denunzianten, Verleumder und Pamphletisten aus der eigenen Kirche, namentlich der Hierarchie und rechtsgerichteten Kreisen. Nicht ohne Betroffenheit liest man, mit welch verwerflichen Mitteln hintertrieben wurde. Vergleichbares gilt im übrigen für das "Gespräch mit dem Judentum" (IV). Unter den vielerlei dort aufgeführten Positionen dürfte V. dem seinerzeit sehr umstrittenen Synodalbeschluß der Rheinischen Kirche 1980 am nächsten stehen: "Wir glauben, daß Juden und Christen je in ihrer Berufung Zeugen Gottes vor der Welt und voreinander sind; darum sind wir überzeugt, daß die Kirche ihr Zeugnis dem jüdischen Volk gegenüber nicht wie ihre Mission an die Völkerwelt wahrnehmen kann" (I, 531). Daß auch dagegen vehementer Widerspruch eingelegt wurde, ist nicht zu verwundern.

Ein eigener Themenkomplex ist Liturgie und Sakramenten (VII) gewidmet. Hier findet sich die einzige fremdsprachige - französische - Arbeit, ein Auszug aus V.s ungedruckter Dissertation von 1957 über Matth 16,18 ff. und das Bußsakrament. Der "Ablaß", für Protestanten nach wie vor Reizthema, wird sehr vergeistigt interpretiert, während die dogmatische Einschätzung der kirchlichen Trauung auf recht spezielle Einzelfragen des Rechtes und der Sakramentaltheologie eingeht. Am interessantesten waren mir in diesem Kapitel V.s Gedanken zur Interkommunion, die er (schon 1971) umsichtig und behutsam bejaht. Er fordert, daß die konfessionellen Partner einander kennen, damit sie bei gastweiser Kommunion wissen, was sie tun. Höchst praktisch (II, 362): "Ein römischer Katholik kann im reformierten Abendmahl nicht Jesus verehren als unter diesem Brot und Wein sakramental real gegenwärtig; wohl aber kann er Jesus verehren als in dieser gottesdienstlichen Versammlung pneumatisch real gegenwärtig, und er kann das Abendmahl nehmen z. B. im zwinglischen Sinn des Erinnerungssignals auch für seinen Glauben, für den gemeinsamen christlichen Glauben."

Wenn man die Komplexe II (Karsamstag - Höllenabstieg Jesu Christi - Ostervigil) und III (Sterben, Tod und Vollendung) zusammennimmt, so ergeben sich 200 Seiten zum Thema Eschatologie im weitesten Sinn. Bewundernswert, wie hier eine oft nicht unproblematische Tradition kritisch aufgenommen, geläutert und bis ins praktisch Pastorale fortgeführt wird. Das gilt für Hölle und Fegfeuer, aber auch für die christliche Bestattung. Wie geht es im Himmel zu? wird unbefangen gefragt, und: Was ist unter Seele zu verstehen? Die philosophische Diskussion ist jederzeit präsent, gleichzeitig bleiben die Überlegungen stets geerdet - wohltuender Unterschied zu protestantischer Blässe oder Wortlosigkeit.

Beschlossen wird das Werk durch sechs theologische Porträts, unter ihnen Hans Urs von Balthasar, den V. bei allem Respekt vor der theologischen Leistung doch seines Konservatismus wegen durchweg kritisch sieht. Sehr gut gefällt mir, wie er Hugo Rahner schildert, den an der Gesellschaft Jesu zweierlei anzog: Gehorsam und Zucht. "Zucht ist Scham, Zurückhaltung, edle Verschlossenheit, instinktives Zurückweichen vor allzu großem Vertraulichtun, Liebe zur Form, ja geradezu zum Reglement, Mißtrauen gegen alle Grenzenlosigkeiten. Zucht liebt Tradition, hält sich eher an ’Altmodisches’. Zucht ist abhold jedem Getue, der Pose, dem Wichtigtun, gerade im Höchsten, dem Dienst Gottes. Mit einem Wort, Zucht ist seelische und körperliche Sauberkeit" (II, 671/72). Alles andere als zeitgemäß, sicher - aber ich finde, des Nachdenkens wert. Das gleiche gilt für das Zitat aus den "Pensées", das sich in der umfangreichsten Studie der beiden Bände findet, zu Pascals Kirchenfrömmigkeit (II, 634/35): "Notwendig muß sich das Äußerliche dem Innern vereinen, damit man Gott erlange, d. h. daß man sich hinknie, mit den Lippen bete usw., damit der stolze Mensch, der sich Gott nicht unterwerfen wollte, hier der Kreatur untertan sei. Aus diesem Äußerlichen Hilfe zu erwarten ist Aberglauben; es nicht der innerlichen Hingabe vereinen zu wollen ist Hochmut".

Diese Andeutungen mögen genügen; sie haben ihren Zweck erfüllt, wenn sie Lust zum Blättern machen, zum Lesen, zum Studieren. Zwei kritische Bemerkungen sollen aber nicht verschwiegen sein. Die 1400 Seiten sind ja im gewissen Sinn nicht nur eine theologische Biographie, sondern eine eindrucksvoll parteiliche Geschichte des nachkonziliaren Katholizismus. Ihre Unmittelbarkeit ist erfrischend, hat aber auch ihre Schattenseite. Wie er selbst sagt, hat der Autor seine Texte nicht aktualisiert. Das führt fast zwingend dazu, daß zuweilen Bleibendes und Ephemeres nicht genügend unterschieden ist. Manche Studien sind im Augenblick ihres Erscheinens von Bedeutung; hat sich aber die Situation geändert, so interessieren die Details allenfalls noch den Spezialisten. Und der nicht mit allen Einzelheiten vertraute Leser ist ein wenig ratlos, wenn ein Dokument kommentiert wird, das er nicht mehr genügend kennt, weil die Zeit darüber hinweg ist.

Zweitens: Dringendes Desiderat wäre eine bessere Erschließung der Texte durch ein Sach- und Namensregister - der Quellennachweis allein genügt da nicht. Eine Kärrnerarbeit, ohne Zweifel. Aber man hätte einfach gern einmal alle Stellen, wo der Autor Hans Urs von Balthasar kritisiert oder wo er, unter verschiedenen Aspekten, das Chalzedonense auslegt. Die beiden Bände sind eine wahre Fundgrube, aber man würde sich wünschen, daß einem das Finden durch die genannten Hilfen leichter gemacht wird.

Noch einmal: Zu bewundern ist V.s Vielseitigkeit und Weite: Er beherrscht die klassische Lehrüberlieferung seiner Kirche wie die warmherzige Auslegung für einfache Menschen; er ist in der Liturgiewissenschaft zu Hause, kennt andere Weltanschauungen und ist ein gewissenhafter Seelsorger. Der Beruf Professor kommt von profiteri, und das meint: sich für seine Sache hinstellen. Dies tut Professor V. im besten Sinn, auch ungeachtet von Demütungen, Enttäuschungen, Rückschlägen. Diesen Preis entrichtet er für eine menschliche, weltoffene Entwicklung der katholischen Theologie. Das ist das Verdienst seines Lebenswerkes.