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Ausgabe:

Juli/August/2002

Spalte:

806–809

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Rulands, Paul

Titel/Untertitel:

Menschsein unter dem An-Spruch der Gnade. Das übernatürliche Existential und der Begriff der natura pura bei Karl Rahner.

Verlag:

Innsbruck-Wien: Tyrolia 2000. 398 S. 8 = Innsbrucker theologische Studien, 55. Kart. ¬ 36,00. ISBN 3-7022-2266-9.

Rezensent:

Siegfried Hübner

Diese hier vorzustellende Studie, eine mit H. Jorissen als Doktorvater in Bonn erstellte und 1999 mit dem "Karl-Rahner-Preis für theologische Forschung" ausgezeichnete Dissertation, greift die im Untertitel genannten Fragen an die Theologie Karl Rahners auf mit dem erklärten Ziel, dessen "tiefe Verwurzelung [...] im Denken der Neuscholastik" herauszuarbeiten und durch chronologisch-analytische Untersuchung der Gnadentheologie Rahners "mögliche wesentliche Weiterentwicklungen" seines Denkens deutlich zu machen (13). Dementsprechend erforscht der Vf. die Genese und Bedeutung des Theologumenons eines "übernatürlichen Existentials" und dessen Bezug zum Begriff einer hypothetischen "natura pura" im Kontext der Gnadentheologie Rahners von dessen frühesten Veröffentlichungen an bis in sein "Spätwerk" hinein. Er meint, die präzise Fixierung einzelner Entwicklungsschritte nachweisen zu können, die zu folgender Rekonstruktion des Denkprozesses Rahners führen: Im "Frühwerk" (15-143 und 196-219), das der Vf. unter seinem Forschungsaspekt bis zum Jahre 1950 ansetzt, liegt dem Denken Rahners "ein ganz traditionelles, in gewisser Hinsicht auch extrinsezistisches (und zum größten Teil molinistisches) Konzept des Verhältnisses von Natur und Übernatürlichem" zu Grunde (209). Den Gedanken eines "übernatürlichen Existentials" hat Rahner ursprünglich in einer "binnenchristlichen" Tauftheologie entwickelt und erst von dort her - mit Hilfe der "universalen neuscholastischen Kategorien" (120.131.142) - auf jeden einzelnen Menschen bezogen, in welchem Sinne das Wort als Substantiv im Jahre 1949 in dem Aufsatz "Zur Theologie des Todes" erstmalig "auftaucht" (137 f.).

Im Zusammenhang mit den durch H. de Lubac als Repräsentant der französischen "Nouvelle Théologie" in die Diskussion eingebrachten Aufbrüchen (144-194) zeigt sich um 1950 in der Stellungnahme Rahners die weitgehende Übereinstimmung beider Theologen hinsichtlich der Problematik der in der damaligen katholischen Theologie herrschenden Neuscholastik und der Notwendigkeit, jenen "Extrinsezismus" zu überwinden, wie er sich nachtridentinisch in der katholischen Gnadenlehre ergeben hatte. Sie unterscheiden sich aber darin, dass Rahner sachlich und begrifflich an der scholastischen Unterscheidung zwischen "Natur" und "Übernatürlichem", und von daher auch an der "Sinnhaftigkeit der Hypothese einer natura pura" festhält (219-248). Erst in der weiteren Entfaltung seiner Gnadentheologie, im Licht der an ihn gerichteten kritischen Anfragen, bestimmt Rahner 1954 das "übernatürliche Existential" als die jedem Menschen vorgegebene übernatürliche Heilsgnade im Modus des Angebots, woraus er bald - greifbar ab 1958 - die für seine Theologie charakteristischen Konzeptionen einer "transzendentalen Offenbarung" und des "anonymen Christen" entwickelt (249-300). In seinem "Spätwerk", ab 1970, tritt die Bestimmung des betreffenden "Existentials" als "übernatürlich" auffällig zurück, und in Bezug auf den noch festgehaltenen Begriff einer "natura pura" nähert sich dessen Bedeutung den von Lubac vertretenen Positionen (301-326). Abschließend vergleicht der Vf. diese "späte" Gnadentheologie Rahners mit der von Lubac vorgetragenen und stellt heraus, dass beide Konzeptionen sich nur noch durch einen geringen "neuscholastischen" Rest im Rahnerschen Denken unterscheiden (327-336).

Aus dieser knappen Skizze wird deutlich, welches Anliegen den Vf. bei seiner Untersuchung bewegt: Rahners Theologie so weiterzudenken, dass auch dieser Rest noch überwunden wird. In den beiden zentralen Kapiteln ist diese Intention nicht zu überhören. Hier wird Lubac als Theologe vorgestellt, der konsequent katholische Theologie aus dem Gefängnis der Neuscholastik befreit (144-194), Rahner dagegen als jener, der sich bei allen anzuerkennenden Vorstößen mit demselben Ziel durch noch festgehaltene Elemente neuscholastischer Herkunft in Widersprüche verstrickt (195-248). Der Vf. würdigt zwar - auf lehramtliche Interventionen anspielend -, dass Rahner durch seine Konzeption "in einer angespannten Situation" das Anliegen der "Nouvelle Théologie" weiterzutragen in der Lage war, bedauert aber zugleich den Preis dafür: Durch die fast allgemeine Rezeption des Rahnerschen Theologumenons sei die grundlegende Kritik des neuscholastischen Naturbegriffs durch Lubac in den Hintergrund getreten (248).

Die Ausführungen des Vf.s beeindrucken durch einen beachtlichen Aufwand an Gelehrsamkeit. Das monumentale Werk Rahners einschließlich der Sekundärliteratur wurde zu den genannten Fragepunkten gründlich durchleuchtet. In gut ausgewählten Texten kommt Rahner selbst ausgiebig zu Wort. Die Ergebnisse der bisherigen Forschung werden aufgegriffen, gegebenenfalls in Frage gestellt und korrigiert. Der Untersuchungsgang und die Argumentation wirken unmittelbar überzeugend. Dem Vf. ist für eine Reihe willkommener und aufschlussreicher Beobachtungen im Einzelnen zu danken. Dennoch ist, bei allem Respekt vor der Intention und Leistung des Vf.s, der Frage nachzugehen, ob die Untersuchung mit ihrem Ergebnis, das beansprucht, eine "neue" Perspektive in die Rahner-Forschung einzubringen, das theologische Denken Rahners zutreffend erfasst, noch ganz abgesehen davon, wie zwischen den Positionen Lubacs und Rahners zu entscheiden wäre.

Der Rez., der selbst Rahner zum theologischen Lehrer hatte, gesteht, dass er diese in mehrfacher Hinsicht ausgezeichnete Studie mit einer gewissen Verwunderung gelesen hat und in Bezug auf die genannte Frage zu keinem günstigen Ergebnis kommen kann. Einige Gründe können hier nur kurz angedeutet werden.

Jeder mit dem behandelten Thema vertraute und aufmerksame Leser könnte sich veranlasst sehen, zu einer kleinen, fast beiläufigen Bemerkung des Vf.s, auf die er stößt, ein großes Fragezeichen am Rand der Ausführungen anzubringen. Der Vf. ist nämlich "mit Sicherheit" überzeugt, Rahner würde nie, "selbst in seinen späten Überlegungen nicht", dem Nichtgetauften, z. B. dem "anonymen Christen", ein "seinshaftes Kind-Gottes-Sein durch den Geist mit Christus" zusprechen (130.141). Damit ist das Gegenteil von dem behauptet, was Rahner mit dem Wort "anonymer Christ" zum Ausdruck bringen wollte: dass ein solcher Mensch hinsichtlich seines inneren Gnadenstandes sich vom "ausdrücklich" als Christ Glaubenden nicht unterscheidet. Und er verstand sich dabei von einer Tradition her, die "etwa seit Ambrosius bis hin zum II. Vatikanum" die Möglichkeit einer solchen Begnadigung auch für Nichtgetaufte lehrt (vgl. nur GS 22!). Dieses offensichtliche Missverständnis, wie es in dieser Behauptung zutage tritt, liegt aber vielen Text-Analysen des Vf.s zu Grunde. Es steuert z. B. einen langen Argumentationsstrang, in dem der Vf. auf Schritt und Tritt mit einer "Tauftheologie" operiert, welche die Gnade "exklusiv" (205 f.) und "einzig und allein" (203.272) an Taufe und "fides ex auditu" gebunden versteht. Eine solche Tauftheologie mag vielleicht die des Vf.s sein. Auf keinen Fall ist sie jemals die Rahners gewesen. Deshalb bemüht sich der Vf. auch vergeblich, die in ihrem Kontext und Einklang unmissverständlichen Aussagen Rahners, in denen dieser vom allgemeinen Heilswillen Gottes und von der Wirklichkeit Christi her die ganze Menschheit als "Kirche" begreift, welche der sichtbar sozial organisierten Kirche vorausliegt (z. B. "Priesterliche Existenz" 1939, im Aufsatz zur Enzyklika "Mystici Corporis Christi" 1947, deutlich auch schon, was dem Vf. entgeht, im "Gnadentraktat" 1937/38, wo Rahner auf die Kirche, die erst noch "werden" will, hinweist), einschränkend "auf die durch die Taufgnade geschenkte Christusförmigkeit des Menschen" auszulegen (132). Auch chronologische Zäsuren, die der Vf. sieht, erweisen sich als illusorisch. Ein Text z. B., in dem er, "zweifelsfrei" das Verständnis des "übernatürlichen Existentials" erkennt, wie es erst ab 1954 auffindbar sein soll ("Opus operatum - opus operantis", 253, Anm. 9), ist nicht erst, wie er annimmt, 1954, sondern - wie Rahner selbst dem Rez. erklärt hat - schon 1939 entstanden, anlässlich eines Aufenthalts Rahners im Oratorium in Leipzig. Auch zur "Theologie des Todes" mit den für den Vf. 1949 erstmalig "auftauchenden" Formulierungen (137 f.) liegt ein vorausgehender Text aus den Jahren 1940-1944 vor, in dem ein Abschnitt überschrieben ist: "Der Tod als Vollendung und Endgültigkeit des christlichen Seins jedes Menschen". Rahner hat auch keineswegs neuscholastische Vorgaben so "unhinterfragt" übernommen, wie der Vf. es voraussetzt. In einem Text, aus dem der Vf. das bezüglich eines "molinistischen" Natur-Begriffs belegen will, problematisiert Rahner genau diesen - schon 1939! - als "falsch" (287 m. Anm. 98). Was der Vf. aus den lateinischen Skripten "De Gratia Christi" erhebt, grenzt mitunter an eine Karikatur Rahnerscher Theologie. Es ist zu bedauern, dass er bei diesen "in usum privatum auditorum" bestimmten Texten (63) die betreffenden Vorworte nicht genügend beachtet und auf für ihre Verwendung und Beurteilung nötige und mögliche Erkundigungen verzichtet hat.

Kritisch anzumerken ist noch, dass die dunkle Folie einer "Neuscholastik", wie sie sich als Hintergrund der Erörterungen des Vf.s abzeichnet, nicht ganz der geschichtlichen und theologischen Wirklichkeit gerecht wird. Deshalb ist es ratsam, sich bei der Lektüre der Studie das Verhältnis Rahners zu dieser Phase katholischer Theologie zu vergegenwärtigen. Er war als Theologe in der Neuscholastik herangewachsen, und zwar so, dass er deren Fragestellungen, Begrifflichkeit und Systematik hervorragend "beherrschte", vor allem auch, was ihre geschichtliche Herkunft und ihre - für jede katholische Theologie selbstverständliche - Bindung an den "Glauben der Kirche", konkret: an verpflichtende lehramtliche Erklärungen, betrifft. Er zählte sich selber zu jenen Theologen, die deutlich erkannt hatten, dass die Zeit dieser Theologie zu Ende gegangen war, und die ihre Aufgabe darin sahen, sie zu überwinden, im "Übergang" zu einer Theologie von heute und morgen. Er war sich der "Sünden" dieser Theologie bewusst, auch der "Erb- und Todsünden der Jesuitentheologie". Aber auf der anderen Seite war er überzeugt, dass auch in dieser Theologie "das wahre und volle Christentum lebendig war, dem auch die neue Theologie dienen muß". Er warnte den Theologen von heute davor, sie als besiegte Vorgängerin hinter sich zu lassen. Es käme vielmehr darauf an, die "innere Virulenz und Dynamik" der alten Thesen zu erspüren und das "gute Alte der traditionellen Theologie" zu bewahren. Denn wie es kein Zurück zur Neuscholastik gebe, so gebe es auch kein Zurück hinter Erkenntnisse, die in einem langen und intensiven Reflexionsprozess gereift sind. Ob er vielleicht gerade unter diesem Aspekt meinte - wie er gegen Ende seines Lebens einmal geäußert hat -, die Theologie, wie er sie studiert habe, im Vergleich "mit so manchem, was heute an unseren Fakultäten betrieben wird", bevorzugen zu sollen? (Vgl. z. B.: Schriften zur Theologie XV, Zürich 1983, 79; Im Gespräch II, München 1983, 297 f.; Glaube in winterlicher Zeit, Düsseldorf 1986, 50 f.). Es wäre also zu fragen, ob es in dem, was Rahner, wie es die in dieser Studie zitierten Texte bezeugen, nicht aufzugeben bereit war, letztlich um solches "gutes Altes" geht.