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Ausgabe:

Juli/August/2002

Spalte:

801–804

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Evers, Dirk

Titel/Untertitel:

Raum - Materie - Zeit. Schöpfungstheologie im Dialog mit naturwissenschaftlicher Kosmologie.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2000. XII, 437 S. gr.8 m. Abb. = Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie, 41. Lw. ¬ 89,00. ISBN 3-16-147412-0.

Rezensent:

Jack E. Brush

Diese ursprünglich als Tübinger Dissertation verfasste Arbeit von Dirk Evers erscheint in einer überarbeiteten Fassung in der Reihe "Hermeneutische Untersuchungen zur Theologie" vom Verlag Mohr Siebeck. Die Untersuchung gliedert sich in drei Hauptteile, in denen die allgemeinen Begriffe Raum, Materie und Zeit behandelt werden, sie ist jedoch grundsätzlich auf das Verhältnis von naturwissenschaftlichen Kosmologien und Schöpfungstheologie angelegt. An Hand der Begriffe Raum, Materie und Zeit versucht der Vf. aufzuzeigen, wie Aussagen über die Welt als Gottes Schöpfung auf die neuzeitliche Kosmologie bezogen werden können. Dabei handelt es sich nicht darum, theologische Aussagen an naturwissenschaftliche Theorien wie etwa an die Feldtheorie direkt anzuschließen, aber auch nicht darum, in den Lücken der Erkenntnisse der heutigen Naturwissenschaft Platz für theologische Aussagen zu schaffen. Vielmehr geht es dem Vf. darum, zunächst aus metatheoretischer Sicht die innewohnenden Grenzen der Naturwissenschaft zu erhellen, besonders wenn sie das Ganze der Wirklichkeit in ihren Kosmologien darzustellen glaubt, sodann von daher theologische Aussagen über Gottes Schöpfung plausibel zu machen. Auch wenn der Vf. gelegentlich darauf hindeutet, dass naturwissenschaftliche und theologische Interpretationen miteinander konkurrieren können (z. B. 394), geht er prinzipiell von der Überzeugung aus, dass kein Widerspruch zwischen einer selbstkritischen naturwissenschaftlichen Kosmologie und einer am Glauben orientierten Schöpfungstheologie bestünde und dass eine innere Kohärenz, wenn keine abgeschlossene Synthese, zwischen naturwissenschaftlichen und theologischen Interpretationen erreichbar wäre (396).

Der Vf. argumentiert auf der einen Seite konsequent für die aus der Sicht der Naturwissenschaft notwendige Selbständigkeit der Welt, will aber auf der anderen Seite die freilich in seinem Sinne interpretierte theologische Rede von der creatio ex nihilo und der creatio continua nicht nur als möglich, sondern als geradezu einleuchtend darstellen. Zum Aufbau der Untersuchung ist noch zu erwähnen, dass der Vf. die drei Grundbegriffe Raum, Materie und Zeit den drei großen Theoriekomplexen des 20. Jh.s, nämlich der Relativitätstheorie, der Quantentheorie und der Thermodynamik, zuordnet. Ferner stellt er der Darstellung des jeweiligen Theoriekomplexes eine bis zur Antike zurückreichende Begriffsgeschichte voran, um die Entstehung der neuzeitlichen Problematik zu erhellen und die Naturwissenschaft selbst als eine historische Entwicklung erscheinen zu lassen. Nach Abschluss des naturphilosophischen und des naturwissenschaftlichen Teils jedes Kapitels befasst sich der Vf. mit einem theologischen Teil, in dem er die Möglichkeit und Plausibilität der Rede von Gott, dem Schöpfer, erläutert.

Nachdem der Vf. im ersten Kapitel Äußerungen aus der Antike (Thales, Parmenides, Demokrit u. a.) über die kosmologische Kategorie Raum angeführt hat, verfolgt er die Begriffsgeschichte weiter, indem er den Raumbegriff der klassischen Mechanik und den der speziellen und der allgemeinen Relativitätstheorie behandelt. Letztere bereitet für den Aufbau der Untersuchung insofern Schwierigkeiten, als sie ein Raum-Zeit-Kontinuum postuliert und somit eine Diskussion erfordert, die das dritte Kapitel über den Zeitbegriff zum Teil vorwegnimmt. Doch lassen sich solche Überschneidungen bei diesem komplexen Thema kaum vermeiden. Zum Schluss des naturwissenschaftlichen Teils erörtert der Vf. das Standardmodell des Urknalls und die von Stephen Hawking und Roger Penrose vertretene Hypothese einer Anfangssingularität. Theologen und Theologinnen, die nur wenige naturwissenschaftliche Vorkenntnisse besitzen, dürfen ohne Bedenken einige technische Abschnitte dieses Kapitels überspringen, weil der Vf. am Schluss seiner Ausführungen eine hilfreiche Zusammenfassung bietet (111-114). Grundsätzlich unterscheidet der Vf. zwischen dem abstrakten, mathematischen Begriff des Raums als einer n-dimensionalen Mannigfaltigkeit und dem konkreten, kosmischen, dreidimensionalen Raumbegriff des physikalischen Geschehens und stellt danach fest, dass der kosmische Raum als ein Sonderfall des abstrakten Raums zu verstehen ist, der seinerseits auf die Begriffe Ausdehnung, Dimension und Metrik zurückgeführt werden kann. Dem ersten von diesen drei Begriffen, nämlich "Ausdehnung" (oder "Abstand"), kommt eine besondere Bedeutung zu, weil er als "Differenz in Beziehung" interpretierbar ist und gerade in diesem Sinne die Möglichkeit bietet, Gott zu "lokalisieren". Immer wieder betont der Vf. "die Grundfigur von Relationierung durch Distanzierung" (118), und im Anschluss an E. Jüngel interpretiert er den ursprünglichen Akt der Schöpfung als die Selbstbegrenzung Gottes. Gerade dadurch, dass Gott, der Schöpfer, sich zurückzieht und seiner Schöpfung Raum gewährt, tritt er in Beziehung zu seiner nunmehr selbständigen und in sich kohärenten Schöpfung. Somit wird die Selbständigkeit der Welt bewahrt und die Relation Gottes zur Welt aus dem kosmischen in einen abstrakten Raum versetzt. Mit anderen Worten spannt Gott durch seine schöpferische Selbstbegrenzung einen abstrakten Raum (Differenz in Beziehung), in dem sein Gegenüber gerade die uns bekannte, durch den kosmischen Raum charakterisierte Wirklichkeit ist, welche die Naturwissenschaft hervorragend zu erforschen vermag. Schließlich beruft sich der Vf. auf die Arbeiten von I. Dalferth und bezeichnet die Relation zwischen Gott und Welt als eschatologisch. Fraglich an diesem Kapitel ist, dass die reine Mathematik, nicht die Physik den Schlüssel zur theologischen Rede über Gott, den Schöpfer, zu liefern scheint, während das Ziel der Untersuchung darin besteht, die Schöpfungslehre von den neuzeitlichen Kosmologien her zu denken.

Im zweiten Kapitel "Materie" erläutert der Vf. nach der Darstellung einer kurzen Begriffsgeschichte die Quantenmechanik und ihre Bedeutung für naturwissenschaftliche Kosmologien, wobei er die üblichen Interpretationen der Quantenerscheinungen einschließlich der Kopenhagener Deutung von Bohn und Heisenberg, der Theorie verborgener Parameter von Bohm und der Viele-Welten-Hypothese von Everett darlegt. Anschließend stellt er fest, dass die Quantentheorie als die heute anerkannte Standardtheorie der Materie den alten Atomismus ersetzt und sich als entscheidend für ein Verständnis der Frühzeit des Kosmos erwiesen hat (207). Als Zusammenfassung der Ergebnisse seiner Analyse des quantentheoretischen Materiebegriffs, aber auch als Vorbereitung auf den theologischen Teil behandelt der Vf. noch einige Probleme wie die Fundamentalität der materiellen Partikel, die Subjekt-Objekt-Relation und Kausalität. Im Geiste Heisenbergs (192) definiert der Vf. bereits in der Einleitung (12) "Stoff" (Materie) als den Übergang vom Möglichen zum Wirklichen, und im Kontext der Kosmologie heißt dies, dass die Randbedingungen des Kosmos aus dem Spektrum möglicher Teilchen gerade diejenigen realisieren ließen, die im Universum tatsächlich vorhanden sind (230). Von daher bestimmt er den primordialen Schöpfungsakt Gottes (creatio ex nihilo) als das Hervorbringen des Anfangsmoments der Schöpfung mit der Raumzeit (255), also als den ursprünglichen Anfang des Übergangs vom Möglichen zum Wirklichen. Da der Vf. die Schöpfung als einen Prozess versteht, in dem Möglichkeiten verwirklicht werden, kann er die creatio continua in der Weise interpretieren, dass Gott als "die Quelle, der Grund und der Antrieb dieser Fülle von Möglichkeiten" (263, vgl. 278) gilt. Dennoch erfährt diese Interpretation eine notwendige Korrektur (oder problematische Veränderung?), wenn der Vf. Pannenbergs theologische Verwendung der Feldtheorie kritisiert und die Eigenständigkeit der Schöpfung mit ihren innewohnenden Möglichkeiten hervorhebt (268-270). Der scheinbare Widerspruch hinsichtlich des Ursprungs der im Universum zu realisierenden Möglichkeiten soll offenbar durch den Begriff des göttlichen Mitwirkens aufgehoben werden (278), doch bleibt es unklar, worin das Kooperieren Gottes mit den Geschöpfen (262) eigentlich besteht.

Im naturwissenschaftlichen Teil des dritten Kapitels über Zeit steht die Thermodynamik im Mittelpunkt, obwohl die Relativitätstheorie und die Quantentheorie notwendigerweise wieder einmal zur Sprache kommen. Zuerst unterscheidet der Vf. zwischen der Lagezeit und der Modalzeit; jene bezeichnet die kausale Relation von "früher" und "später", diese hingegen die Differenz zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Dann erklärt er die physikalische Explikation der Modalzeit, die sie durch die Quantentheorie erfahren hat. Gemäß der Quantentheorie ist die Vergangenheit irreversibel festgelegt und durch Fakten dokumentiert; die Zukunft ist durch Möglichkeiten und die sie darstellenden Wahrscheinlichkeiten charakterisiert; und die Gegenwart stellt den Übergang von der zukünftigen Möglichkeit zur faktischen Vergangenheit dar (350). Der mit der Gegenwart identifizierte Übergang vom Möglichen zum Wirklichen gilt aber auch als ein Geschehen oder als ein erfahrbarer Zusammenhang (353). Durch seinen ursprünglichen, schöpferischen Akt der Selbstbegrenzung wird Gott zum zeitlosen Grund der Zeit, indem er anderes als sich selbst da sein lässt, das sich fortan zeitlich entwickelt (373). Und Gott erweist sich als Schöpfer im Sinne der creatio continua dadurch, dass er einerseits den Zusammenhang des Übergangs vom Möglichen zum Wirklichen erhält und dass er andererseits der Welt von Moment zu Moment neue Möglichkeiten gewährt (376). So könnte man Gott als Ursprung und Zukunft der Welt beschreiben (373).

In einem Schlusskapitel "Theologie und Kosmologie: ein hermeneutisches Fazit" deutet der Vf. auf die Grenzen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis der Welt und plädiert für einen offenen Dialog zwischen Naturwissenschaft und Theologie. Im Anschluss an Jürgen Mittelstraß beschreibt er das naturwissenschaftliche Wechselspiel von Empirie und Theorie als einen Zirkel von Objektrationalität und Begründungsrationalität und stellt danach fest, dass Letztere für einen Theoriewechsel jeweils entscheidend ist (383-385). Daraus zieht der Vf. zwei Schlussfolgerungen. Zum einen geben die Rationalitätskriterien, nicht die Tatsachenkonformität den Ausschlag für jede Umwälzung des naturwissenschaftlichen Weltbilds. Zum anderen lassen sich solche Rationalitätskriterien auf keinen Fall aus den empirischen Tatsachen selber herauskristallisieren. (Wenn ich recht sehe, hat Thomas Kuhn als erster diese Position in seiner 1962 erschienenen, bahnbrechenden Arbeit "The Structure of Scientific Revolutions" vertreten.) Will die Naturwissenschaft, spezifisch die Kosmologie, auf das Ganze der Wirklichkeit gehen, um ein Weltbild zu entwickeln, dann muss sie sich auf ein interdisziplinäres Gespräch einlassen, damit sie Klarheit über ihre eigenen Rationalitätskriterien schafft, die Grenzen ihrer Deutungskompetenz richtig erkennt und sich der Notwendigkeit der Selbstdeutung des Menschen und seiner Stellung in der Welt bewusst bleibt. In einem solchen Gespräch wird die Theologie, so stellt der Vf. zum Schluss fest, eine entscheidende Rolle spielen, und sie wird auch ihrerseits von der Auseinandersetzung mit der Naturwissenschaft profitieren, indem sie "zur ständigen Überprüfung der Tatsachenkonformität ihrer Explikation des christlichen Welt-, Menschen- und Gottesverständnisses" (395) aufgefordert wird.

Der Vf. leistet m. E. einen wichtigen Beitrag zum heutigen Gespräch zwischen Theologie und Naturwissenschaft, zumal er einen mittleren Weg zwischen schroffer Ablehnung und unkritischer Rezeption naturwissenschaftlicher Theorien zur Explikation theologischer Themen sucht. Doch wäre es sehr hilfreich gewesen, wenn er hier und da seine Gedanken mit der Prozessphilosophie in Verbindung gesetzt hätte. Die Erläuterung der Wirklichkeit an Hand des Prozessbegriffes, die Beschreibung von Gott als einem Sein im Werden, dem das Werden der Schöpfung korrespondiert und die Vorstellung, dass Gott der Welt von Moment zu Moment neue Möglichkeiten gewährt - das alles erinnert sehr an Alfred North Whiteheads Hauptwerk "Process and Reality" (1929).