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Ausgabe:

Juli/August/2002

Spalte:

793–798

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Hundeck, Markus

Titel/Untertitel:

Welt und Zeit. Hans Blumenbergs Philosophie zwischen Schöpfungs- und Erlösungslehre.

Verlag:

Würzburg: Echter 2000. 416 S. gr.8 = Bonner dogmatische Studien, 32. Kart. ¬ 28,00. ISBN 3-429-02281-9.

Rezensent:

Philipp Stoellger

Dass ein Text verschiedene Lesarten provoziert, ist in der Theologie geläufig, aber gleichwohl oft anstößig. Dass die Texte Blumenbergs (B.) verschiedene Lesarten provozieren, ist nicht anstößig, sondern anregend. Sie scheinen geradezu darauf angelegt, als gäbe es ihre impliziten Leser nur im Plural. Daher ermöglichen und erfordern sie, dass der jeweilige Leser in eigener Verantwortung seine Lesart findet und sie exponiert. Dass man sich bei aller Pluralität gleichwohl gezielt verständigen kann, ist dabei dem Bezug auf die Texte zu verdanken. Das eine wie das andere wird von H. so gut geleistet, dass seine Arbeit zum Thema Welt und Zeit wie zu den Texten B.s weiterführende Perspektiven erschließt.

In seiner Dissertation bei J. Wohlmuth an der katholischen Fakultät Bonn wählt H. "die Schöpfungstheologie, die Christologie und die Soteriologie" (16) als Parameter seiner B.interpretation. Unter dem Aspekt der Welt entfaltet er B.s Arbeit an der "Balance zwischen Schöpfungs- und Erlösungsordnung" (18), die er unter dem Aspekt der Gnosiskritik weiterführt. B. gehe es um ein "Memoria-Projekt", das ein "Ethos der Bedeutsamkeit" entfalte, in der der marcionitische Dualismus kritisiert werde zu Gunsten einer bedeutungsvollen Verdichtung der deeschatologisierten Zeit dieser Welt (19). Die Pole des menschlichen Verhaltens seien im Unterschied zu Heideggers Sorge "Welterhaltung und Zeitverdichtung" (17). Diese Zeit werde im Futur II als "untilgbares Gewesensein" gewahrt - als Antwort auf die Kontingenzproblematik (19).

Gegliedert ist die Arbeit in zwei Hauptteile: "Welt" (65-243) und "Zeit" (309-363), die gerahmt werden von einem einleitenden Teil "Jenseits von Synchronie und Weltfremdheit" (21- 63), einem Zwischenspiel "Antignosis" (245-307) und schließlich einem "Fokus" (365-372).

1. Im einleitenden Kapitel skizziert H. den "anderen" Hintergrund seiner Interpretation: das Jüdische Denken nach Maßgabe von F. Rosenzweig, J. Taubes und K. Löwith (und H. Jonas, 25-41; latent bleibt der röm.-kath. Hintergrund H.s). Das "Bilderverbot" sei "Metapher für eine Absage an Totalität in jedweder Gestalt", auch der begrifflicher Eindeutigkeit (24, vgl. 134 ff.), die Arbeit an der Schere von Lebens- und Weltzeit sei Balancierung der Lebenszeit "vor der Ewigkeit" (29), und das Kontingenzgeschehen sei die "Mitte von Schöpfung und Offenbarung", in der "Erlösung zum Tragen" komme (29). Der Vf. interpretiert B.s Werk als Auseinandersetzung mit und Abgrenzung zu Heidegger (43 ff.) wie in Fortführung Husserls. So tritt an die Stelle der Daseinssorge die Selbstbehauptung (44 f.) und reziproke Welterhaltung (49 f.).

H.s theologisch starken Interpretamente gehen m. E. über B. hinaus (vgl. zum Trost: 32.43.56.61.266, aber 326.368), einerseits auf Grund des (von H. gewählten) anderen Hintergrundes, andererseits sind sie Ausdruck von H.s Horizont. Diese dezidierte Lesart ist möglich und wohl auch plausibler, als die leichtfertig paganen Lesarten B.s. Gegen die (meisten) bisherigen Interpretationen insistiert H. - völlig zu recht, wie auch die Forschungen zur Biographie B.s vermutlich belegen werden- auf der erheblichen Relevanz seines theologischen Hintergrundes (53 ff.).

2. Das Kapitel Welt erörtert zunächst die Differenz von äußerer und erfahrener Welt, also die Welt-Schere (65 ff.). Mit Löwith versteht H. diesen Dualismus als Konsequenz der Reduktion der Triade Gott-Mensch-Welt auf die von Mensch und Welt. Erst durch Reduktion öffne sich die Weltschere: die Welt umwillen des Menschen tritt der Außenwelt entgegen (69.71 ff.264). Die theologische Version dieses Problems sei die "theologische Spitzenfrage", die B.s gesamtes Oeuvre durchziehe, das Verhältnis von Schöpfung und Erlösung (74 ff.), in der die Frage nach dem von Welt und Zeit impliziert sei (247 ff.). Diese theologische Spannung sei nach B. nie von der Theologie ausbalanciert worden (74.78 f.). H. versucht nun, in B.s Arbeit an der Balance von Lebenszeit und Weltzeit eine Bearbeitung dieses Problems zu finden (78). B.s Perspektive sei therapeutisch-weltbedürftig, antignostisch, antitotalitär und ikonoklastisch (79) und intendiere gegen Heidegger die "Offenhaltung von Exteriorität", die H. als die "Unvermeidlichkeit des Fremden" erörtert (80-111; vgl. 264 ff. 277).

Die Metaphorologie skizziert H. (zu) knapp als Projekt der "Dekonstruktion und Ideologiekritik" (112-145, vgl. 281 ff.), um zu zeigen, "wie sehr Blumenbergs Metaphorologie sich dem annähert, was eine phänomenologisch gewendete Theologie" sein könnte (134 f.). Gegen eine (Heideggersche) Stiftung von Weltbildern durch die Philosophie (oder die Naturwissenschaften) entfalte die Metaphorologie ihr kritisches Potential als Methode "gelebte[r] Unverführbarkeit" (140). Die von B. erörterte Relation von Namenlosigkeit der Welt und Namhaftigkeit des biblischen Gottes zeige sein "Interesse an einem Gottesverständnis, das [...] nur im jüdisch-christlichen Kontext aufzufinden ist" und zwar konkret "um das in der Abba-Rede Jesu sich äußernde anthropologische Grundverhältnis des Menschen überhaupt" (144). Denn es gehe ihm gerade um den Konnex von Welt- und (mitgesetztem) Gottesverhältnis des Menschen. "Interpretiert man Blumenberg rein mit dem Gedanken der Rivalität Gottes [...], dann wird zu leicht vergessen, dass er das Theorem des Gott-Menschen sehr ernst nimmt und quasi zur Voraussetzung macht für eine letzte Ausgewogenheit (Balance) der Rivalität von Gott und Mensch" (145).

Erst auf dem Hintergrund der Metaphorologie seien B.s Neuzeitstudien verständlich (133.145 ff.157). Unter der Figur Kopernikanische Übergänge zeigt H., wie B. bereits seit seiner Habilitation über die Ontologische Distanz im Anschluss an Husserl und Landgrebe die Phänomenologie "in die Geschichte" (154) zurückführt und aus ihr heraus versteht. B.s Phänomenologie der Geschichte (149 ff.157 ff.) exploriert die Epochey als "Metapher für die Wirklichkeit und deren zeitlicher Verfaßtheit" (149) wie als "Metapher der geschichtlichen Konstitution des Menschen selbst" (156). Verstand sich erst die Neuzeit als Epoche, zielt B.s Frage nach der Epochenschwelle auf die Erinnerung an das Mittelalter als unvergesslichen genetischen Horizont der Neuzeit wie auf deren Erblasten. Das Pathos der Neuzeit fordere daher "den Schöpfungsernst des Menschen als Verantwortung heraus" (160), was H. theologisch affirmiert. Denn um die Legitimität der Neuzeit zu erweisen, operiere B. mit einem Subjekt- und Freiheitsbegriff, die ein "Verständnis von Erlösung" implizierten, "wie es [...] eine ausgewogene Christologie vorzubringen hätte" (160).

Die Genesis der kopernikanischen Welt liest H. als B.s "Metapher für die Methode der Metaphorologie selbst" (168). Einerseits ist die kopernikanische Wende in geschichtsphänomenologischer Perspektive der bedingte Anfang der Neuzeit, da im neuen Weltsystem ein neues Selbstverständnis des Menschen liegt, und zwar seine schöpferische Konstruktion mit Wahrheitsanspruch gegen die metaphysische Wahrheit zu setzen. Andererseits wird dieses kulturgeschichtliche Epochenereignis zur orientierenden Metapher für die Selbstauslegung der Neuzeit bis hin zu B. und sogar zu H. selbst. Denn er vertritt, dass B. "im Akt neuzeitlicher Selbstbehauptung die creatorische Position des Menschen radikal ernstnimmt, indem der Mensch die Geschichte zur Entlastung Gottes macht" (179).

H. liest B.s Theologiekritik auf diese Weise nicht im Zeichen eines Atheismus, sondern als polemische Seite der Suche nach einem Gottesverständnis jenseits einer metaphysischen Entstellung. H. seinerseits meint, die neuzeitliche Autonomie sei "die Kehrseite eines Schreis nach Gott, der nicht jenseits der Geschichte thront, sondern sie selbst an sich erträgt und erleidet" (169, vgl. 207). Diese theologische Affirmation der Neuzeit gerät aber erstens in Konflikt mit der einschlägigen Kritik B.s in LN, zweitens ist sie hermeneutisch problematisch, denn damit wird dem Autonomiepathos womöglich zuviel unterstellt, und drittens ist fraglich, ob denn die Neuzeit theologisch so eindeutig zu affirmieren ist (auch angesichts der Kritik der neuzeitlichen Autonomie seitens Levinas etc., die doch zum anderen Hintergrund H.s gehört). Wenn B.s Gnosiskritik den Menschen "zum Kyrios der Welt" "inthronisiert" (252, vgl. 30), wäre zumindest die Ambiguität dieser Umbesetzung zu erörtern (wie des Titels Kyrios der Welt).

Diesen Aspekt weiterführend untersucht H. die frühe Cusanusinterpretation B.s (Die Kunst der Vermutung, 181 ff.; diese Perspektive vom frühen B. her wird hier für sein gesamtes Werk leitend, vgl. 229 f.). "Metaphorologie ist erweiterte ars coniecturalis" (183), indem sie die cusanischen Vermutungen über die Unendlichkeit von Welt und Gott in Gestalt der Sprengmetaphern ausführt (z. B. sphaera infinita, 187 ff.). Vor allem dessen Prinzip der essentiellen Ungenauigkeit aller endlichen Erkenntnis, seine Skepsis und sein Perspektivismus antizipieren B.s Prinzip des unzureichenden Grundes. Wie Kopernikus so wird Cusanus für B. "zur Metapher für die Möglichkeiten neuzeitlichen Welt-Verhaltens" (189, vgl. 198 ff.). Wie er die Transzendenz Gottes steigert, so rückt der Mensch an sie heran, indem er zum legitimen Schöpfer seiner kulturellen Welt wird. Und eben dies sei nach B. eine Freisetzung (theologisch legitimer) humaner Selbstbehauptung des homo creator (195 ff., 202 ff.). Dessen Selbstentfaltung gilt cusanisch als explicatio Gottes, der dazu des Menschen bedarf (200 ff.). Der "Gewinn" dieser anthropologisch zugespitzten Cusanuslektüre sei die antidualistische Ausbalancierung von Schöpfungslehre und Christologie (206 f.). Denn die Selbstbeschränkung Gottes in der contractio ist zugleich eine Intensivierung der Welt, so dass die Christologie als kosmologische Vollendung der Schöpfung gelten könne (vgl. 211 f.). H. folgert daraus: "Deshalb kann Blumenbergs Einspruch [gegen die These der Illegitimität der Neuzeit] nur schöpfungstheologisch motiviert und christologisch finalisiert sein" (209, vgl. 212; das nur geht m. E. zu weit).

Die Folgen für das Gottesverständnis interpretiert H. einerseits als B.s Kritik am Gott der Philosophen (215 ff., auf den allein der Tod Gottes zu beziehen sei, 216), andererseits im "Rückgang auf die jüdischen Wurzeln" (214), die die "Weltverstrickung Gottes" zu denken ermöglichen (213 ff.). B.s Versöhnung ziele auf die "Balance von Gottheit und Menschheit" (219) in der leiblichen Verstrickung Gottes in die Welt als "Kompensation eines göttlichen Evidenzmangels" (Matthäuspassion, 126). - Wenn B. eine "Entschärfung der Soteriologie [...] durch die Stärkung des Schöpfungsgedankens" betreibt (224, vgl. 243), wird H.s These der Ausbalancierung allerdings fraglich. Und wenn die Inkarnation Vollendung der Schöpfung sei, warum dann ein "Scheitern Gottes" (ebd.) und nicht auch dessen Vollendung? So würde H.s (oder B.s?) Umkehr der Abhängigkeit von Gott und Mensch einseitig, wenn die Weltverstrickung lediglich zur notwendigen Anerkennung des Menschen durch Gott geriete (226 ff.).

H. erörtert B.s komplexe Umbesetzung der theologischen Architektur, indem er dezidiert vom frühen B. her extrapoliert. Nur unterlässt H. die Rückfrage an B., ob er nicht Soteriologie in Gänze perspektivisch verkürzt als Anfang der Gnosis (vgl. 226 u. ö.). Wenn B. jede soteriologische Interpretation des Kreuzes als doketisch angreift, zumal die Auferstehungsverkündigung, reduziert er jeden Versuch, die Bedeutung des Kreuzes auszusagen, auf eine Ausflucht vor dessen Härte. Die ganze Arbeit an der Balancierung von Schöpfung und Erlösung scheint dann fixiert auf den soteriologischen Ausnahmezustand des Dualismus.

3. H. versteht B.s Antignosis als eine Lebenshaltung der "Opposition gegen jedwede Einseitigkeit" (245, vgl. 249.276 ff. 284 f.), die sich konkretisiert als Doketismus- und Dualismuskritik (272 ff., dazu wären Differenzierungen angesichts der neueren Gnosisforschung angebracht). Die hier indirekt thematische "theologische Spitzenfrage" sei das Verhältnis von Schöpfung und Erlösung wie von Welt und Zeit (247 f.), die H. mit B. schöpfungstheologisch (255 ff.) gegen einen Primat der Erlösung zu entscheiden sucht. H. scheint (wie B.) Apokalyptik und Eschatologie zu identifizieren, die beide Heil nur gegen den Bestand der Welt erwarten könnten und damit latent gnostisch seien (250 f. ; vgl. 264 f.267, aber 270). - So gerät (zu Unrecht) jede Theologie in Gnosisverdacht, die eine "soteriologische Weltdeutung" vertritt (263, vgl. 305.272 ff.).

B.s Antimarcionitismus sei eine Kritik des Dogmas zur Vermeidung von Eindeutigkeit und Exklusivität um der humanen Pluralität willen, und darin sieht H. einen "Testfall von Religion und Humanität" (285). B. verfolge die "Stiftung von Bedeutsamkeit" (291 ff.) im Ethos gegenseitiger memoria zur Intensivierung der Zeit. Damit werde es möglich, Ausnahmezustände zu vermeiden, die für politische Theologien kennzeichnend seien. H. expliziert die Bedeutsamkeit mit Dilthey und Rothacker als sinngebende Relation von jedem Teil des Lebens zu seinem Ganzen, die sich in prägnanten Gestalten artikuliere (298ff.). Dazu bedürfe es der "Bilder, um zu leben" (301 ff.). Statt eines Seins zum Tode ziele B. damit auf eine kulturelle Weltstiftung, die H. als creatio continua auslegt (307).

4. Im Kapitel "Zeit" (309 ff.) gipfelt H.s Frage nach der Balance von Welt und Zeit als Arbeit an dem Verhältnis von Schöpfung und Erlösung. Gegen Heideggers fundamentalontologische Frage nach Sein und Zeit entfalte B. im Anschluss an Husserl eine fundamentalethische Perspektive auf die Zeit. Um die zu entfalten, gilt es, die Diachronie im Subjekt aufzuspüren, dessen Zeitlichkeit "Ein-außerhalb-des-Subjektes-sein" impliziere (312, mit Levinas). Grundlegend dafür sei die Zeiterfahrung als Zeitwiderfahrnis, dem eine "Phänomenologie des das Bewußtsein Bedrängenden" nachgehe (315). So sei das "Betroffensein" etwa in der Urimpression des Schreckens die "Geburt von Subjektivität" (ebd.). Der Spur der Diachronie geht H. beim späten Husserl nach, dessen Phänomenologie des synchronen Zeitbewusstseins bereits zur Entdeckung einer Vergangenheit des Subjekts führt, die nie meine Gegenwart war. Diese Vorvergangenheit sei das "Fremde in mir, das Andere im Selben" (318), was in den Analysen zur passiven Synthesis ausgeführt wird.

Angesichts der nie einzuholenden Differenz zum vorvergangenen Ursprung gehe es um eine "Differenzüberbrückung", um sich in der Lebenswelt einzurichten. "Einrichten heißt [...] Für-den-Anderen-sein, weil das Subjekt ohne den anderen die Differenz von Lebenswelt und [...] Zeitbewußtsein [...] nicht schließen kann" (320, warum Fürsein?). Das sei allein in der memoria möglich (323 ff.) im "Rückgang auf das Scherengelenk" (327): die intersubjektive Fremderfahrung (328 ff.). Die Memoria sei Vermittlungsmodus der Intersubjektivität, "die dem einzelnen im Für-den-anderen-sein [...] eine Dauer garantiert" (332). Wie in der memoria der Gleichgültigkeit der Welt widerstanden werde, so ereigne sich hier die Reifung der Subjektivität, "seine Welt die Welt werden zu lassen" (334, B.). Diese passive Genesis bricht aber angesichts des Todes: Auch wenn auf die memoria der Zukünftigen gehofft wird, ist das eine "Hoffnung ohne Eschatologie" (339). Diese Hoffnung setzt nicht auf die Zukunft, sondern auf das untilgbare Gewesensein absoluter Vergangenheit (342). In der Proportionalität von Selbstbeschränkung (als Reifung der Subjektivität) und Intersubjektivität finde die cusanische "Korrelation von Schöpfung und Christologie [...] ihr zeitliches Pendant" (357).

Als prägnante Gegenprobe erwägt H. "Warum der Teufel keine Zeit hat" (340 ff.): Es ist der Teufel (am Beispiel Hitlers), der dem Wahn verfallen ist, die Kongruenz seiner Lebenszeit mit der Weltzeit herbeizuzwingen, in totalem Egoismus. Dem zu Grunde liegt das mythische Muster der Apk 12,12, der Teufel weiß, dass er wenig Zeit hat, das B. variiert als "Enge der Zeit ist die Wurzel des Bösen" (348). Dementgegen sei der Zeitverzicht in der memoria des Anderen ein Nachvollzug der Selbstbeschränkung Gottes in der "Zeitverschwendung für [!] den anderen" im "Mit[!]-sein-mit-anderen" (350, vgl. 355). H. geht so weit, in B.s Memoriakonzept "eine Neubuchstabierung der Botschaft Jesu" zu sehen (352).

H. geht in theologischer Lesart sogar noch weiter: B.s "Memoriakonzept intendiert [!] eine Christologie, die deswegen kosmologisch zu nennen ist, weil sie die andere Seite des Schöpfungsaktes selber abbildet", denn in der Selbstverschwendung an den Anderen im Lebenszeitverzicht zu dessen Gunsten verabschiede sich das Subjekt davon, Maß aller Dinge zu sein (358, vgl. 367). Die Urstiftung des Subjekts gründe im "Bedürfen des anderen" als "konstituierende[r] Passivität" des Subjekts (361). Final ziele der Anspruch des Einzelnen, nicht vergessen zu werden, bei B. auf die Hoffnung der Allversöhnung (356. 360, vgl. 370 ff.).

5. B.s Phänomenologie geschichtlicher Lebenswelten rekonstruiert H. unter dem Aspekt der memoria als phänomenologische Thematisierungskunst. In diesem Modus vollzieht B. zugleich, wovon er handelt, von der memoria als Horizont kulturell gemeinsamer Welt, ohne alles in der Präsenz zu versammeln. Denn diese memoria ist keine Totalisierung, sondern ursprünglich diachron aufgrund der Asymmetrie von alter und ego. Sie antwortet auf den Anspruch des Anderen, nicht vergessen zu werden, und ist damit ein Modus responsorischer Vernunft (im Sinne von B. Waldenfels). Damit bildet sie eine Gegenfigur zur angeblichen Dominanz des Selbstbehauptungstheorems bei B., mit der H. die Konsequenzen aus B.s Einsicht in die Sinnlosigkeit der Selbstbehauptung expliziert.

Allerdings riskiert H.s Interpretation, gegen eine "Theologie mit soteriologischem Übergewicht [...] die Möglichkeiten des Verhältnisses von Schöpfer und Geschöpf [zu] optimieren und in eine Balance [zu] bringen" (366), einen hamartiologischen Doketismus, um die Inkarnation gänzlich ohne Sünde zu denken, wie B. in der Matthäuspassion vorschlägt. Indes lautet ein gegenläufiger Vorschlag B.s, die Sünde als Arbeit gegen die Enge der Lebenszeit, final gegen den Tod, zu verstehen. Auch wenn das die kleine aber feine Häresie kostete, den Tod zur Schöpfung zu zählen, ermöglichte es eine genetische Phänomenologie der Sünde - und das wird von H. leider nicht aufgenommen.

H. geht m. E. deutlich über B.s Texte hinaus, einerseits mit dem anderen Hintergrund jüdischer Religionsphilosophie, andererseits in eigener Perspektive, indem B. sehr weitgehende theologische Thesen angesonnen werden. Das Memoriakonzept als Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Schöpfung und Erlösung zu interpretieren - gleichsam als implizite kritische Pneumatologie - und final sogar eine Tendenz zur Allversöhnung zu vermuten, ist eine unbeweisbare und wohl auch bezweifelbare Lesart. Aber trotzdem ist diese B.-Lektüre in religionsphänomenologischer wie theologischer Perspektive möglich und erhellend. Wenn hier von der Interpretation i. e. S. zum theologisch verantwortlichen Gebrauch B.s fortgeschritten wird, ist das hermeneutisch legitim und angesichts der nachgewiesenen Indizien in den Texten allemal plausibler, als eine pagane Lesart B.s. Die Schwäche einer selbst zu verantwortenden Interpretation ist schließlich auch deren Stärke: Sie bleibt möglich, auch wenn biographische Belege einst gegen sie sprechen sollten; und sie bleibt theologisch anregend und weiterführend, anders als der Mainstream einer pointenlosen Enttheologisierung.