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Ausgabe:

Juli/August/2002

Spalte:

784–786

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Lambert, Malcolm

Titel/Untertitel:

Häresie im Mittelalter. Von den Katharern bis zu den Hussiten. Übers. aus dem Englischen von R. Niemann.

Verlag:

Darmstadt: Primus/Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2001. XVI, 533 S. gr.8. Lw. ¬ 68,00. ISBN 3-89678-184-7.

Rezensent:

Lutz E. v. Padberg

"Die Geschichte der mittelalterlichen Häresie ist im Grunde eine Geschichte des Scheiterns, denn keine einzige der Ketzerbewegungen setzte sich mit ihren Positionen wirkungsvoll und erfolgreich in der westlichen Kirche durch, noch gelang es ihnen, Toleranz für ihre Auffassungen und Praktiken zu finden" (XI). Widerruf, Auslöschung oder Flucht in den Untergrund, das waren die Alternativen für diejenigen, die sich aktiv gegen die Festlegung der Kirche, was zu glauben sei, sperrten. Dabei lag das Problem genau darin, wer denn die Entscheidungsbefugnis für die Ausgestaltung der Beziehung zwischen Gott und Mensch hatte. Seit dem bahnbrechenden Werk "Rechtgläubigkeit und Ketzerei im ältesten Christentum" (1934; 2. Aufl. mit einem Nachwort hrsg. von G. Strecker [Beiträge zur historischen Theologie, 10], Tübingen 1964; von Lambert nicht benutzt) von Walter Bauer ist bekannt, dass Häresien eben nicht nur Abfallprodukte der rechten Lehre und damit sekundär waren, sondern dass sich die vermeintlich originäre Orthodoxie nicht zuletzt erst durch die nachhaltige Unterstützung der politischen Gewalt durchzusetzen vermochte. Das macht die Einschätzung schwierig, zumal wenn Machtinteressen mit ins Spiel kommen. Wenn also überhaupt eine Häresie festgestellt werden soll, müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein: Es muss eine in verbindlichen Lehrsätzen formulierte Glaubenswahrheit geben, es müssen Kriterien für die Feststellung der Abweichung existieren und es muss eine Instanz vorhanden sein, die diese erkennt und die für notwendig erachteten Maßnahmen ergreift. Anders als bei Schisma und Apostasie wollen indes die Abweichler in der Regel die Kirchengemeinschaft nicht aufkündigen, weil sie davon überzeugt sind, dass nicht sie, sondern die Kirche selbst von dem rechten Pfad der Lehre abgewichen sei. "Reform und Häresie waren Zwillinge" (405). Das alles verkompliziert die Sache und fordert behutsames Vorgehen, zu dem man freilich im Mittelalter nur selten fähig oder willens war.

Behutsames Vorgehen ist auch von heutigen Wissenschaftlern zu verlangen, denn "jede Studie über die mittelalterliche Häresie leidet unter dem Mangel an ursprünglichem Quellenmaterial, das von den verurteilten Häretikern selbst stammt" (XIV). Zurückgreifend auf ein von den Kirchenvätern stammendes Schema konventioneller Eigenschaften der typischen Ketzergestalt (die Begriffe Häretiker und Ketzer werden von Lambert synonym benutzt) ordnete die Kirche jedwede Häresie schnell dem Teufelswerk zu, und dessen Schriften verfielen ebenso der damnatio memoriae wie ihre Verfasser. Dementsprechend stammen unsere Quellen über häretische Bewegungen größtenteils von den unterdrückenden Instanzen und sind von entsprechenden Deutungsmustern geprägt. Das macht die Arbeit des modernen Historikers nicht einfacher, denn "er muß die Schichten von Konvention und Vorurteil in seinen Originalen Schicht um Schicht abtragen, um ein genaues Bild von den Häretikern zu erhalten" (3).

Dieser komplizierten Aufgabe unterzieht sich der an der Universität Bristol Mittelalterliche Geschichte lehrende Malcolm Lambert mit Bravour, und schon deshalb ist es zu begrüßen, dass sein 1992 unter dem präziseren Titel "Medieval Heresy. Popular Movements from the Gregorian Reform to the Reformation" erschienenes Werk nun auch in deutscher Übersetzung vorliegt. Dabei handelt es sich keineswegs nur um eine bloße Übersetzung, sondern dankenswerterweise um eine wirkliche Neubearbeitung. Denn unter intensiver Beachtung der Fortschritte der Forschung hat L. sich die Mühe gemacht, diese einzuarbeiten und war dabei sogar bereit, eigene alte Sichtweisen aufzugeben und ganze Kapitel neu zu schreiben, eine nicht häufig anzutreffende Offenheit. L. schreibt als Historiker, ausdrücklich nicht als Theologe. Demzufolge folgt er ohne Wertungen den Auffassungen des Papsttums, beschreibt aber die theologischen Ansichten der Abweichler kenntnisreich und präzise. Ausgewiesen durch zahlreiche einschlägige Publikationen (etwa "The Cathars", Oxford 1998; Übersetzung "Die Katharer", Darmstadt 2001, so 415, Anm. 1, 436, Anm. 1 mit der Jahresangabe 2000; L. zitert nach der 2. engl. Aufl., ohne deren Erscheinungsjahr anzugeben, was für deutsche Benutzer ungünstig ist), gelingt es L. in zwanzig Kapiteln von unterschiedlicher Dichte, in flüssigem Stil die Entwicklung nachzuzeichnen, stets darum bemüht, die hinter den verurteilenden Quellen liegende Wirklichkeit aufzudecken und die tragische Dialektik offen zu legen, die aus der guten Absicht wohlmeinender Kritiker durch verständnislose Zurückweisung und Verfolgung schließlich tatsächlich Häretiker werden ließ. Aufmerksam geht er allen erreichbaren Spuren nach, um den Abweichlern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Zumal durch die erforderliche Berücksichtigung politischer wie wirtschaftlicher Umstände lässt er die Zeitläufte für den Leser lebendig werden und vermittelt einen auch für die Gegenwart nützlichen Eindruck von den Gefahren allzu einseitiger Denkstrukturen.

L. setzt nach einem zu kurzen Blick in das Frühmittelalter (an nicht einleuchtender Stelle 25-27 eingestreut auf dünner Literaturbasis; Gottschalk der Sachse wird nicht einmal erwähnt) ein mit dem Wiederaufleben der Häresie im Westen im 11. Jh. Nach einer Zeit erstarrter Religiosität schufen theologische Schulen, monastische Erneuerungsbewegungen, allmählicher Bildungserwerb von Laien sowie gesellschaftliche Differenzierungsprozesse die Voraussetzungen für kommende Spannungen. Vor allem das Katharertum war es dann, das bis zum Kreuzzug von der Kirche feindselig bedrängt wurde, weil es eine tiefgreifende "dogmatische Herausforderung für den Katholizismus darstellte, ganz und gar eine Gegenkirche mit ausgeprägter Hierarchie und Riten war und in gewissem Sinne deutlich das Wiederaufleben einer antiken Häresie verkörperte" (407). Mit den Waldensern verhielt es sich anders, denn sie wollten den Bruch mit der Kirche nicht, sondern strebten lediglich danach, auch als Laien das Evangelium in der Volkssprache verkündigen zu dürfen. Nicht ohne Grund sind sie die einzige mittelalterliche Häresie (aus Sicht des Papsttums!), die sich vom 12. Jh. an bis heute erhalten hat. Nach anfänglicher Schwäche lernte die Kirche rasch dazu und fand seit Innozenz III. zu durchschlagenden Gegenmaßnahmen, wobei sich die Dämonisierung der Häretiker als probates Mittel erwies, konnte man so doch leicht Akzeptanz für inquisitorische Aktionen erreichen. Einleuchtend werden so die Rituale der Auseinandersetzung am Beispiel verschiedener Bewegungen analysiert. L.s Augenmerk gilt vor allem zunächst den Katharern und Waldensern, sodann im Spätmittelalter John Wyclif und den englischen Lollarden sowie dem Hussitentum. Der Oxforder Gelehrte Wyclif etwa wurde zum Radikalen, weil er die stillschweigende Gleichsetzung von Bibel, Tradition und Kirchengesetz bestritt, die Heilige Schrift als einzige Autorität anerkannte und durch ihre Übersetzung dafür sorgte, "daß der bloße Bibeltext mit seinem gefährlichen häretischen Potenzial in die Hände von jedermann gelangen konnte, der daran interessiert war, ihn selbst zu lesen" (251). Damit war der Weg zur Reformation offen, die zwar die Definition von Orthodoxie veränderte, nicht aber den Willen von Katholiken und Protestanten, "ihre Bedeutsamkeit geltend zu machen und die Macht des Staates einzusetzen, um den Widerspenstigen ihre jeweiligen Glaubensauffassungen aufzuzwingen" (411). Häresie war, wie sich zeigen sollte, eben nicht nur ein Thema des Mittelalters.

L.s gut ediertes Buch ist ausgestattet mit einigen Landkarten, einem hilfreichen Häretiker-Glossar sowie Personen- und Sachregister. Überaus gewöhnungsbedürftig ist der Aufbau der Anmerkungen. Da es nur eine kurze Auswahlbibliographie gibt, muss der Leser das Personenregister bemühen und wird von dort auf eine Anmerkungsnummer verwiesen. Manche Titel findet er dort immer noch nicht, weil sie nur über ein höchst merkwürdiges Abkürzungsverzeichnis erreichbar sind. Dem wissenschaftlichen Benutzer nötigt dieses unübliche Verfahren ständiges Hin- und Herblättern auf. Das ist zeitraubend und ärgerlich, zumal das Buch als Einführung für Studenten und Nachschlagewerk für Wissenschaftler gedacht ist. Bei einer solchen Zielsetzung (XI ausdrücklich genannt) gehören die Anmerkungen ohne ein kompliziertes Verweissystem grundsätzlich unten auf die Seite. Das ändert jedoch nichts daran, dass L.s Arbeit bald zu einem Standardwerk avancieren wird.