Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/2002

Spalte:

782–784

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Fried, Johannes

Titel/Untertitel:

Aufstieg aus dem Untergang. Apokalyptisches Denken und die Entstehung der modernen Naturwissenschaft im Mittelalter.

Verlag:

München: Beck 2001. 262 S. 8 m. Abb. Lw. ¬ 22,50. ISBN 3-406-48209-0.

Rezensent:

Volker Leppin

Nach dem umfassenden Überblick über Deutschlands "Weg in die Geschichte" (1994) hat der Frankfurter Mediävist Johannes Fried nun einen gelehrten Essay von bewusster und gekonnter Einseitigkeit vorgelegt: Apokalyptisches Denken, so die vor allem narrativ plausibel gemachte These, habe zumindest entscheidenden Anteil an der Entstehung modernen naturwissenschaftlichen Denkens.

Überaus anschaulich und auf Grundlage reichen Materials stellt F. die umfassende Prägung der mittelalterlichen Gesellschaft durch das Bewusstsein vom Ende dar: "Die gesamte Gesellschaft [...], ihr politisches Ordnen und Planen, ihre Soziallehre und Menschenkunde, ihr Wahrnehmen, ihr Wissen und ihr Weltbild, ihre Seelsorge waren eschatologisch infiziert" (37f.), so konstatiert F. und immunisiert die Aussage gleich gegen relativierende Einwendungen, wenn er feststellt, dies gelte auch dort, wo dergleichen nicht explizit werde.

Diese Schilderung allerdings bildet bloß den Hintergrund für die eigentliche These, dass es dieses apokalyptische Bewusstsein gewesen sei, das Potenziale zur naturwissenschaftlichen Erkenntnis der Welt freigesetzt habe. Der Gedanke, Apokalyptik als Stimulans der Erkenntnis zu interpretieren, hat spätestens seit der beiläufig auch von F. herangezogenen großen Studie "Prophecy and Gnosis" von Robin Barnes über lutherische Apokalyptik seinen festen Platz in der Apokalyptikforschung. F. aber legt auf dieser Grundlage nun beinahe einen Gegenentwurf zu Blumenbergs "Legitimität der Neuzeit" vor: Die Neuzeit wird nicht als humane Selbstbehauptung im Protest gegen einen angeblichen theologischen Absolutismus des späten Mittelalters verstanden, sondern die Wurzeln liegen zeitlich ferner und theologisch tiefer. Weil apokalyptisches Denken - ganz deutlich in der synoptischen Apokalypse - der Natur eine zeichenhafte Struktur auf das Ende hin unterlegt, wird naturwissenschaftliches Denken ein Mittel, Gottes Willen besser zu verstehen; am deutlichsten werden solche Zusammenhänge in Fragen der Astrologie oder der Komputistik.

Diese Beobachtungen sind reizvoll und überaus produktiv. Allerdings wird man fragen müssen, ob der überhaupt nicht zu bestreitende Zusammenhang zwischen Apokalyptik und naturwissenschaftlicher Welterklärung im Mittelalter wirklich einseitig in dem Sinne zu verstehen ist, dass eschatologisches Denken den "Stachel, der zu endloser Forschung trieb", dargestellt habe (185) oder ob nicht umgekehrte Formulierungen, nach denen apokalyptisches Denken das Wissenschaftliche aufgesogen, integriert, gehandhabt und sich auf es berufen habe (74), angemessener sind.

Diese Frage ist um so mehr zu stellen, als F. seine These auch dadurch so konsistent darstellen kann, dass ihn der gewählte essayistische Stil der Notwendigkeit zu abwägendem Argumentieren enthebt. Dass er nur einen Schlüssel zum welthistorischen Aufstieg des Westens biete (190), erklärt er zwar gegen Ende, der Duktus des Ganzen lässt diese Relativität aber nur sehr selten erkennen.

F. wird sich dabei auch nicht jeder gegenläufigen Frage durch den oben erwähnten Hinweis entziehen können, dass eben Apokalyptik auch dort präsent sei, wo sie unthematisch ist. Und solche Fragen stellen sich einige: Ist nicht etwa im Zusammenhang der Genese des naturwissenschaftlichen Denkens dem institutionengeschichtlichen Fundamentalvorgang der Entstehung der europäischen Universität mehr Gewicht zuzumessen, als es in diesem in seinen Fragestellungen stark von den frühmittelalterlichen Verhältnissen geprägten Entwurf geschehen kann? Müsste nicht die Sicherung gegenüber der Endzeitangst durch wissenschaftliches Denken wenigstens in ein Verhältnis gesetzt werden zu primär religiösen Absicherungsstrategien wie dem Bußsakrament und dem ihm zugehörigen Ablass? Und ist das apokalyptische Denken über die Jahrhunderte wirklich so unveränderlich, dass man in der Wahl der Beispiele von Botticelli zum Münsteraner Täuferreich, von hier zu Innozenz III. (34), wenig später aber zu Thietmar von Merseburg und Savonarola (37) springen kann?

Solche beliebig vermehrbaren Einwendungen können nur andeuten, dass das Werk seine zunächst sehr unmittelbare Überzeugungskraft neben dem souveränen Stil des Verfassers auch der Einebnung von Differenzen nicht unerheblicher Art verdankt. Dergleichen findet sich freilich bei so manchem großen Wurf der Geschichtswissenschaft. Und um einen solchen handelt es sich hier ohne Zweifel.