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Ausgabe:

Juli/August/2002

Spalte:

779–782

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Flasch, Kurt

Titel/Untertitel:

Nicolaus Cusanus.

Verlag:

München: Beck 2001. 181 S. 8 m. 4 Abb. Kart. ¬ 12,50. ISBN 3-406 45975-7.

Rezensent:

Klaus Kremer

Knapp drei Jahre nach Erscheinen seines großen Cusanusbuches Ende des Jahres 1998 (vgl. dazu meine Rez. in: ThLZ 124, 1999, 410-415) liegt seit Mitte des Jahres 2001 ein weiteres Cusanusbuch von K. Flasch vor, sein "drittes Buch über Nikolaus von Kues" (Vorwort). Das Buch ist "keine Kurzfassung" seiner beiden früheren Cusanus-Bücher", sondern "neu und frisch geschrieben" (ebd.). In der Tat: Das Buch ist sehr gut abgefasst. F. versteht es vorbildlich, auf der Grundlage der nicht gerade leichten Schrift De beryllo vom August 1458 dem Leser auch die schwierigen Gedankengänge des Cusanus verständlich zu machen, ihn sogar zum Mitphilosophieren anzuregen, ja fast mitzureißen. Erneut erweist F. sich als ein Meister in Didaktik, Darstellung und Diktion, wobei seine umfangreichen und gründlichen Kenntnisse in der Philosophiegeschichte ihm bestens zu Hilfe kommen.

Ziel des Buches ist, "die Gedanken des philosophischen Reformers rein darzustellen" (11) bzw. "vom historischen Nikolaus von Kues zu sprechen" (23; vgl. 62.163). In ihm erblickt F. zu Recht wohl den bedeutendsten Denker des 15. Jahrhunderts (12). In einem damit arbeitet F. auch das Ziel des Denkers Nikolaus von Kues (= NvK) heraus, nämlich "eine Reform des gesamten Wissens" (12) durchzuführen. "Er wollte nicht Traditionen wiederherstellen, sondern Neues und Unerwartetes sagen" (13; vgl. 27), wobei sich im Laufe von F.s Untersuchung zeigen wird, wie äußerst differenziert man das Verhältnis des NvK zur Tradition sehen muss. Man schaue sich nur mal die treffenden Bemerkungen an, die F. etwa zum Verhältnis des NvK zu Aristoteles (56 f.61 f.70 f.75.107.112-119.127-132. 153) und zur platonisch-neuplatonischen Tradition macht (12.33.37 f.49 f.55 f.57 f.61 f.75.81 f.111.127.143.147 f.). F. spricht im Sinne von J. Koch u. a. sehr schön von einer "aneignende(n) Interpretation der Tradition" durch NvK (62 u. ö.). Eine platte Übernahme der Tradition kam für diesen an Vorgegebenes stets anknüpfenden, aber auch jedes Mal über die Anknüpfungspunkte hinausgehenden originären Denker nicht in Frage.

Im ersten Teil seines Buches (31-94) behandelt F. die vier Hauptsätze der Schrift De beryllo: 1. Der Weltgrund ist Einheit und Geist und will sich freudig mitteilen (34 f. u. ö.), worin wir "die Philosophie des Cusanus in nuce" haben (34). 2. "Alles, was ist, ist entweder wahr oder dem Wahren ähnlich. Was nicht wahr oder dem Wahren [nicht] ähnlich ist, kann auch nicht sein" (49-62). 3. "Der Mensch ist das Maß aller Dinge" (66- 76). 4. "Der Mensch ist ein zweiter Gott" (77-94). Bei der Ausführung dieser vier Thesen kann man eine Menge von F. lernen. Ich erwähne beispielhaft lediglich die gute Herausstellung der Finalität in Bezug auf den weltbegründenden Intellekt bei NvK (61.63.66.68 f.71.72.73.75.108.115.122), die dieser im Unterschied zu seinen Vorgängern endlich "kohärent" (75) durchführt.

Der zweite Teil von F.s Buch (96-167) bringt dann die Koinzidenzlehre und deren Konsequenzen, unter dem Titel "Sein und Wesen" die cusanische Beantwortung der alten Frage, was das Seiende als Seiendes sei (115-122), die verschiedenen Gliederungen der Welt nach NvK (123-132) und, für jeden Leser und Interpreten von De beryllo eine Hilfe, die genaue Aufgliederung dieser Schrift selbst (132-136). Eine Charakterisierung des cusanischen Denkens (138-144) und der sehr instruktive Abschnitt über die Wirkungsgeschichte des cusanischen Denkens beschließen das verdienstvolle Buch, das mit einer von biographischen Notizen durchsetzten Einleitung (11-29) eröffnet wird.

Im zweiten Teil meiner Rez. möchte ich nun doch mehrere konkrete Punkte ansprechen. Dass die Koinzidenz in allen Bereichen der Wirklichkeit aufzudecken ist, legt F. begründet dar. (Ich darf in diesem Zusammenhang auf meinen in den Akten des spanisch-portugiesischen Cusanus-Kongresses [5.-9. Nov. 2001] erscheinenden Aufsatz verweisen: "Konkordanz und Koinzidenz im Werk des NvK. Gemeinsamkeiten und Unterschiede", der in diesem Jahr publiziert werden wird.) Er unterscheidet ferner die schwächere Form der Koinzidenz in der Tradition (24.45.98), wonach alle in der Welt entgegengesetzten Bestimmungen in ihrem Grund in eins fallen, von ihrer starken, von NvK beanspruchten Form: nämlich dem Ineinsfall der contradictoria (24.44 f.55.98 f.). Cusanus geht sodann auch darin über die Tradition hinaus, indem er nicht nur das Viele auf ein Eines zurückführt, sondern indem er zugleich "zeigt, dass der Schritt vom Vielen zum Einen durch den Zusammenfall des Maximum mit dem Minimum hindurchgehen muß, um nicht selbst in Gegensätzen, wie sie für das Begründete charakteristisch sind, steckenzubleiben" (44; vgl. 37.58 f.63.96.97 f. 106.109.113.131.136). Die Koinzidenz wird damit "zu einem universalen Erkenntnisverfahren" (59; vgl. 96 f.104.108.132. 137.166), worin dann auch die nichtgöttliche Wirklichkeit eingeschlossen ist. Übersehen hat F. (22.146), ebenso wie M. Thiemel in seinem Buch Coincidentia vom Jahre 2000, dass zwar nicht das Substantiv coincidentia, wohl aber das Verb coincidere auch in De pace fidei vorkommt, wenn auch nur einmal, h VII: N. 29; S. 31, 1 f.: nam habere in Deo coincidit cum esse. (In De docta ign. kommt das Substantiv auch nicht vor.) - F.s Ausführungen zur ganzen Breite des Erkenntnisbegriffes nehme ich insgesamt zustimmend zur Kenntnis, gerade auch das von ihm stets hervorgehobene "negative Sehen" bei NvK (39.43. 55.76.84.93.143 u. ö.), das ein Sehen des Vorausgesetzten (25) und daher kein Deduzieren (142) ist. Die Bemerkung von NvK in De docta ign. (I 24: N. 76, 4 f.), dass die ratio weit geringer (multo inferior) als der intellectus sei, macht doch (gegen F. 24) wohl deutlich, dass Cusanus sich bereits 1440 des prinzipiellen Unterschiedes von ratio und intellectus bewusst war, wenn er die Unterscheidung in dieser Schrift auch nicht konsequent durchgehalten hat. Vgl. an weiteren Belegen hierzu I 4: N. 12, 18-25; I 10: N. 27, 11-15; III 6: N. 215, 4-6 u. J. Hopkins, Teil 1 der Übers. der Werke des NvK (Minneapolis 2001) S. 50, Note 24. - Die mens ipsa, in dem Buch von 1998 noch als gleichsam eine eigene Instanz zwischen göttlichem und menschlichem Geist aufgebaut, ist nunmehr auf den Boden der cusanischen Wirklichkeit heruntergeholt worden (vgl. 86-88). Gut skizziert ist Nähe und Distanz des NvK zu Kant (69 f.).

F. berührt vier Konstanten im cusanischen Denken: a) das Wissen des Nichtwissens (55; vgl. 68.76.84), b) seit 1438 den Koinzidenz-Begriff (96), obwohl dieser, und das ist doch zu F. kritisch anzumerken, in den (z. T. großen) Spätschriften Crib. Alk., De ven. sap., De ludo, Comp., De apice theor. und im Sermo CCXCIII (= Predigt an den Novizen N. Albergati) nicht mehr erscheint, c) zunächst auch schon eine gewisse, dann aber seit 1440 sich steigernde Erkenntniszuversicht (64.76.93) und d) schließlich die "Ansiedlung" des weltbegründenden Grundes jenseits der Gegensätze seit De coniecturis (97). Zu Letzterem ist gegen F. zu sagen, dass in der wenige Wochen vor De visione Dei (1453) niedergeschriebenen Schrift De theologicis complementis Cusanus an zwei Stellen (h X/2a, N. 13, 31-39 u. Br N. 12, 55-58; vgl. auch De coni.: h III, N. 78, 13 f. u. De poss.: h XI/2, N. 13, 13-16) Gott als die Koinzidenz der Gegensätze bezeichnet, ein Hinweis darauf, dass man die genetische Analyse von Cusanus' Denken nicht überstrapazieren darf und die von F. früher verpönten Zettelkasten nicht wegzuwerfen braucht. Im Übrigen erscheint mir die Nähe der beiden Positionen: Gott als Ineinsfall der Gegensätze und: Gott ist jenseits der Gegensätze, größer als deren Distanz (vgl. meinen o. g. Aufsatz). - Im Unterschied zu 1998 übernimmt jetzt "der Gott des Cusanus [...] auch die Tätigkeit der antiken Weltseele" (123; vgl. 157). Wenn NvK sich ferner an den Gegensatz von Gut und Böse "nicht heran[ge]traut" (65), so liegt das einfach daran, dass er im Bösen kein Sein, daher auch keinen Gegensatz, sondern die Privation, also den Verlust des (seienden) Guten erblickt. (De ludo: h IX, N. 81, 1 f. mit vielen Belegen i. App.) - Zur Idee des Feuers im Geist des Weltbegründers, mit dem F. seine Schwierigkeiten hat (82 f.), möchte ich über den Phaidon hinaus noch auf die Stelle im platonischen Timaios (51b6-52a) verweisen, wo im Zusammenhang mit der Stabilisierung der Ideenlehre folgende Frage aufgeworfen wird: "Gibt es ein Feuer an und für sich (pyr auto eph heautou) ..." (51b7 f.). - Zu bedauern ist, dass bei den biographischen Notizen zu NvK F. nur den inzwischen durch die Forschungsergebnisse und Veröffentlichungen von H. J. Hallauer (vieles in MFCG) weithin überholten Jäger (19 u. 172) anführt.

Unverändert geblieben gegenüber 1998 ist F.s Position von der rationalen Beweisbarkeit der christlichen Trinitätslehre, wenn sie auch nicht mehr in der früheren Schroffheit vorgetragen wird. Nun ist F. zuzugestehen, dass das Ineinander von Philosophie und Theologie bei NvK nicht leicht zu beurteilen ist. Die von R. Haubst ins Spiel gebrachte Formel: "Theologie in der Philosophie - Philosophie in der Theologie" ist zwar sehr griffig, formuliert aber lediglich das zu lösende Problem.

Folgende Eckdaten im cusanischen Denken können m. E. nicht übersehen werden: 1. NvK betont durchgehend (s. Belege dazu in meiner o. g. Rez. zu F. 1998), dass wir erst nach Empfang des Glaubens über Trinität (u. Inkarnation) philosophieren können. 2. Er kennt einen rein philosophischen Weg zu Gott, in zwei Formen vor allem: Unsere Erkenntnis der Weltwirklichkeit, z. B. der Weisheit, die auf den Straßen ruft, ist nicht möglich ohne ein apriorisches Vorauswissen (auch Vorgeschmack genannt) vom Grund der Welt bzw. von der Weisheit selber. Und: Jede Frage nach Gott setzt das Gefragte bereits voraus. 3. NvK unterscheidet sehr deutlich den philosophischen Erkenntnisweg zu Gott aus den Geschöpfen, in denen der Schöpfer sich nur entfernt und dunkel zeigt, von dem "Erkenntnis"weg, der von Christus ausgehend zum Vater führt und der eine klare und sichere Erkenntnis bietet (klassisch im Sermo CCLXXXIII/280 v. 1457, aber auch schon Sermo XXII, N. 27, 11-14 v. 1440). Aus diesen drei Prämissen ergibt sich 4., dass NvK über weite Strecken (vgl. z. B. De coni. u. De sap.) auf rein philosophischem Boden den Gottesgedanken entfalten kann, ohne auf die Offenbarung zurückgreifen zu wollen oder gar zu müssen. Gerade sein ständiges Suchen nach Anknüpfungspunkten in der Tradition, die ja nicht nur christlich geprägt war, musste ihn in seinem Bemühen bestärken, auch die philosophische Erkenntnis des Weltgrundes zu vertiefen, ohne dabei immer auf den "theologischen Gott" schielen zu müssen. Die philosophische Gotteserkenntnis an sich übte einen ungeheuren Reiz auf ihn aus. Insofern gebe ich F. recht, dass die gesamte denkerische Leistung des NvK nicht darauf abgestellt war, nur "den christlichen Glauben plausibel zu machen" (25, vgl. 23.26.41.43.104.109.112.139.159) bzw. "daß seine [NvK] Theorie immer auch Weltanalyse, nie nur abgetrennte Theologie" war (39; vgl. 43.139 f.). Wäre es NvK nur um den "theologischen Gott" gegangen, hätten sich seine mannigfachen und subtilen Überlegungen zum apriorischen Voraussetzungscharakter des Gottesgedankens erübrigt. Dieser "theologische Gott" wäre sodann ohne die im Hinblick auf die Vernunft unverzichtbare Begründung geblieben, was man einem derart nach Begründungszusammenhängen suchenden Denker wie NvK nicht zuschreiben kann.

Andererseits will auch F. offenbar nicht bestreiten, dass NvK biblische Glaubensinhalte wie z. B. den Schöpfungsglauben für die Vernunft einsichtig machen wollte (54; vgl. 73.76.137 f.140), also auch das augustinisch-anselmianische credo ut intelligam übte. Bekannt ist F. natürlich auch, dass NvK für die Begriffe Vater, Sohn und Hl. Geist "adäquatere" Zeichen (111) suchte (vgl. 109 f.). Zu denken ist hier an die cusanischen Vorschläge von unitas - iditas - idemptitas (De pace: h VII, S. 25,7) oder id - idem - identitas (Sermo XXII: h XVI, N. 21,5), obwohl das auch nur propriora, aber keine adaequata nomina sind (ebd.). F.s Behauptung ist jedoch nach wie vor: "Der philosophisch einholbare Sinn der Kirchenlehre von der Dreieinigkeit" (109 f.) "trägt sich, Cusanus zufolge, argumentativ selbst. Sie [diese Einsicht] bedarf weder der Kirchenlehre, die Cusanus hier auch nicht erwähnt, noch der Abstützung durch Geometrie" (110, vgl. auch 112.138.153.155).

Die große Unbekannte, mit der F. hier operiert, ist: NvK, der ganz im biblisch-kirchlichen Denken wurzelt, habe beim Studium der paganen Philosophen sein biblisch-kirchliches Denken völlig suspendiert und anhand dieser Philosophen gezeigt, dass man ganz unabhängig von der christlichen Lehre zur Erkenntnis der Dreieinigkeit nicht nur des Allgrundes, sondern jedes Grundes kommen könne (109; vgl. 101-107.111 f.115. 138.139.155). Aber wie will man das beweisen bei einem christlichen Denker, der zudem noch konstant die Voraussetzung des Glaubens für eine derartige Erkenntnis betont? Dabei bleibt die weitere Frage offen, ob ein solches Verfahren im Sinne F.s überhaupt gelingen kann. NvK wird daher von F. einseitig bewertet, wenn er ihn nur als Theologen im Sinne der natürlichen Theologie eines Plotin, Cicero, Descartes, Spinoza, Leibniz, Fichte und Hegel (140; vgl. 137.139.142.159) gelten lässt, obwohl man bei den Angeführten doch noch differenzieren müsste. Und F.s Ausführungen zum Glaubensbegriff bei NvK (54 f.137-140.153 f.163) sind zu aphoristisch, um diesem zentralen Thema des NvK gerecht werden zu können. - Ich frage sodann am Ende: Worauf stützt sich F. bei seiner Feststellung, NvK sei der (durchaus anfechtbaren) Meinung gewesen, Jesus und Proklos hätten dasselbe gelehrt (138 u. 140)? Auf die Marginalie des NvK zum proklischen Parmenideskommentar, nr. 454 (ed. Bormann)? In diesem Kommentar spricht Proklos von noster magister (= Syrianus), der mit Platon übereinstimme. NvK notiert am Rande: magister noster u. bezieht es (vielleicht) auf Jesus. Dann hätten wir die Linie Platon-Syrianus-Proklos-Jesus. Im Sinne des NvK? Kaum!

F. hat ein anregendes und zum Nachdenken zwingendes Buch geschrieben. Die Verdienste dieses Buches sind unverkennbar. Die zuletzt von mir angesprochene und diskutierte Grundfrage der Trinität dürfte jedoch deutlich gemacht haben, dass F.s. Antwort zumindest Zweifeln ausgesetzt bleibt, ja doch eher sehr unwahrscheinlich ist.