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Ausgabe:

Juli/August/2002

Spalte:

767–770

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Winter, Bruce W.

Titel/Untertitel:

After Paul Left Corinth. The Influence of Secular Ethics and Social Change.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 2001. XX, 344 S. gr.8 m. 7 Abb. Kart. US$ 28,00. ISBN 0-8028-4898-2.

Rezensent:

Wolfgang Schrage

Der bereits durch zahlreiche Publikationen zum Thema ausgewiesene (im Lit.-Verz. werden nicht weniger als 14 eigene Beiträge genannt) und diese Studien hier resümierende und weiterführende Vf. stellt sich der Frage, was nach der Abreise des Paulus in Korinth geschehen ist und welche externen Einflüsse dabei in der korinthischen Gemeinde wirksam waren. Der Vf. sucht das so herauszufinden, dass er neben den antiken Schriftstellern die reichhaltigen Forschungen in der Papyrologie, Epigraphik, Numismatik, Archäologie u. ä. auswertet, über die er bestens informiert ist. Ausschlaggebend ist für ihn, dass Korinth nach seiner Neugründung nicht eine griechische Stadt mit römischer Fassade, sondern "a thoroughly Roman colony" war (11). Das entscheidende Stichwort heißt darum Romanitas. Zeugnisse der griechischen und hellenistischen Antike anstelle von solchen aus der späten Republik und der frühen römischen Zeit hält der Vf. für nicht aussagekräftig. Teil I soll die kulturell bedingte Situation ins Auge fassen und Teil II die sozialen Veränderungen. Das kann hier nur beispielhaft exemplifiziert werden, wobei ich mich der Reihenfolge der Kapitel des Buches anschließe, freilich zugleich deutlich werden lasse, dass neben der anregenden und informativen Erschließung neuer Dokumente die in der korinthischen Gemeinde vorausgesetzte Problemlage oft spekulativ bleibt.

In Teil I sieht der Vf. in 1Kor 1-4 (31-43) säkulare Konventionen des Lehrer-Schüler-Verhältnisses im Vordergrund. Hier werden z. B. Wettbewerb und Rivalität zwischen den Lehrern (epis und zelos), ihr Auftreten und Lebenswandel, Loyalität und imitatio der Schüler u. a. eingehend dargestellt. Dass man sich in Korinth auch an solchen "secular educational mores" orientiert haben könnte und eine bestimmte Form der Rhetorik favorisierte (43), ist m. E. durchaus wahrscheinlich, doch kommt die theologische Dimension der korinthischen Weisheitshypertrophie dabei zu kurz weg. Zu 1Kor 5 (44-57) wird darauf verwiesen, dass das römische Rechtssystem Privilegierte mit sozialem Status begünstigte und porneia und Inzest seit Augustus in unterschiedlicher Weise als strafbare Handlung angesehen wurden. Doch was besagt das für die korinthische Gemeinde? Schon die Annahme, dass der Vater noch lebt, wird umstritten bleiben, erst recht aber, dass das "Rühmen" der Korinther seinen Grund im sozialen Status des Sohnes habe, dessen Freundschaft man nicht verlieren wollte. Auch zu 6,1 ff. (58-75) wird mit Recht die die niederen Stände benachteiligende Rechtspraxis ziviler Lokalgerichte aufgezeigt (Prozessverlauf, Gewichtung der Zeugen, Bestechung u. ä.), was die einflussreiche Elite ausnutzen konnte. Dass aber einer der maßgebenden Korinther einen einer anderen "Partei" angehörenden Lehrer aus Neid und Eifersucht vor Gericht gezogen habe, um so den Machtkampf zu gewinnen (66 f.), wird man allenfalls als Möglichkeit konzedieren, bleibt aber eine unbeweisbare Vermutung.

Überzeugend sind die Belege zu 6,9 für die passive und z. T. tolerierte Homosexualität (110-120). 6,12-20 versteht der Vf. von einer sophistischen, auf platonischer Anthropologie basierenden Philosophie mit einer hedonistisch-permissiven Ethik her (76-109). Danach verdient es auch der Leib, "das Haus der Seele", dass man sich um ihn sorgt, weshalb auch Reichtum, Ruhm, Ehre, Macht u. a. zu einem glücklichen Leben gehören, während man auf die "Tugendfreunde" elitär herabblickt. Dass damit die korinthische exousia inklusive der porneia hinreichend erklärt werde, ist m. E. wiederum mit einem Fragezeichen zu versehen. Gleiches gilt trotz 6,13 für die schon früher vertretene Vermutung, dass die porneia mit übermäßiger Völlerei auf Banketten bzw. Götzenopfermahlen zu tun habe (so auch zu 10,23; 15,32) und speziell junge Männer betreffe, die mit 18 Jahren die Toga erhielten. Statt einer overrealised eschatology setzt der Vf. in Korinth den Glauben an die Unsterblichkeit der Seele voraus, die sich vom Glauben ihrer Umgebung nur dadurch unterscheide, dass sie diese durch die Auferstehung Jesu garantiert sahen (105), ohne sich den dagegen geäußerten Bedenken zu stellen. In 11,2 ff. steht nach dem Vf. eine Schleier- statt Haartrachtfrage zur Diskussion, ohne dass er sich mit den Einwänden dagegen auseinandersetzt (z. B. mit V. 14: langes Haar anstelle eines peribolaion); er verweist aber mit Recht darauf, dass sich die Polarität der Geschlechter in unterschiedlichen Konventionen symbolisiert (133). Wenig überzeugend ist dagegen die wieder ohne kritische Diskussion vorgeschlagene Deutung der aggeloi in 11,10 auf "messengers", die (staatliche) Stellen über verdächtige Versammlungen informieren könnten (136f.). In 11,17 ff. wird das Mahl zwar letztlich vom Passamahl her gedeutet (142-158), aber doch der Einfluss eines Privatmahles (asymbolos deipnon), bei dem im Unterschied zu einem geteilten Mahl jeder das Eigene verzehrt, für die korinthischen Missstände in Rechnung stellt, ferner auch hier (vgl. unten) eine Lebensmittelknappheit infolge einer Hungersnot. Auf 12,3 sollen zahlreiche korinthische u. a. Fluchtafeln Licht werfen (167- 176), doch dass nicht Jesus verflucht werde, sondern die Korinther "invoked the second person of the Godhead, Jesus, to curse others", um Rivalen zu bestrafen oder ihnen Schaden zuzufügen (so 178), scheint mir mehr als weit hergeholt, von der Parallelität von V. 3b zu V. 3c ganz abgesehen; auch Lk 9,54 f.; 1Kor 16,22 und Gal 1,8 f. können diese Deutung nicht erweisen. Zu 16,15 f. (184-205) wird vermutet, dass viele christliche "Patrone" in der Gemeinde in derselben Weise strategisch mit ihrem Einfluss operierten wie in der politeia (188); zwar habe das im Fall von Stephanas und Phoebe eine radikale Transformation erfahren, weil Paulus das Klienten/Patron-Verhältnis aufgehoben habe, doch in Korinth habe sich das Patronatssystem nach dem Abschied des Paulus als zählebig erwiesen. In einem Appendix wird dann noch gegen die übliche Annahme einer Synonymität von oikia und oikos für eine Differenzierung plädiert (206- 211).

Teil II gilt dann den sozialen Veränderungen. Dabei wird auch für 7,1-5 (215-232) auf die Hungersnot aufmerksam gemacht, die z. B. aus einer Ehreninschrift für Tiberius Claudius Dinippus erschlossen wird (der hatte dreimal vor allem in Hungerzeiten das bedeutungsvolle Amt eines curator annonae inne), aber auch aus Hungersnöten infolge von Missernten unter Claudius und Nero. Das wird man wohl in der Tat stärker als bisher zu berücksichtigen haben. Ob die enestosa anagke von 7,26 damit zu identifizieren ist bzw. als Grund für die sexuelle Abstinenz zu gelten hat (die asketischen Tendenzen bleiben unberührt), ist aber eine andere Frage und allenfalls dann positiv zu beantworten, wenn das (dann aber eher im Sinne des Paulus selbst) im Sinne eines eschatologischen "Zeichens des Zeit" verstanden wird (zu 232). Zu 7,25 ff. (241-268) wird denn auch die eschatologische Weltsicht mit der Lebenserwartung junger Leute und der philosophischen Anschauung einer aeternitas mundi und eines geordneten Kosmos verglichen. Im Blick auf 8,1-10,21 (269-286) legt der Vf. Wert darauf, dass nach der Abreise des Paulus in Korinth der zentrale (im Unterschied zum bloß lokalen) Kaiserkult eingerichtet wurde, was von großer politischer, sozialer und finanzieller Bedeutung war; ferner wird auf die Verlagerung der Spiele von Sicion zurück nach Isthmus verwiesen, bei denen der "Präsident" die Elite römischer Bürger zum Bankett einlud. Ob aber bestimmte privilegierte Christen die Teilnahme gerade an solchen Festivitäten für ihr Recht hielten und theologisch rechtfertigten, ist damit noch nicht entschieden und jedenfalls nicht durch Verweis auf die "sogenannten Götter" und ihre Deutung auf deifizierte Kaiser und lebende Mitglieder der kaiserlichen Familie (so 282) in 8,5 plausibel zu machen.

Im Schlusskapitel, das 10,25-28 ins Auge fasst (287-301), werden zunächst die jüdischen Privilegien dargestellt (vgl. z. B. zu Sardis Josephus, Ant 14,259 f.), die auch die Regulation des Fleischmarktes betroffen haben sollen. Ob man aus Apg 18,14f. für die Zeit der paulinischen Anwesenheit schließen darf, dass auch Christen das Recht zum Erwerb von koscherem Fleisch hatten (297), braucht hier nicht geklärt zu werden. Dass aber für die Zeit der paulinischen Abwesenheit zu vermuten sei, dass den Juden und damit auch den Judenchristen das Recht auf koscheres Fleisch auf dem Markt entzogen worden sein könnte oder gar die Empfehlung des Paulus, alles zu essen, eine Reaktion auf solchen Entzug jüdischer Privilegien sein könnte, bleibt rein spekulativ, von anderen Rückfragen zu dieser Deutung ganz abgesehen.

Das kritische Referat macht vielleicht einen zu negativen Eindruck, doch beziehen sich die kritischen Rückfragen allein auf die Applizierung der Befunde auf die korinthische Gemeinde, nicht auf die sorgfältige Dokumentation der antiken Belege. An der profunden Kenntnis der antiken Zeugnisse besteht nicht der geringste Zweifel. Es soll auch nicht bestritten werden, dass trotz der genannten Bedenken manche Aussage des 1Kor neu beleuchtet wird und manche informativen Details das Bild der korinthischen Gemeinde noch farbiger als bisher schon erscheinen lassen. Natürlich begegnen bei den literarischen Quellen auch längst bekannte Texte, etwa aus Philo, Menander, Musonius, Plutarch u. a., doch interessanter und die weitere Forschung bereichernder sind die anderen Zeugnisse, die hier in sonst nicht bekannter Breite herangezogen werden.

An Druckfehlern sind mir aufgefallen: S. 69 muss es 6:4 statt 6:1 und S. 209 Klauck statt Cluck heißen.