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Ausgabe:

Juli/August/2002

Spalte:

764–767

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Popp, Thomas

Titel/Untertitel:

Grammatik des Geistes. Literarische Kunst und theologische Konzeption in Johannes 3 und 6.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2001. 558 S. gr.8= Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte, 3. Geb. ¬ 45,00. ISBN 3-374-01851-3.

Rezensent:

Klaus Scholtissek

In der nicht abreißenden Serie neuer Johannesarbeiten stellt die vorliegende Dissertation von Thomas Popp (Sommersemester 2000, Halle-Wittenberg, bei U. Schnelle) einen Meilenstein dar. Die sich im Umbruch befindende Johannesforschung, die jahrzehntelang gültige Forschungsparadigmen erheblich in Frage stellt bzw. auch definitiv zurückweist, hält Ausschau nach neuen Interpretationsansätzen, die nicht nur die Schwächen der herkömmlichen Zugangsweisen aufdecken, sondern die sich am Text des JohEv selbst positiv aufweisen lassen und deshalb ihre Plausibilität aus eigener Argumentation gewinnen. Um es vorwegzunehmen: Zu dieser anspruchsvollen Aufgabe trägt die hier vorzustellende Monographie in erheblichem Umfang erfolgreich und mit Bravour bei. Titel und Untertitel des Werkes dokumentieren treffend das Thema und die These des Vf.s: Die johanneischen Großsequenzen 2,23- 3,36 und 6,1-71 lassen sich in ihrer (bislang oft unterschätzten) literarischen Kunstfertigkeit und der mit ihr untrennbar verbundenen theologischen Konzeption als Ergebnis und Dokument einer geistgewirkten, anamnetischen Durchdringung und Interpretation des Evangeliums Jesu Christi lesen und deuten. Der Geist Gottes bzw. Jesu Christi, dem sich das JohEv selbst verdankt und dessen Wegführung das JohEv in der nachösterlichen Zeit nachdrücklich verkündet, ist die treibende Kraft und das kreative Medium, dem sich die joh Evangeliendarstellung ausweislich der hier behandelten Perikopen Joh 3 und 6 in theologischer und literarischer Hinsicht verdankt. Als schriftgewordene Gestalt der geistgewirkten Durchdringung des Christusglaubens erweist sich das JohEv als geronnenes Zeugnis der österlich-pneumatischen "Grammatik des Geistes" (11-14.226. 240.411 u. v. ö.; mit Verweis auf M. Luther: Spiritus sanctus habet suam grammaticam [WA 39/II, 104,24]), die zu ihrer Entzifferung wiederum ein geistgeführtes "Hören", "Erkennen" und "Glauben" voraussetzt. Der Pneumatologie wird hier im Blick auf den Evangelisten selbst (seine Geist- bzw. Glaubenserfahrungen), im Blick auf die konkrete Textgestalt des JohEv sowie im Blick auf die Rezeption des JohEv seitens der Lesenden bzw. Hörenden ihre ureigene Bedeutung zuerkannt. Form und Inhalt des JohEv werden in ihrer unlösbaren wechselseitigen Beziehung zueinander ernst genommen und in einer Fülle von detaillierten Textbeobachtungen durchbuchstabiert (vgl. u. a. 110 f.443.457). Auf diese Weise wird "die Grundstruktur des johanneischen Denkens" (19) erkennbar.

Die von Popp so genannte "Grammatik des Geistes" lässt sich sprachlich-stilistisch, methodisch-hermeneutisch und inhaltlich näher bestimmen:

1) Sprachlich-stilistisch kommen die joh Stilmittel zu ihrem Recht: die Wiederholungen bzw. Wiederaufnahmen (vgl. 58- 76.464-479), die Amplifikationen bzw. Variationen, die synonymen und antithetischen Parallelismen, die Spiralbewegung der Gedankenführung, die Missverständnisse, die Ironie, die bewusst verwendete, oszillierende Semantik von einzelnen Worten (vgl. 116 zu anothen; 132 zu pneuma), die Inklusionen und chiastischen Kompositionen, die Aktion-Reaktion-Struktur, die Lexemvernetzungen und Leitwortkompositionen, die Metaphern und die vielfältigen, intelligent sortierten Anspielungen. In der hier für Joh 3 und 6 aufgewiesenen Fülle und Dichte sind diese Stilmittel in der Johannesforschung bisher noch nicht ausgewertet worden. Zu Recht verweist der Vf. darauf, dass das JohEv zur mehrfachen, sich vertiefenden und betrachtenden Lektüre einlädt, die den Lesenden in die dargestellte Begegnung mit dem sich offenbarenden Jesus Christus verwickelt (vgl. 138: Johannes ist sich "der intelligenten Mitarbeit seiner Leser sicher"). Das JohEv ist deshalb als "literarisches Kunstwerk" (H. Strathmann) ernst zu nehmen. Poiesis auf Seiten des Autors und des Textes sowie Aisthesis und Katharsis auf Seiten der Rezipienten gehören hier unabdingbar zusammen (14-17). Theologisch-systematisch fasst der Vf. seine Position mit W. Lütgert zusammen: "Der joh. Text besitzt als irdenes Gefäß (vgl. 2Kor 4,7) die Kapazität, den Schatz des Evangeliums entsprechend dem Grundsatz finitum capax infiniti in sich zu tragen und dieses lebenspendende Potential in Gestalt einer performativen Sprachhandlung freizusetzen (vgl. 6,63)" (30).

2) In methodisch-hermeneutischer Hinsicht wird die literarische, kompositionelle und theologische Einheit und komplexe Kohärenz des JohEv am Beispiel von Joh 3 und 6 vorgestellt und überzeugend begründet. Literarkritische Schichtungen oder Umstellungen, die gerade für Joh 3 und 6 weithin eine große Rolle spielen, werden hier überzeugend als unnötig, weil vom Text her nicht gefordert, abgewiesen. Alle Teiltexte in Joh 3 und 6 sind planvoll miteinander vernetzt und aufeinander bezogen (vgl. u. a. 216-218.228.233-255.437-456). Von den beiden neueren Paradigmen relecture und réécriture greift der Vf. vorzugsweise die réécriture auf: "Der réécriture-Charakter der joh. Denkbewegung zeigt sich darin, dass Johannes mit konstanten literarischen Mitteln mit der Technik der Repetition, Variation und Amplifikation als herausragendem Merkmal sein Werk gestaltet und so geistgeleitet und schriftgelehrt den Leser immer tiefer in das Geheimnis des Christusgeschehens einbezieht" (80; vgl. 479). Das Phänomen der relecture sieht der Vf. (mit U. Schnelle) als weniger relevant an, da er alle Fort- und Umschreibung auf den einen Evangelisten zurückführt (77-80). Mit der neueren rezeptionsästhetischen Forschung versteht der Vf. die Auslegung "als Interaktion von Textbeschreibung und Begegnung mit ihm" (49; vgl. 48-54). Diese auf die Adressaten bzw. Rezipienten bezogene Auslegung des JohEv wird hier durchgehend und konsequent umgesetzt (vgl. 299 f. u. ö.).

3) Inhaltlich ergibt sich aus dieser Lektüre die Betonung des "aspektuellen" bzw. "synthetischen Denkens" im JohEv (vgl. 33f.92). Das JohEv erweist sich als "eine im Rückblick entworfene, geistgewirkte und sinnerschließende Neuauslegung des Christusgeschehens in Kontinuität mit der apostolischen Christologie" (40; mit F. Mußner; vgl. 43): "Der Geist hat seine eigene Grammatik. Er spricht die Sprache des joh. Offenbarers. Diese Sprache erschließt ein neues Sehen" (41).

Die exegetische Durchführung seines Ansatzes besteht in zwei großen Teilen zu Joh 2,23-3,36 (81-255) und zu Joh 6 (256-491), die jeweils Probleme der Forschung, den joh Kontext, die Kompositionsstruktur, den szenischen Rahmen, eine detaillierte Einzelauslegung und eine Auswertung bieten. Dabei zeigt sich, dass Joh 3 und Joh 6 sowohl linear als auch konzentrisch zu lesen sind: Joh 3 entfaltet sukzessiv die Amen-Worte Jesu in 3,3.5 und hat zugleich in 3,16-17 ihre von 3,15.18 gerahmte Mitte (465). Joh 6 entfaltet schrittweise die Brotthematik und hat in 6,35 ihren konzentrischen Nukleus (359.382- 385.466). In Joh 3 und 6 entfaltet der Evangelist seine kreuzestheologisch rückgebundene Tauf- und Eucharistiekatechese bzw. -theologie, die jeweils im Kontext des Glaubens, d. h. der vom Geist geführten Einsicht in die neubestimmte joh Zeichen- und Sinnwelt entfaltet werden. In der Taufe wird "nach joh. Sicht nicht die natürliche menschliche Existenz überhöht, sondern durch die Gabe des geistbestimmten neuen Lebens ein radikaler Neuanfang gesetzt" (125). In der Eucharistie geht es "um die Glaubenseinheit mit dem im Sakrament gegenwärtigen Erhöhten als dem Lebensraum in Zeit und Ewigkeit" (373). "Die Zusammengehörigkeit von Eucharistie, Geist und Wort zu begreifen, ist auch nur in der Kraft des Geistes durch die joh. Mystagogie möglich" (398).

Einige weitere bedeutende Erkenntnisse dieser Arbeit seien hier noch angeführt: Der Vf. betont durchweg den Glaubensprozess bzw. -weg, für den das Johannesevangelium wirbt (vgl. 84.179 f.254 f.470 f.482-487; vgl. die Ausführungen zu Nikodemus [109-113.136.169 Anm. 419.254 f.482-484] und zu Petrus [433 f.482-484]). Es ergibt sich konsequent, dass der Vf. die verdrängte Mystik-Thematik aufnimmt (vgl. 29 [W. Lütgert].32.38 f. [F. Mußner].91.150.158.185), das JohEv als Mystagogie liest (vgl. 148.484.492 f.), "Sehen" und "Hören" im JohEv positiv aufeinander bezieht (150-153.223.335.345), eine undifferenziert dualistische Lektüre des JohEv ablehnt (161f.177 f.) und zu Unrecht vergessene bzw. zu wenig beachtete Johannesforscher wie Wilhelm Lütgert, Hermann Strathmann, Franz Mußner rehabilitiert. Zu Recht wendet er sich zudem gegen eine apriorische Prädestination (vgl. 114 f.167 f. 175-177.404.436), die dem JohEv mitunter zugeschrieben wird (O. Hofius; H.-Chr. Kammler), und verteidigt die universale Soteriologie der liebenden Weltzuwendung Gottes in seinem Sohn (vgl. 156 f.167 f.). Mit den Worten des Vf.s: "Göttliche Erwählung schließt die Antwort des Glaubens auf den geistgewirkten Ruf (vgl. 3,8) ins Licht nicht aus, sondern als ihren Ermöglichungsgrund ein" (184; vgl. 316 f.). Hingewiesen sei hier zudem auf die exegetisch und nicht zuletzt ökumenisch hochinteressante Auslegung der joh Eucharistietheologie in Joh 6 insgesamt (vgl. 276-456) und die Annahme, der Evangelist Johannes und seine Leser hätten das Markusevangelium gekannt (vgl. 298.434.441). - Der Arbeit hätte man noch ein detailliertes Stichwortregister gewünscht, das den Reichtum dieser Dissertation besser zu ermessen hilft.

Die Lektüre dieser umfangreichen, dichten und fußnotenreichen Studie lässt die aufmerksamen Leser an der Entdeckerfreude des Autors teilhaben und lädt geradezu dazu ein, in der vom Autor angestoßenen Interpretationsrichtung weiter zu forschen.