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Ausgabe:

Juli/August/2002

Spalte:

762–764

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Petersen, Walter

Titel/Untertitel:

Zur Eigenart des Matthäus. Untersuchung zur Rhetorik in der Bergpredigt.

Verlag:

Osnabrück: Rasch 2001. 379 S. gr.8 = Osnabrücker Studien zur Jüdischen und Christlichen Bibel, 2. Kart. ¬ 36,80. ISBN 3-934005-91-8.

Rezensent:

Martin Meiser

Die vorliegende Arbeit eines pensionierten klassischen Philologen im Schuldienst wurde als Dissertation, betreut durch F. G. Untergaßmair, beim Institut für Katholische Theologie im Fachbereich Erziehungs- und Kulturwissenschaften der Universität Osnabrück eingereicht. W. Petersen beobachtet in den Reden des Matthäusevangeliums "eine hohe Zahl an rhetorischen Stilmitteln des sog. Redeschmucks" (13) und untersucht in dieser mit Hingabe geschriebenen Studie, "inwieweit die Rhetorik den Stil des Matthäus geprägt hat und wieweit deren Benutzung etwas über den Schriftsteller und Menschen Matthäus aussagt" (13). Die Hauptthese in Kürze: Die Bergpredigt ist keine Rede im Sinne antiker Rhetorik, doch lässt der reichlich verwendete Redeschmuck darauf schließen, dass der Judenchrist Matthäus, einem Zeittrend folgend, an einer "weiterführenden hellenistischen Schule" (339) Unterricht auch in Rhetorik genommen und sein Evangelium für ein städtisches Publikum (wohl Antiochia) verfasst hat, das als "Liebhaber für rhetorische Stilmittel und komplizierte Sprachgebilde" (332) sein Werk auch unter rhetorischen Gesichtspunkten zu würdigen in der Lage war.

Ein erster Hauptteil "Die Rhetorik in der griechisch-römischen Antike" benennt im ersten Abschnitt die gleichbleibend hohe "Bedeutung der Rhetorik im gesellschaftlichen Leben und in der Erziehung" und stellt in einem dritten Abschnitt "das System der antiken Rhetorik" solide informierend dar (die Beispiele für den Redeschmuck sind der Bergpredigt entnommen), während er in dem dazwischen gestellten Abschnitt "die Hellenisierung Palästinas" (41) die Geschichte Israels bis 70 n. Chr. nachzeichnet - Anordnung wie Überschrift verraten schon die Problematik, unter der die Arbeit leidet.

Der zweite Hauptteil "Matthäus und die Rhetorik" führt zu dem richtigen Schluss, dass (anders als in bedingtem Maße Mt 23) die Bergpredigt keine Rede im Sinne der klassisch-antiken Rhetorik darstellt: Es fehlen die Anrede (vgl. dagegen Apg 2,14 u. ö.) und das Proömium i. S. einer captatio benevolentiae (vgl. dagegen Apg 24,2.10); störend wirken das weitgehend unverbundene Nebeneinander der Perikopen, der parataktische Stil (als gelungene Periode kann nur Mt 5,34-36 gelten) und die Vielzahl der Appelle (126). Die Bergpredigt ist auch nicht einer der drei Redegattungen genus deliberativum, iudiciale oder demonstrativum zuzuweisen, sondern gehört in die Vorgeschichte der von Augustinus begründeten (richtiger wäre: erstmals theoretisch reflektierten) Gattung der Predigt, dem genus praedicandi (99-102).

Im dritten Hauptteil "Die rhetorischen Stilmittel in der Bergpredigt unter dem Aspekt von Tradition und Redaktion" werden die Texte, wesentlich gestützt auf das Kriterium des Vorzugsvokabulars, jeweils in einem Dreischritt Formalanalyse - Scheidung zwischen Tradition und Redaktion - Herkunft der rhetorischen Stilmittel, analysiert. Der mt Redaktion fällt ein hoher Anteil zu: Mt 5,5.7-10.13a.14a.16.17.(19).20; 6,1 f.2- 6.(7-9a).13.14a.16-18; 7,(3.13 f.).15.(22) gelten wie (mit I. Broer) die Bildung der Antithesenstruktur als redaktionell formuliert oder zumindest stark überformt. In diesen Texten, aber auch in Texten, in denen die Divergenz zu den Vorlagen geringer ist (274, zu Mt 7,9-11 u. ö.), zeigt sich: Matthäus ist stärker als die Tradition - und auch stärker als Lukas bei der Wiedergabe von Q-Texten - um rhetorischen Schmuck bemüht.

Eine Tabelle zu Beginn des Schlussteils fasst die Ergebnisse übersichtlich zusammen (313-324). Anapher, Epipher, Symploke, Antithese, antithetischer Parallelismus, Chiasmus, rhetorische Satzfrage, Klimax sind bevorzugte Stilmittel. Mt 5,18 fine ist der Schluss eines Hexameters. Gerade die nur dem Leser mit rhetorischer Schulbildung erkennbare Verschränkung zweier Chiasmen in 5,18 und 6,17 (der Vf. benennt Parallelen aus Demosthenes, Horaz und Petron) zeigt, dass Matthäus mit seiner Bergpredigt "den Leser nicht nur belehren [...], sondern auch Lust und Wohlwollen in ihm wecken" (331), ferner "sich [...] als rhetorisierender Stilist ausweisen" (331), seine "Anerkennung als Sprachkünstler" (331) erreichen wollte. Eine gewisse Nähe der Bergpredigt zum sog. Asianismus, für den u. a. teils bombastische Ausdrucksweise, teils im Gegensatz dazu kurze, teilweise abgehackte Sätze, kühne Metaphern, rhythmische Satzenden typisch waren, "läßt sich wohl kaum bestreiten" (343). Indirekte Beziehungen bestehen auch zur Diatribe, wobei der Vf. richtig den Unterschied zwischen der am Himmelreich orientierten Theologie der Bergpredigt und den am weltimmanenten Seelenfrieden orientierten Denken der Diatribe benennt (345).

Eine kritische Würdigung der Arbeit muss differenzieren zwischen dem Wert der Fragestellung und der nur mäßig befriedigenden Art und Weise der Durchführung. Die "Frage der Beziehung des Evangelisten zum Hellenismus" (358) bleibt auch dann fruchtbar und dringlich, wenn man (wie auch der Vf.) Matthäus mit der Mehrheit der neueren Forschung als Judenchristen kennzeichnet - in den Horizont der einschlägigen Forschung hat der Vf. seine Arbeit allerdings nicht gestellt. Nützlich ist die Zusammenstellung der rhetorischen Stilmittel, bemerkenswert der vom Vf. gar nicht thematisierte Umstand, dass die mt Redaktionstätigkeit sich in einer Zunahme vornehmlich der Figuren, weniger der Tropen auswirkt, was ja ein höheres Maß von Sprachkompetenz voraussetzt.

Dass Matthäus an einer griechischen Schule auch Rhetorik gelernt haben soll, ist naturgemäß weder zu widerlegen noch zu beweisen, so lange wir über das Teilnahmeverhalten von Juden und Judenchristen an nichtjüdischem Unterricht keine externen Zeugnisse haben - der Vf. hätte dies aber wenigstens als Problem benennen sollen, denn auch Matthäus' Öffnung "für den Missionsgedanken" (360) ermöglicht, aber erzwingt dies nicht. Ebensowenig präjudiziert die Verwendung griechischer Sprache in frühjüdischer, aber auch frühchristlicher Literatur schon die inhaltliche "Akzeptanz griechischen Denkens, Fühlens und Wollens" (41). Anordnung und Überschrift des Abschnittes "Die Hellenisierung Palästinas" (41) verdecken ebenso wie der pauschale Verweis auf den Widerstand von Juden angesichts der "Aktionen [...] gegen den Väterglauben" (43) die Bandbreite der uns literarisch greifbaren literaturgeschichtlichen Phänomene und theologischen Positionen. Hingegen veranlassen des Vf.s Verweise auf das Vorkommen zahlreicher Tropen und Figuren auch im hebräisch-aramäischen Sprachbereich zu der Frage, ob nicht das Studium der Heiligen Schrift und der frühjüdischen Literatur uns weitaus eher an die Wurzeln mt Rhetorik heranführt, so dass der Vf. mit seinen eigenen Beobachtungen seiner Hauptthese ihre erschließende Kraft entzieht. Denn dass "die Struktur der beiden Sprachen (scil. Griechisch und Hebräisch) zu verschieden" (339) sein soll, als dass Matthäus sein an hebräischen Texten gewonnenes rhetorisches Formempfinden in einen griechischen Text hätte einbringen können, stellt m. E. die Möglichkeit einer wirklichen Zweisprachigkeit des Evangelisten zu wenig in Rechnung und übersieht vor allem die lange Tradition griechischsprachiger jüdischer Literatur (z. B. der exagoge des Tragikers Ezechiel u. a.), mit der das Matthäusevangelium weniger hinsichtlich motivischer Parallelen (so der Vf. zu Mt 5,14a; 6,25-34; 7,12; 7,14 u. ö.) als vielmehr hinsichtlich der Verwendung von Redeschmuck hätte verglichen werden müssen (Ansätze dazu zeigt der Vf. 106 f.123). Der in dieser Arbeit implizit gegebene Aufweis erhöhter mt griechischer Sprachkompetenz könnte und sollte allerdings zu Stilvergleichen zwischen LXX, frühjüdischer und frühchristlicher Literatur anregen.

Im handwerklichen Bereich stören überflüssige Zwischenbemerkungen (53; 80 f. sowie 127-129: Darstellung der Zweiquellentheorie), Versicherungen über die Verwendung von Hilfsmitteln (20), psychologisierende Erklärungen (244 - welche "Hemmschwelle" wurde wann niedriger bei der Integration von Mt 6,9-13?) und im Literaturverzeichnis eine gewisse Konzentration auf ältere Literatur. Die Formulierungen zu Matthäus als Sprachkünstler (s. o.) müssten mit seinem Selbstverständnis (vgl. Mt 7,21) ausgeglichen werden.