Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juli/August/2002

Spalte:

757–760

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Heckel, Theo K.

Titel/Untertitel:

Vom Evangelium des Markus zum viergestaltigen Evangelium.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 1999. XIV, 409 S. gr.8 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 120. Lw. ¬ 89,00. ISBN 3-16-147199-7.

Rezensent:

Udo Schnelle

Diese Erlanger Habilitationsschrift (bei J. Roloff) untersucht die Geschichte und die Theologie der Vierevangeliensammlung hin zum Vierevangelienkanon. Der Vf. wählt einen chronologisch-induktiven Ansatz, indem er nicht den Kanonsbegriff zum Ausgangspunkt nimmt, sondern jene gestaltenden Kräfte, die zur Vierevangeliensammlung führten. Hinter der Vierzahl der Evangelien steht eine zielgerichtete theologische Reflexion, deren Absichten durch eine redaktionsgeschichtliche Untersuchung herausgearbeitet werden sollen. Diesem Ansatz entsprechend wendet sich der Vf. zunächst dem Markusevangelium und seinem offenen Schluss zu (speziell Mk 16,8). Der Evangelist formulierte bewusst mit dem Jüngerunverständnismotiv diesen offenen Schluss, da er starke Vorbehalte gegen die Jünger als Traditionsgaranten hatte. "Das Versagen der Zeugen erzwingt nicht den Verlust des Zeugnisses. Die Botschaft setzt sich durch, ohne daß die Überlieferung personalisiert oder institutionalisiert werden muß" (61). Weil in der markinischen Darstellung die Aufgabe der Traditionsgaranten weder von den Jüngern noch von den Frauen am Grab ausgefüllt wird und somit unbesetzt bleibt, weist speziell Mk 16,8 über sich hinaus und verlangt danach, fortgeführt zu werden.

Matthäus verändert grundlegend die markinische Perspektive, indem nun die Jünger in Mt 28,16-20 eine personale und sachliche Kontinuität repräsentieren. Sie sind besondere Zeugen und legitimieren das Evangelium; neben ihnen erscheinen auch die Frauen als zuverlässige Zeuginnen. Matthäus füllt nicht nur den offenen Markusschluss auf, sondern er will dieses Evangelium ablösen. "Das friedliche Nebeneinander der Evangelien kann nicht als selbstverständlicher Ausgangspunkt angesehen werden" (79). Während sich bei Markus und Matthäus Selbstreflexionen des Autors nur indirekt nachweisen lassen, liegen sie in Lk 1,1-4 explizit vor. Der Vf. sieht in den dort erwähnten Logoi einen Hinweis auf die Logienquelle, die Lukas in der ursprünglichen Ordnung in seine Erzählüberlieferung einfügte. Auch Lukas entschärft den tradentenkritischen Schluss des Markusevangeliums. Mit dem offenen Schluss der Apostelgeschichte knüpft er zwar formal an Mk 16 an, zugleich muss aber die Darstellung der Apostel als historische Garanten der Jesusüberlieferung innerhalb des lukanischen Doppelwerkes als Antwort auf Mk 16 verstanden werden. Aus der Analyse der Synoptiker ergibt sich für die Entstehung der Vierevangeliensammlung ein vorwiegend negatives Fazit. Die Synoptiker wollen als eigenständige Werke gelten; Mt und Lk streben zudem nicht an, neben Mk gelesen zu werden, dessen Problematisierung der ersten Auferstehungszeugen sie nicht übernehmen: "Die Sammlung mehrerer Evangelien erwächst nicht aus der Theologie der Synoptiker" (104).

Dem Johannesevangelium kommt in der Argumentation des Vf.s eine Schlüsselfunktion zu. Zunächst begründet er ausführlich, warum Joh 21 als "sekundär" gegenüber Kap. 1-20 angesehen werden muss. Allerdings gehört der Vf. dieses Nachtrages zur johanneischen Schule, deren literarische Produktion mit Kap. 21 abgeschlossen wird. Die Selbstreflexionen in Joh 21 unterscheiden sich erheblich von denen in Joh 20,24-29 und 20,30 f. Der Autor von Joh 21 öffnet die johanneische Überlieferung mit der Person des Petrus für außerjohanneische Einflüsse. Petrus und der Lieblingsjünger bezeugen nun als Vertraute Jesu die Überlieferungen. Indem Joh 21 positiv an das Lukasevangelium, möglicherweise auch an das Matthäusevangelium anknüpft, entfaltet dieses Kapitel ein besonderes wirkungsgeschichtliches Potential. Schließlich bestätigen auch die Evangelienüberschriften, dass der Vf. von Joh 21 der Vierevangeliensammlung nahesteht. Die Evangelienüberschriften entstanden etwa gleichzeitig und belegen eine Entstehung der Vierevangeliensammlung zwischen 110 und 140 n. Chr. In den Überschriften zeigt sich ein der Theologie der Redaktion der Vierevangeliensammlung vergleichbares Denken, wonach das Evangelium nicht in Worte zu fassen ist, zugleich aber in vier schriftlichen Werken abgebildet wird. "Diese theologische Überlegung knüpft so eng an theologische Linien an, die Joh 21 vorbereitet, dass die Entstehung der Vierevangeliensammlung und die Spätgeschichte der johanneischen Schule, wie sie in Joh 21 sichtbar wird, wohl nahe zusammengehören. Insgesamt dürfte der Verfasser von Joh 21 die wesentlichen Ansatzpunkte bereitgestellt haben, die nach Ausweis der Evangelienüberschriften auch die Zusammenstellung der Evangelien leitete" (218).

Als zweites entscheidendes Bindeglied innerhalb der Argumentation fungiert Papias von Hierapolis, der die von Joh 21 zur Vierevangeliensammlung geschlagene Brücke in die Geschichte der Alten Kirche verlängern muss. Eine ausführliche Analyse der Papias-Fragmente führt zu dem Ergebnis, dass er alle vier Evangelien kannte. Eine Kenntnis des Johannesevangeliums erschließt der Vf. aus der breit bezeugten Verbindung des Papias zur johanneischen Tradition, aus Sprachanleihen und dem Tadel des Presbyters an der Ordnung (Taxis) des Markusevangeliums, der das Johannesevangelium als Maßstab voraussetzt. "Papias dürfte also die vier Evangelien Mt, Mk, Lk und Joh gekannt haben" (263). Diese Kenntnis ist um 120-130 n. Chr. anzusetzen, so dass für die Entstehungszeit der Vierevangeliensammlung eine weitere zeitliche Präzisierung in die Jahre 110-120 n. Chr. vorgenommen werden kann (vgl. 265). Papias von Hierapolis erscheint somit gleichermaßen als ein später Abkömmling der johanneischen Schule und früher Zeuge der Vierevangeliensammlung in der Alten Kirche.

Die frühe zeitliche Ansetzung der Vierevangeliensammlung ruft die Frage hervor, wie sie sich zu den später als apokryph eingestuften Evangelien verhält. Das Petrusevangelium wird als direkte Reaktion auf die Vierevangeliensammlung angesehen, ebenso setzt nach Meinung des Vf.s das Egertonevangelium die Vierevangeliensammlung voraus. Auch Justin kannte mit Sicherheit die drei Synoptiker, sehr wahrscheinlich auch das Johannesevangelium. Bei Markion lässt sich hingegen nur eine Kenntnis des Lukasevangeliums und vermutlich auch des Matthäusevangeliums nachweisen. Dennoch wertet der Vf. die Existenz jener Schriften, die bis zur Mitte des 2. Jh.s eine Vierevangeliensammlung voraussetzen (der längere Markusschluss, das Petrusevangelium und Papias), als indirekten Beleg für die Annahme, "daß Markion bereits eine Vierevangeliensammlung kannte" (335). Als sichere Zeugen für die Vierevangeliensammlung am Ausgang des 2. Jh.s gelten Tatians Diatessaron, die Passahomilie des Melito von Sardes, Kelsos und schließlich das Muratorische Fragment. Abschließend geht der Vf. den Hinweisen auf die Vierevangeliensammlung in der Textüberlieferung nach, wobei er sich intensiv mit der These von D. Trobisch auseinandersetzt. Er wendet zu Recht gegen Trobisch ein, dass dieser sich nicht um eine kirchengeschichtliche Absicherung seiner Ergebnisse bemüht habe. Weder historisch noch geographisch werde die postulierte Urausgabe des Neuen Testaments verortet. Dennoch schließt sich der Vf. im Hinblick auf die Vierevangeliensammlung der These von Trobisch an, weil er in ihr in zweifacher Hinsicht eine Unterstützung seiner eigenen Untersuchungen sieht: Die Vierevangeliensammlung könnte die Bevorzugung der Kodizes gegenüber den Schriftrollen erklären, und auch Harmonisierungen in der Textüberlieferung verweisen auf die Existenz einer Vierevangeliensammlung. Abschließend wird Irenäus als Repräsentant des Vierevangelienkanons gewürdigt. Die Selbstverständlichkeit, mit der er von der Gestaltwerdung des einen Evangeliums in den vier schriftlichen Evangelien ausgeht, zeigt, dass nun die Vierevangeliensammlung zum Vierevangelienkanon geworden ist.

Die Studie schreitet ein überaus komplexes und weites Feld ab. Sie muss deshalb großflächig argumentieren, worin Stärke und Schwäche zugleich liegen. Die Entwicklung könnte so verlaufen sein, wie der Vf. sie skizziert. Zugleich bleiben aber erhebliche Zweifel: Nicht erst Joh 21 öffnet sich für die Synoptiker, sondern bereits Joh 1-20 setzen das Markus- und Lukasevangelium voraus. Speziell Joh 21 wird eine Beweislast aufgebürdet, die dieses Kapitel nicht zu tragen vermag. Ebenso fraglich bleibt eine Kenntnis des Johannesevangeliums durch Papias. Der Verweis auf die fehlende Taxis des Markusevangeliums ist kein wirklich hinreichender Beleg für diese Annahme. Schließlich entledigt sich der Vf. sehr schnell des apokryphen Materials, das in seiner Breite kaum nur als Reflex auf die Vierevangeliensammlung gewertet werden kann. Diese Einwände schmälern das Verdienst der Studie keineswegs, denn der Vf. vereint mutig neutestamentliche und kirchengeschichtliche Fragestellungen und gelangt so zu einem Ergebnis, das möglich ist.