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Ausgabe:

Juli/August/2002

Spalte:

754–757

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Gehring, Roger W.

Titel/Untertitel:

Hausgemeinde und Mission. Die Bedeutung antiker Häuser und Hausgemeinschaften - von Jesus bis Paulus.

Verlag:

Gießen: Brunnen 2000. 582 S. 8 m. 8 Abb. = Bibelwissenschaftliche Monographien, 9. Kart. ¬ 37,90. ISBN 3-7655-9438-5.

Rezensent:

Thomas Schmeller

Diese (überarbeitete) Dissertation bei P. Stuhlmacher lässt keine Wünsche offen und erfüllt selbst solche, die man noch gar nicht hatte: Alles, was Sie schon immer über Hausgemeinden (= HGn) wissen wollten (und vieles mehr)! Auf ca. 500 Textseiten wird das Thema mit großer Sorgfalt nach allen Seiten hin ausgeführt.

Die Arbeit setzt mit der Feststellung ein, dass einerseits die Christen fast dreihundert Jahre lang in Privathäusern zusammengekommen sind, andererseits die neutestamentliche Forschung erst etwa 1980 begonnen hat, "über die architektonischen Bedingungen der frühchristlichen Zusammenkünfte und über die damit verbundenen sozialen und theologischen Implikationen nachzudenken" (13). Damit ist das Anliegen markiert. G. legt in der Tat eine die einschlägige Forschung zusammenfassende und weitertreibende Studie vor, wie sie bislang nicht existiert hat.

Der forschungsgeschichtliche Teil beginnt mit C. Vitringa, der schon 1694 die Haussynagoge als Vorbild der Urgemeinde ansah. Als richtungweisend betrachtet G. einen Aufsatz von F. V. Filson (1939), der bereits - zunächst folgenlos - eine intensivere Auseinandersetzung mit HGn anmahnte. Erst in den 80er Jahren des 20. Jh.s erschienen mehrere einschlägige Arbeiten (D. v. Allmen, R. Banks, J. H. Elliott, D. C.Verner, H.-J. Klauck, L. M. White, B. B. Blues), die G. detailliert bespricht (18-34). Als Konsens dieser Forschungsbeiträge formuliert G. die Überzeugung, dass "die Bedeutung von Oikoi für die Entstehung und Organisation des urchristlichen Gemeindelebens kaum überschätzt werden (kann)" (36).

Aus dem Forschungsüberblick ergeben sich als Untersuchungsgegenstände: "1) die Bedeutung des antiken Oikos für Gemeinschaftsbildung, Gemeindebau, Ausbildung von Leitungsstrukturen und Ekklesiologie der frühchristlichen Mission, 2) das Verhältnis von HGn und Ortsgemeinde und dessen Implikationen für Organisation und Ekklesiologie der frühchristlichen Mission" (49).

Nach dieser Einführung untersucht G. zunächst die Verwendung von Häusern vor Ostern (51-127). Schon Jesus hat, so G., Häuser für die Lehre, für die Begegnung mit Menschen und für die Mission genutzt.

Ausführlich wird die Frage eines Hauses des Petrus in Kapharnaum, das Jesus für seine Zwecke benutzte, exegetisch und archäologisch diskutiert und schließlich bejaht. Damit ließe sich die Wanderpredigerexistenz Jesu durchaus verbinden, denn dieses Haus sei Missionsstützpunkt gewesen. Auch außerhalb von Kapharnaum vermutet G. Häuser ortsgebundener Anhänger, die Jesus eine galiläische "Hausmission von Dorf zu Dorf" (81) erlaubt habe. "Das social setting der Jesusbewegung scheint also aus örtlichen Gemeinschaften bestanden zu haben, die wohl überwiegend in den Häusern von Dörfern und Kleinstädten zu lokalisieren sind" (86). Dort habe es bereits auf Jesus selbst zurückgehende "Lehrsummarien" und "schriftliche Aufzeichnungen von Jesusüberlieferungen" (88) gegeben. Dieselbe Missionspraxis hatten die von Jesus vor Ostern ausgesandten Jünger (Lk 10,1-12). Nicht nur die Wandermissionare, sondern auch ihre ortsfesten Anhänger und Unterstützer waren für die vorösterliche Mission wesentlich. Gegenüber der These Theißens, wonach die Sympathisantengruppen durch wandernde Charismatiker bestimmt und geleitet wurden, postuliert G. eine leitende Funktion des Hausvaters für seine Hausgemeinschaft. Die Kritik an der Autorität des Vaters, die Lohfink in der Auslassung der Väter in Mk 10,30par wie auch in Mt 23,9 sieht, will G. so nicht gelten lassen: Die Jünger hätten ihre Familien verlassen, um Teil einer neuen familia Dei zu werden, "die ebenfalls wenigstens im übertragenen Sinne patriarchalische Strukturen hatte" (119).

Der nächste Hauptteil widmet sich der Rolle der Häuser in der Jerusalemer Urgemeinde (128-219). Hierzu zählt G. das Haus mit dem "Obergemach" (Apg 1,13), das Haus der Maria, der Mutter des Johannes (Apg 12,12) und die in Summarien genannten Häuser (Apg 2,46; 5,42). All diese Stellen sind s. E. historisch auszuwertende Belege für Gemeinden mit oikos-Struktur, also HGn: Hier wurde Gottesdienst gefeiert, wie er in Apg 2,42 beschrieben wird (Apostellehre, Gemeinschaft, Brechen des Brotes, Gebete), und hier wurde Mission getrieben, denn die HGn waren "Übungsplätze der christlichen Brüderlichkeit nach innen und Schauplätze der christlichen Brüderlichkeit nach außen" (180). Auch in der Urgemeinde ist die oikos-Struktur für die Frage der Leitung relevant.

Die HG, in der Petrus Gemeindeleiter war, passt für G. "nicht ganz in das Oikosschema" (183), weil Petrus nicht als Hausvater geschildert wird. Bei den Hellenisten dagegen sieht er die Qualifikation für ihr Leitungsamt darin, dass sie (z. T.) Hauseigentümer waren. Die Entstehung der Presbyterialverfassung in der Urgemeinde will G. nicht mit dem Vorbild der Synagoge erklären, denn dort habe es (mit Campbell) ein solches Amt gar nicht gegeben. Die These Campbells, "Älteste" seien vielmehr die Hausvorstände gewesen, sei plausibel, aber nicht zu belegen. Missionarisch aktiv waren vor allem die Hellenisten: Philippus etwa hatte nach der Vertreibung ein Haus in Cäsarea, von dem aus er Umlandmission betrieb. In Antiochien betreiben sie "eine planmäßige zentrifugale Mission" (202). Die antiochenische Gemeinde hatte allerdings nach G. wohl eine charismatische Leitungsstruktur (Apg 13,1 f.) und eine egalitäre Tauftradition (vgl. Gal 3,28), die zur oikos-Struktur in Spannung stand; immerhin hält G. einige der in Apg 13,1 genannten Leitungspersonen für "potentielle Hauseigentümer" (208). Aus Gal 2,11-14 folgert er ein Nebeneinander von Gesamtgemeinde einerseits und mehreren HGn andererseits in Antiochien.

In der Hausmission der Hellenisten (Wander- und Partnermission, Ortsgebundenheit, planmäßige Aussendung) sieht G. das Bindeglied zwischen der Mission Jesu und der paulinischen Mission.

Das längste Kapitel behandelt die Mission des Paulus (220- 384). Neben den unbestrittenen Paulusbriefen (mit Röm 16 als ursprünglichem Bestandteil des Röm) werden auch Kol 4,15 und vorlukanische Traditionen der Apg ausgewertet. Die Verwendung der Apg ist nicht unkritisch, aber doch recht zuversichtlich (Lk als Reisebegleiter des Paulus, der auch in den Wir-Berichten zur Sprache kommt). "Städte mit nachweisbaren Hausgemeinden" (238) sind von daher Philippi, Thessalonich, Korinth, Kenchreä, Ephesus, Rom, Kolossä und Laodizea, die gesondert besprochen werden.

Interessant sind dabei vor allem die Überlegungen zur möglichen Größe von Hausgemeinden (maximal 40-50 Personen) und zu den von R. Jewett als Alternative ins Spiel gebrachten "tenement churches, die sich ohne die Unterstützung von Hausvorständen bzw. Patronen in den Arbeits- bzw. Wohnräumen der insulae versammelten" (263) - eine These, die G. ablehnt. In der von M. Gielen aufgeworfenen Frage, ob e kat oikon ekklesia wirklich distributiv zu verstehen sei und auf ein Nebeneinander von HGn und Ortsgemeinde schließen lasse, entscheidet sich G. gegen Gielen für ein solches Nebeneinander. Von hier weitergehend reflektiert er die Spannung in der paulinischen Ekklesiologie zwischen den einzelnen Ortsgemeinden und der Gesamtkirche und kommt zu dem Ergebnis, dass bei Paulus (im Unterschied zu Eph 4 und Joh 17) die Einzelgemeinde das größere Gewicht trage.

Unter der Überschrift "Das Leben in einer paulinischen Hausgemeinde" (291) werden die soziale Schichtung (im Blick auf potentielle Hausbesitzer), der Gottesdienst (bes. die Probleme mit dem Herrenmahl 1Kor 11), die Rolle der Häuser als Missionsstützpunkte (Versorgung der wandernden Missionare, missionarische Ausstrahlung) und die Leitungsstrukturen bzw. Organisationsformen besprochen (291-380). In der zuletzt genannten Problematik untersucht G. die Frage: "War der antike Haushalt vielleicht die Gießform (die Matrix) der neuen Gemeinde" (334), und kommt zu dem Ergebnis, dass die er-kennbaren Leitungspersonen (z. B. die proistamenoi in Thessalonich, die episkopoi in Philippi) tatsächlich teilweise Hauseigentümer gewesen sein dürften.

"Das Weiterwirken von Oikos-Strukturen in den paulinischen Antilegomena" wird im letzten Hauptteil behandelt (385-477).

Bei der Besprechung der Haustafel Kol 3,18-4,1 legt G. großen Wert auf die "christliche Eigenleistung" (388.393) in ihrer Formulierung, die meist unterschätzt werde. Er untersucht die Fragen, ob die Haustafeln wirklich die ursprüngliche Gleichberechtigung der Frauen zurückgedrängt und das revolutionäre Potential des Christentums verspielt hätten. Beide Einschätzungen lehnt G. ab, vor allem deshalb, weil es für die frühen Gemeinden keine Alternativen gegeben habe: "Es blieb den frühen Christen eigentlich nur eine Lebensform innerhalb der Oikos-Struktur übrig, was wegen ihres hausgemeindlichen social setting nahelag. Aber der (sic!) Oikos ohne eine Unterordnung der Frau dem Mann gegenüber gab es z. d. Z. nur theoretisch, in der Praxis aber nicht" (423). Und in der sozialen Frage gelte: "Gegen eine äußere Revolution haben sich die Verfasser des Kol und Eph für eine Transformation von innen heraus entschieden." (427).

In den Pastoralbriefen ist nach G. die "Bezeichnung der Kirche als oikos theou ganz wörtlich zu verstehen" (440), weil sich das gemeindliche Leben in den Privathäusern einiger wohlhabender Gemeindemitglieder vollziehe. Diese HGn sind gerade in ihrer vorbildlichen Ordnung missionarisch wirksam. Nach einer ausführlichen Diskussion verschiedener Erklärungen des Nebeneinanders von Presbytern und Episkopos präsentiert G. sehr zurückhaltend seine eigene Lösung: Die Leiter der HGn seien in ihrem Haus Episkopen gewesen, als Gremium der Ortsgemeinde Presbyter. Der Verfasser der Past habe sich bemüht, die Leitungsfunktion eines Episkopen unter Beibehaltung des Presbyteriums auf die Gesamtgemeinde auszudehnen.

Ein Rückblick auf die erzielten Ergebnisse und ein zuversichtlicher Ausblick auf die Bedeutung des HG-Modells für die Gegenwart schließen den Textteil ab (478-507). Es folgen noch einige Grundrisse und Zeichnungen von antiken Häusern und HGn, ein sehr reichhaltiges Literaturverzeichnis (517-582!), aber leider keine Indizes.

Eine Studie, die zu so vielen Gebieten wertvolle Beiträge leistet, zieht natürlich auch viele Fragen auf sich. Die zentrale Frage dürfte sein, ob hier nicht ein Modell auf Kosten aller anderen zum Schlüssel für das Verständnis der gemeindlichen und missionarischen Wirklichkeit des Urchristentums gemacht wird. G. ist durchweg sehr sorgfältig und fair, weder polemisch noch apologetisch im Umgang mit anderen Möglichkeiten und Ansichten. Aber es fällt doch auf, dass viele Erscheinungen besprochen werden, deren Verbindung zum antiken Haus nur mit Mühe, wenn überhaupt, erkennbar sind (z. B. die Identifikation der antiochenischen "Propheten und Lehrer" in Apg 13,1 als Hauseigentümer, 208 f.). Es finden sich daneben Beobachtungen, wo zu Recht auf einen unbestreitbar häuslichen Hintergrund verwiesen wird, aber die Relevanz dieses Hinweises nicht erkennbar ist: Es ist sicher damit zu "rechnen, daß Jesus auch in der Phase seines öffentlichen Wirkens, wenn es sehr kalt wurde oder geregnet hat, mit seinen Jüngern zur Unterweisung, aber auch zum Übernachten in ein Haus gegangen ist" (53), aber damit ist nicht allzu viel gesagt. G. scheint manchmal auch verschiedene Aspekte der Wirklichkeit des Hauses nicht klar zu unterscheiden: "Hausmission" z. B. kann an einer Stelle heißen, dass Häuser als Stützpunkte für Wandermissionare dienen (81), an einer anderen, dass das Beziehungsnetz des oikos für die Mission genutzt wird (178 f.). Vor allem aber vermisse ich eine Reflexion auf die Spannungen zwischen der autoritären oikos-Struktur und der zumindest teilweise autoritätskritischen Gemeindestruktur, die G. durchaus selbst sieht (z. B. 183.272 f.343.382.405). Solche Abweichungen der Gemeinden von der oikos-Struktur und die Entwicklung, die sich bis zur Angleichung an den oikos in den Pastoralbriefen vollzogen hat, werden zwar erwähnt, aber so gut wie nicht thematisiert. G. vermittelt manchmal einen Eindruck von Kontinuität und Harmonie zwischen den verschiedenen Kräften und Phasen des Urchristentums, der von seinen eigenen Beobachtungen nicht gedeckt wird.

Trotz solcher Bedenken ist G.s Studie aber ein wichtiger Beitrag zur Forschung auf einem Gebiet, wo sie viel nachzuholen hat, und ein Buch, das man mit Gewinn liest.