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Ausgabe:

Oktober/1998

Spalte:

994–996

Kategorie:

Kirchengeschichte: Mittelalter

Autor/Hrsg.:

Holopainen, Toivo J.

Titel/Untertitel:

Dialectic and Theology in the Eleventh Century.

Verlag:

Leiden-New York-Köln: Brill 1996. VII, 171 S. gr. 8 = Studien und Texte zur Geistesgeschichte des Mittelalters, 54. Lw. hfl. 120,-. ISBN 90-04-10577-8.

Rezensent:

Rochus Leonhardt

Als Ausgangspunkt seiner Untersuchung dient Holopainen eine kurz nach 1900 in der deutschsprachigen Forschung formulierte These, nach der das Denken im 11. Jh. geprägt war von der Auseinandersetzung zwischen ,Dialektikern’ und ,Antidialektikern’: Während die einen die Glaubenswahrheiten der Vernunft unterwerfen wollten, erklärten die anderen die Vernunft in Glaubenssachen für schädlich und überflüssig. Die Unhaltbarkeit dieser These ist, wie H. zu Recht bemerkt, längst anerkannt (2). Wie die bedeutenden Gestalten des 11. Jh. das Verhältnis von Vernunft und Glaubensautorität im einzelnen bestimmt haben, darüber besteht allerdings noch keine volle Einigkeit, und hier will H. einen Beitrag zur Klärung leisten.

Die Untersuchung hat einen bemerkenswert klaren Aufbau: Einführung (Kap. 1) und Zusammenfassung (Kap. 6) umrahmen die Kapitel 2-5, in denen je ein wichtiger Denker des 11. Jh.s behandelt wird.

Im Anfangsabschnitt eines jeden dieser vier Kapitel werden der Forschungsstand resümiert und das weitere Vorgehen beschrieben. Es folgen je drei Abschnitte, die eingehenden Textanalysen gewidmet sind und deren letzter in eine These mündet, die das Verhältnis von Dialektik und Theologie im Denken des Protagonisten abschließend charakterisiert.

Kapitel 2 (8-43) ist Petrus Damiani und seiner Schrift De divina omnipotentia gewidmet, einem gemeinhin als schroff ,antidialektisch’ interpretierten Text. Darin werden zwei Fragen behandelt: (1) Kann Gott verlorene Jungfräulichkeit wiederherstellen? (2) Kann Gott Geschehenes ungeschehen machen? Die traditionelle Deutung sagt, daß P. Damiani im Namen der Allmacht Gottes beide Fragen bejaht und damit die Gültigkeit des Widerspruchsprinzips eingeschränkt habe. H. weist überzeugend nach, daß P. Damiani die Probleme verschieden beantwortet hat. Frage (1) wird in der Tat bejaht. Dies geschieht vor allem unter Berufung auf biblische Wunder, die die Souveränität Gottes gegenüber den Naturgesetzen zeigen. Ein Eingriff in die Vergangenheit spielt dabei aber keine Rolle: restoration of virginity does not require any interfering with the past; it is an ’ordinary’ miracle comparable to some of the miracles that are reported in the Bible (17 f.; vgl.35 f.157). Frage (2) wird dagegen verneint, und zwar gerade mit Hilfe des Widerspruchsprinzips. Die Unfähigkeit, Geschehenes ungeschehen zu machen, beeinträchtigt allerdings nicht Gottes Allmacht, da sich diese nur im Vollbringen des Guten realisiert: But a contradictory state of affairs would be an evil (32). H. kann zeigen, daß P. Damiani dieses Problem rein philosophisch behandelt, in Anknüpfung an die Rezeption von Aristoteles, Peri Hermeneias 9, durch Boethius (Cons.phil.V pr. 6). Von einer theologisch motivierten Relativierung der Fundamente der Logik kann man bei P. Damiani also nicht sprechen; he can be characterized as an antidialectician to a mild degree (43).

Kap. 3 (44-76) und 4 (77-118) behandeln die Schriften Lanfranks von Bec und Berengars von Tours zum Abendmahlsstreit. Was Lanfrank betrifft, so bekräftigt H. die inzwischen geläufige Skepsis gegenüber der Auffassung, daß sein Schüler Anselm von ihm entscheidende Anregungen empfangen habe (vgl. zusammenfassend 76). Interessant ist die einleuchtend begründete These, Lanfrank habe die Argumente seines Kontrahenten Berengar bewußt falsch wiedergegeben, um sie desto leichter lächerlich machen zu können (vgl. 59-67). Berengar selbst wird nachdrücklich gegen den in der Forschung gelegentlich erhobenen Vorwurf philosophischer Naivität in Schutz genommen. H. sieht in Berengars Denken den am meisten zukunftweisenden Beitrag zum Verhältnis von Glaube und Vernunft im 11. Jh.: Vernunfterkenntnis ersetzt nicht den Glauben. Sie hilft vielmehr, die Glaubensaussagen besser und tiefer zu verstehen; für Berengar gilt: he considered the principles of reason and the doctrines attested in the sacred writings to be expressions of the same truth (117).

Kap. 5 befaßt sich mit dem Monologion und dem Proslogion des Anselm von Canterbury. Erwartungsgemäß läuft die Untersuchung auf das argumentum unum im Proslogion zu, das die Grundlage des sog. ontologischen Gottesbeweises bildet. Unter Rückgriff auf Boethius’ Kommentar zu Ciceros Topica macht H. deutlich, in welchem Sinne Anselms Formulierung worüber hinaus nichts Größeres gedacht werden kann als argumentum unum zu verstehen ist: Mit Hilfe dieser einzigen Formulierung können alle Vollkommenheitsprädikate Gottes rein rational abgeleitet werden (vgl. 133-145). H. hebt zugleich nachdrücklich Anselms devotional motivation (155) im Proslogion hervor: Das argumentum unum will nicht Atheisten von der Existenz Gottes überzeugen, sondern den vorausgesetzten Gottesglauben rational vertiefen. - Der Rez. mag nicht verschweigen, daß er diese ausdrücklich an K. Barth orientierte Deutung für anachronistisch und im übrigen H.s Argumentation im entsprechenden Abschnitt des Anselm-Kapitels für unpräzise und widersprüchlich hält (vgl. 145-155). Mindestens wäre eine stärkere Verarbeitung der neueren philosophischen Anselm-Diskussion sinnvoll gewesen.

H. hat das Verhältnis von Vernunft und Glaubensautorität im 11. Jh. auf der Basis einer durchaus ,traditionellen’ Textauswahl diskutiert. Mittels gründlicher Analysen ist er zu teilweise durchaus ,untraditionellen’ Einsichten gekommen. Dabei hat ihm geholfen, daß er die Rezeption der antiken Logik (in Gestalt der Boethius-Kommentare zu Aristoteles und Cicero) für seine Interpretationen fruchtbar gemacht hat. Hier wird deutlich, welche Bedeutung der antiken Überlieferung für die mittelalterlichen Problemstellungen und Lösungsansätze zukommt und wie wichtig deshalb der textrezeptionsbezogene Ansatz bei der Beschäftigung mit dem mittelalterlichen Denken ist (In der deutschsprachigen Mediävistik der Gegenwart wird dieser Ansatz vorwiegend im philosophischen Bereich verfolgt, so bei K Flasch, B. Mojsich, R. Imbach u. a.). Auch wenn H.s Interpretationen nicht durchgehend überzeugen (Anselm) - jedenfalls wird das Bild vom christlichen Denken im 11. Jh punktuell differenziert (Lanfrank-Berengar) und z.T. sogar plausibel korrigiert (P. Damiani).