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Ausgabe:

Juli/August/2002

Spalte:

738–742

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Campbell, Antony F., and Mark A. O'Brien

Titel/Untertitel:

Unfolding the Deuteronomistic History. Origins, Upgrades, Present Text.

Verlag:

Minneapolis: Augsburg Fortress Press 2000. VI, 505 S. gr.8. Kart. US$ 37,00. ISBN 0-8006-2878-0.

Rezensent:

Walter Dietrich

Die beiden Autoren - ursprünglich Lehrer und Schüler, jetzt beide als Alttestamentler an verschiedenen Hochschulen Melbournes tätig - haben schon früher im Bereich der deuteronomistischen Geschichtsschreibung publiziert (Campbell: The Ark Narrative, 1975; Of Prophets and Kings, 1986; O'Brien: The Deuteronomistic History Hypothesis, OBO 92, 1989). Sie ziehen jetzt gewissermaßen gemeinsam die Summe aus ihren einschlägigen Forschungen. In ihrem gewichtigen neuen Buch setzen sie sich das ehrgeizige Ziel, das gesamte deuteronomistische Geschichtswerk (dtrG) nach seinen diversen Quellen und Redaktionsstufen aufzuschlüsseln und als sinnvoll gewachsenes Ganzes zu beschreiben.

Rückgrat des Buches ist die Wiedergabe des kompletten Textes der biblischen Bücher Dtn, Jos, Ri, 1-2Sam und 1-2Kön in der Übersetzung der New Revised Standard Version (NRSV). Er wird jeweils oben auf den Seiten abgedruckt und in einem darunter stehenden Apparat mehr oder weniger ausführlich annotiert. Dabei ist keineswegs eine vollständige Kommentierung intendiert (wie etwa in den knapp gefassten Kommentarwerken von Kautzsch-Bertholet, HKAT oder Echterbibel). Vielmehr finden sich zwei Sorten von Notizen: einerseits Einzelbemerkungen zu gewissen text- oder literarkritischen oder anderen, etwa aus der Sekundärliteratur sich ergebenden Fragen, andererseits ein breit angelegtes System von Begründungen für die von den Autoren vertretenen Ansichten zur Textdiachronie. Dieses letztere Anmerkungssystem folgt regelmäßig dem Dreischritt "text signals", "text-history approach" und "present-text potential" und bietet eigentlich das, was der Titel verspricht: "unfolding the Deuteronomistic history". Die betreffenden Begründungen werden nämlich jeweils dort eingestreut, wo die Autoren Übergänge zwischen verschiedenen Textschichten, zwischen Quellen und Redaktion etwa, wahrnehmen. Im darüber stehenden Bibeltext wechselt dann jeweils die Schrifttype, oder es beginnt eine neue Randmarkierung.

Das ermöglicht eine Orientierung auf den ersten Blick. Zur Sicherheit wird in der Fußzeile durch das gesamte Buch hindurch ein gleichbleibend sechsstufiges Grundraster angezeigt: von älteren und ältesten Quellen bis zur jüngsten Redaktion. Nur in dem Textabschnitt Dtn 6-26 verfahren die Autoren merkwürdigerweise anders: Hier versuchen sie keine eigene Schichtungsanalyse, sondern drucken außer dem Bibeltext nur Kurztabellen zur Textschichtung nach A. D. H. Mayes, E. Nielsen und H. D. Preuss ab: eine anzweifelbare und auch nicht mehr ganz aktuelle Auswahl!

Insgesamt vertreten die beiden Autoren ein zugleich einfaches und kompliziertes Kompositions- und Redaktionsmodell: einfach insofern, als immer die Grundunterscheidung zwischen Redaktion und vorredaktionellen Quellen eingehalten wird; kompliziert insofern, als mit sehr diversem und auf sehr verschiedenen Stufen ins dtrG gelangtem Quellenmaterial sowie mit einer vielstufigen Redaktionsarbeit gerechnet wird.

Um beim Letzteren zu beginnen: Ausgangspunkt ist Martin Noths Hypothese von einem von Dtn bis 2Kön reichenden dtrG. Noths Vorstellung eines einzigen, in der Exilszeit wirkenden Verfassers wurde in der Folge bekanntlich modifiziert. Es bildeten sich zwei Hauptmodelle einer mehrfachen Redaktion heraus: das von F. M. Cross begründete sog. Blockmodell, das ein Grundwerk schon aus der Zeit Joschijas und dessen Erweiterung und Bearbeitung in exilischer Zeit annimmt, und das sog. Schichtenmodell, begründet von R. Smend, das von mehreren, aufeinander folgenden Redaktionen ab der exilischen Zeit ausgeht. Campbell und O'Brien folgen grundsätzlich der Crossschen Theorie eines joschijanischen dtrG, öffnen sich der Smendschen aber insoweit, als sie mit mehrfacher Überarbeitung ("revision") ab der Exilszeit (und darüber hinaus noch mit einem beträchtlichen nach-dtr Textwachstum) rechnen.

Im vorliegenden Buch ist das joschijanische Geschichtswerk ("DH") die entscheidende Textebene, die durch Fettdruck im Bibeltext gebührend hervorgehoben wird. Dieses Werk, das von Mose über Josua, die sog. Retter, David und Hiskija auf Joschija zielte, hatte eine positiv-optimistische Sicht der Geschichte Israels (und damit auch des davidischen Königtums, des Tempels usw.). Alles, was sich dieser Tendenz einfügt, wird prinzipiell DH zugerechnet, alles andere gilt als später hinzugekommen: natürlich der über Joschija hinaus bis ins Exil reichende Textbestand (2Kön 23,26-25,30), aber schon zuvor alle Vorblicke auf die Exilskatastrophe, dazu pessimistisch anmutende Passagen wie der Abschied Josuas (Jos 23 f.), die Herrschaft Abimelechs (Ri 8 f.), der Niedergang des vorstaatlichen Israel (Ri 13-21), der Abschied Samuels (1Sam 12), die Reflexion über den Untergang Nordisraels (2Kön *17), das Sündenregister Manasses (2Kön *21), obendrein Lieder und Listen wie Dtn 32 f., Jos 13-22 und 2Sam 21-24 und noch manches andere.

Zurück bleibt ein stark redimensioniertes und in seiner Tendenz eindeutiges Geschichtswerk DH. Hier stellt sich eine Frage von nicht nur literarhistorischer, sondern auch theologischer Bedeutung: Ist es sachgerecht und sinnvoll, alle Texte mit einer einigermaßen positiven Tendenz in ein optimistisches Zeitalter und alle eher negativ getönten in ein pessimistisches Zeitalter zu datieren? Die Texte werden dabei zu ungebrochenen Widerspiegelungen der jeweiligen Realität. Könnte aber nicht auch in guten Zeiten auf Schlechtes und in schlechten Zeiten auf Gutes verwiesen werden? Die biblische Literatur dürfte großenteils "antizyklisch" konzipiert sein: als Widerspruch gegen das Vorfindliche oder doch als dessen Differenzierung. Angewandt auf das dtrG (das entgegen Cross und allen seinen Anhängern einschließlich der beiden Autoren in und nach der Exilszeit entstanden sein wird): Die Redaktoren können optimistische Texte formuliert oder aufgenommen, sie können sie aber auch durchbrochen und hinterfragt - und sie können ebenso pessimistische Texte formuliert oder aufgenommen und auch sie wieder durchbrochen und hinterfragt haben. Angemessener als die Texttrennung nach Tendenzen ist die Wahrnehmung des Tendenzgeflechts, der Dialektik von Positiv und Negativ, von "Gesetz" und "Evangelium" im dtrG.

Auch die Art, in der die Autoren vor-dtr Quellenmaterial sichten und ordnen, lässt den Hang zu literarkritischen Urteilen allein auf Grund inhaltlicher bzw. tendenzkritischer Erwägungen erkennen. Die dafür gelegentlich angeführten "Textsignale" tragen kaum die weitreichenden literarhistorischen Schlussfolgerungen. Zu wenig wird mit dem Traditionscharakter der biblischen Literatur und mit den ihr innewohnenden ambivalenten oder dialektischen Zügen gerechnet.

Für die Landnahmezeit rechnen die beiden Vff. mit einer "pre-DH conquest narrative" innerhalb von Jos 1-12, für die Richterzeit mit einer "pre-DH deliverance collection" innerhalb von Ri 3-12: ungeachtet dessen, dass die Existenz vor-dtr Zusammenstellungen von Landnahme- oder Rettersagen in der Foschung äußerst strittig ist. Natürlich sind die postulierten Textkorpora positiv-optimistisch ausgerichtet und waren damit für die Aufnahme in DH prädestiniert.

Der DH-Darstellung der frühen und mittleren Königszeit soll, nach schon älterer These C.s, ein "Prophetic Record" zu Grunde liegen: entstanden im 9. Jh. in Juda, reichend von 1Sam 1 bis 2Kön 10 (215 f.), in sekundärer Erweiterung sogar bis 2Kön 17 (443). Nun ist, namentlich in den Samuelbüchern, die Existenz eines ausgedehnten vor-dtr Textstratums zwar eine durchaus glaubhafte Annahme; ob dieses aber bis in die Mitte des zweiten Königsbuches reicht (und nicht vielmehr nur bis an den Anfang des ersten) und ob es prophetisch geprägt ist (und nicht vielmehr höfisch-weisheitlich), das mag man füglich bezweifeln. Laut C. und O'B. war das Thema dieser Schrift das Verhältnis zwischen Propheten und Königen, beispielhaft dargestellt im Positiven an Samuel und David und im Negativen an Elija und Ahab. (Bestehen aber nicht zwischen der sog. Aufstiegsgeschichte Davids und den Elijaerzählungen erhebliche Unterschiede, gerade auch in ihrem [Nicht-] Geprägtsein durch prophetisches Gedankengut?)

Einerlei, entlang dem einmal gelegten heuristischen Leitfaden wird der gesamte Textbestand von 1Sam 1 bis 2Kön 17 durchmustert und alles vermeintlich seitab Liegende als nicht zum "prophetic record" gehörig erklärt - und das ist viel: die Ladegeschichte (1Sam 4-6; 2Sam 6), der Großteil der Debatte um die Staatsgründung (1Sam *7-12), die Saulgeschichte (1Sam 13f.), die gesamte sog. Thronfolgegeschiche (2Sam 8-20, trotz des Prophetenauftritts in 2Sam 12, und trotz der vielfältigen Verzahnungen mit der sog. Aufstiegsgeschichte Davids), fast die gesamte Salomo-Überlieferung (1Kön 1-11, merkwürdigerweise bis auf 2,10.12; 3,1; 9,15.17b-19.24 sowie einige Verse in 1Kön 11), auch in der Folge vieles, darunter durchaus "Prophetisches" (z. B. 1Kön 13; 17; 19 f.; *22 sowie die gesamte Elischa-Tradition; das Letztere ist fast ein wenig modisch geworden, doch muss, wer dieser Mode folgt, die vielen Verbindungslinien zwischen Elija- und Elischa-Überlieferung erklären). Auf der anderen Seite wird dem "Prophetic Record" manches zugeschlagen, was literarisch kaum ins 9. Jh. zurückreicht (z. B. 1Sam 15 oder 2Sam *7) oder was kaum als "prophetisch" erscheint (viele Daviderzählungen etwa oder ausgedehnte annalistische Passagen in den Königsbüchern, z. B. 1Kön 15,27-29a; 16,9-11.15-18. 21-24 - abzüglich jeweils nur der synchronistischen Datumsangaben, die DH eingefügt haben soll).

Die Rahmen- und Annalentexte für die judäischen Könige stammen angeblich aus anderer Quelle (ist das plausibel?): aus einer "hiskijanischen Königsliste" ("HKL"). Diese habe bereits die religiösen Beurteilungen enthalten, die man gemeinhin (und mit Recht!) für typisch dtr hält (z. B. 1Kön 15,3.8.11.14.24; 2Kön 8,18.24.27; 12,2 f.). Die religiösen Negativurteile über die Nordreichskönige - namentlich der Vorwurf des Verharrens in der "Sünde Jerobeams" (z. B. 2Kön 13,2.11) - hätten wiederum schon im "prophetic record" gestanden (obwohl auch sie als klassisch dtr gelten); nur der regelmäßige Verweis auf die "Tagebücher der Könige" in den Königs-Schlussformeln sei Beigabe von DH.

Innerhalb der nach-joschijanischen, exilischen Nachbearbeitung wird zwischen einer Revision mit "royal focus" und einer solchen mit "national focus" unterschieden; die eine suche die Schuld für das Debakel von 587 bei den abtrünnigen Königen, die andere beim sündigen Volk. Die Autoren deuten an (19), dass hinter dieser Differenzierung die Annahme einer zweifachen Bearbeitung steht - nicht unähnlich der Unterscheidung zwischen "historischer" und "nomistischer" Redaktion im Smendschen Schichtenmodell (wobei für die dritte, die "prophetische" Redaktion wegen des "prophetic record" natürlich kein Platz ist). Es fragt sich indes, ob "royal" und "national" geeignete Kriterien für die Feststellung von Textschichten sind. Im Richterbuch etwa wird, mangels Königen, das Volk des Abfalls von JHWH bezichtigt, und zwar auch schon auf relativ früher Redaktionsebene. (Ri 13,1 wird, S. 199 f., DH zugewiesen - warum nicht der "national revision"?) Von Jerobeam heißt es regelmäßig - und ähnlich auch von Ahab und von Manasse -, sie hätten das Volk zur Sünde verführt, und in der Reflexion auf den Untergang des Nordreichs (2Kön 17,7-23) ist zwar überwiegend das Volk Auslöser des göttlichen Zorns, doch in dem unverkennbar spät-dtr Vers 17,8 werden die "Könige Israels" in die Schuld einbezogen.

Den Passus 2Kön 17,7-20, der kaum aus einem Guss sein dürfte, weisen C. und O'B. geschlossen der "national revision" zu (441 f.), 17,21-23 dagegen, einen (prophetisch-)dtr Text, dem "prophetic record" (442 f.). Umgekehrt teilen sie den insgesamt wohl spät-dtr Passus 1Kön 9,1-9 wenig überzeugend so auf: V. 1 f. vor-dtr, V. 3-5 DH, V. 6-9 jung, aber weder "royal" noch "national", sondern jeremianisch-dtr (359 f.); hierzu rechnen sie gleich noch den (vermutlich weit vor-dtr) Passus V. 10-14 (361). Wenig einleuchtend ist auch die Behauptung, in 1Kön 11 seien die Berichte von den Gegnern Salomos V. 14-25 nach-dtr eingefügt, derjenige von der Designierung Jerobeams durch Ahia V. 26-31.33 aber dem alten "prophetic record" entnommen (369 f.).

Auch wenn sich an den Urteilen der Vff. zur Textdiachronie im Großen wie im Einzelnen mancherlei kritisieren lässt, bleiben doch der Mut und das didaktische Geschick zu bewundern, mit denen sie den Versuch wagen, gleichsam die Wachstumsringe des dtrG freizulegen und sich prinzipiell bei keinem Text um die literarhistorische Einordnung zu foutieren. In den Anmerkungen finden sich viele wertvolle Textbeobachtungen und Literaturhinweise, so dass man das Werk namentlich zum Einstieg in die Arbeit sowohl am dtrG als Ganzem als auch an einzelnen Texten bzw. Textbereichen mit Gewinn zu Rate ziehen wird. Und natürlich bietet das Buch, so wie es angelegt ist, die Möglichkeit, rasch einmal festzustellen, was zur Einordnung dieser oder jener Stelle "Campbell und O'Brien sagen". (Ob man dem dann folgen will, ist eine andere Frage.)