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Ausgabe:

Juli/August/2002

Spalte:

730–734

Kategorie:

Religionswissenschaft

Autor/Hrsg.:

Grunberger, Béla, u. Pierre Dessuant

Titel/Untertitel:

Narzißmus, Christentum, Antisemitismus. Eine psychoanalytische Untersuchung. Aus dem Franz. übers. von M. Looser.

Verlag:

Stuttgart: Klett-Cotta 2000. 514 S. gr.8. Geb. ¬ 45,00. ISBN 3-608-91832-9.

Rezensent:

Georg Lämmlin

Die selbstkritische Auseinandersetzung mit dem christlichen Antijudaismus in seinem Verhältnis zum modernen Antisemitismus wird in dieser Studie auf der Basis einer psychoanalytischen Narzissmus-Theorie zugleich radikalisiert und konterkariert. Radikalisiert wird sie, insofern der christliche Antijudaismus in seiner begründenden und bestimmenden Bedeutung für den modernen Antisemitismus präzisiert wird. Konterkariert wird die selbstkritische Reflexion innerhalb der christlichen Theologie, insofern im Neuen Testament, dem Gründungstext des Christentums, die strukturelle Basis des Antijudaismus/Antisemitismus nachgewiesen wird, so dass einer christlichen Selbstreflexion die Basis entzogen wird. Auf der Basis und im Rahmen einer psychoanalytischen Kulturtheorie wird in dieser Studie Antisemitismus als Ausdrucksform eines Narzissmus plausibilisiert, der im vorgeburtlichen Erleben verankert ist und die Konfrontation mit der Realität als Kränkung erlebt (28.39 f.43 u. ö.).

Das Christentum nun gilt den Autoren als Religion des Narzissmus und als Ausdrucksform der narzisstischen Kränkung durch die ödipale Form der jüdischen Vater-Religion par excellence. Gerade in der Gestalt seines Gründers, des Christus der Evangelien, stellt es den Typus des religiösen Narzissten dar, der an der ödipalen Reifung vorbei seinen Narzissmus rein erhält, als das Empfinden göttlicher Einheit mit dem Universum, an allen Aspekten der Realität vorbei (83). Die antisemitische Grundstruktur des Christentums sei daher in der Gestalt seines Gründers gegeben, oder jedenfalls in dessen Gestaltung in den Evangelien. Auf diese Grundthese des Buches lässt sich theologisch daher nicht einfach mit einer Bewegung ad fontes reagieren, weil nach dieser These bereits mit der Entstehung des Christentums nicht nur der Konflikt mit dem Judentum, sondern- auf der Basis der narzisstischen Grundstruktur seines "Gründers" und deren ödipaler "Kränkung" - auch die Grundstruktur von dessen aggressiv-antisemitischer Verarbeitung gegeben ist.

Béla Grunberger (*1903) gilt als "einer der international geachtetsten Analytiker", er "hat immer wieder auf die narzißtischen Wurzeln des Phänomens Nationalsozialismus hingewiesen" (Klappentext). G. hat in seiner psychoanalytischen Narzissmus-Theorie den Konflikt zwischen dem Triebleben und den Ich-Funktionen (insbesondere des Ich-Ideals) und deren (gescheiterte) Integration ins Zentrum gestellt (Vom Narzißmus zum Objekt, Frankfurt 1976; Narziß und Anubis. Die Psychoanalyse jenseits der Triebtheorie. 2 Bde., Wien 1988).

Pierre Dessuant (*1934) ist Psychoanalytiker in Paris, das Literaturverzeichnis weist ebenfalls eine, allerdings nicht ins Deutsche übersetzte, Untersuchung zum Narzissmus aus (Le Narcissisme, Paris 1983). Er hat in der Reihe "Psychoanalystes d'aujourd'hui" ein mir nicht zugängliches Porträt von Grunberger verfasst (Paris 1999).

Das Buch ist in sechs Teile gegliedert: I. Der Narzißmus - II. Christus - III. Das Christentum - IV. Antijudaismus und Antisemitismus - V. Antisemitismus - VI. Der Antisemitismus Hitlers.

Ausgehend von einer spezifischen Lesart des Grimmschen Märchens "Der Jude im Dorn" (Ein "einfältiger" Knecht wird von einem "kleinen Männlein" mit Attributen narzisstischer Allmacht ausgestattet und rächt sich damit am "Juden im Dorn", dem auch die Berufung auf das Recht nicht hilft, sondern schließlich zum Verhängnis wird. Das "kleine Männlein" wird als Christusbild identifiziert.) wird schon in der Einleitung die zentrale These entwickelt, mit der Entstehung des Christentums sei deshalb ein ursprünglicher antisemitischer Konflikt und Affekt verbunden, weil es den Judaismus als "Zerstörer der christlichen Illusion" erfahre: "Der Judaismus zerstört im Grunde die narzißtische Himmelfahrt, das heißt, das Wunder" (23). Das Judentum repräsentiere zum einen das ödipale Gesetz und damit den Realitätsaspekt, den der Narzisst in seiner Reinheits- und Allmachtsillusion verleugnen muss. Zum anderen ist es die Instanz und der Ort von Schuldgefühlen, weil sich das narzisstische Christentum als Verrat am Judentum empfinden muss, von dem es sich herleitet. Nun erfolge eine doppelte, projektive Umkehr: Auf das Judentum wird zum einen der Schuldvorwurf, zum anderen die vom Narzissten geleugnete Triebhaftigkeit (insbesondere in ihren analen Aspekten) projiziert, kulminierend in der antisemitischen Figur der Christusmörder (311).

In einer Anmerkung wird die biographische Anekdote erzählt, wie in einem Dorfe in Mitteleuropa zu Beginn des 20.Jh.s "ein kleiner jüdischer Junge verzückt der katholischen Prozession zum 15. August (Mariae Himmelfahrt)" beiwohnte; das "kleine Mädchen, ganz in Weiß gekleidet, das die Jungfrau verkörperte, bemerkte ihn: Schafft mir diesen Judenjungen weg!, befahl sie [...] Das kleine Mädchen konnte es nicht ertragen, dass ein jüdisches Hindernis seine narzißtische Himmelfahrt störte [...] Der kleine Junge aus dieser wahren Geschichte wurde, nachdem er erwachsen geworden war, Psychoanalytiker; dies ermöglichte ihm unter anderem, das antisemitische Geheimnis besser zu verstehen" (23A). Ohne dass dies ausdrücklich erklärt würde, dürfte es sich um eine Erinnerung von G. handeln, der damit seine persönliche Verwicklung mit dem Thema in einem "erste[n] Kontakt mit der Verfolgung" (ebd.) beschreibt. Die in seinen Publikationen erkennbare fortdauernde Beschäftigung mit dem Komplex wird hier in der umfassenden kulturanthropologischen These des Zusammenhangs von Narzissmus, Christentum und Antisemitismus verdichtet.

Durch die einzelnen Teile hindurch wird die Grundthese in ihrer konstanten Struktur entwickelt: Den Ausgangspunkt bilde die Vorstellung eines primären Narzissmus, der im pränatalen Erleben des Fötus begründet sei, in einer "pränatalen Koenästhesie" im uterinen "Paradies", die im Gefühl einer Hochstimmung, der Erhabenheit, Unendlichkeit, Unsterblichkeit und Reinheit bestehe (43). Dieses Gefühl werde durch die Geburt, die "eine Kastration des Narzißmus" darstellt (51), unterbrochen, bleibe aber in der postnatalen Existenz des Säuglings in schwächerer Form zunächst erhalten. Die Konflikte mit der Realität der Außenwelt, die im Aufbau der Anpassungsinstanz, des Ich, erfahren werden, könnten dann, über die ödipale Reifung, zu einer Integration des narzisstischen Trieberlebens und zur Gestalt eines "sekundären" Narzissmus in einem "reifen" Ich führen. Andernfalls könne die narzisstische Traumatisierung zu einer Verdrängung des (ödipalen) Konfliktes mit der Realität und zum Festhalten des primären Narzissmus führen, das mit dem "Abspalten" des Trieberlebens, insbesondere seiner analen Dimension, und dessen Projektion auf einen Repräsentanten der "ödipalen" Realität verbunden werde. Auf den "Juden" als Repräsentanten des ödipalen Gesetzes werde die verdrängte eigene, insbesondere sexuelle Triebstruktur projiziert und mit fäkalen Entwertungen belegt. Darin äußere sich zugleich die projektive Umkehr des narzisstisch gestörten Schulderlebens, das von der "Unreinheit" der eigenen (verdrängten) sexuellen und insbesondere analen Triebregungen gegenüber dem narzisstischen "Reinheitsideal" herrührt.

Diese allgemeine, anthropologisch fundierte Struktur und Entwicklungslinie des Narzissmus, die eine phylo- und eine ontogenetische Linie aufweise, sei genuin antisemitisch formiert, denn das Judentum bilde nun die Projektionsfläche der narzisstischen Aggression, weil es die religiöse Repräsentation des ödipalen (Realitäts)Prinzips sei, die "Einführung des über-ich-haften Vaterprinzips in die Geschichte des Menschen", die "mit der Einführung der Verantwortung, der Freiheit und des Rechts" einhergehe (257). Damit ist bereits der Konflikt mit dem Heidentum, "der primitiven mütterlich-narzißtischen Dimension" (254) von Religion, angelegt. "Der jüdische Monotheismus vertrieb den Menschen aus seiner narzißtischen Galaxis, wo er mit der Gottheit verschmolzen war, und brachte ihn auf die Erde zurück; er entfernte ihn aus seiner mütterlichen Umhüllung, aus seinem geheiligten Pantheon" (254).

Diese ursprüngliche Traumatisierung des "heidnischen" Narzissmus durch das väterliche Gesetz der jüdischen Religion (zugleich des Repräsentanten der Triebrealität und Gesetzes der ödipalen Reifung) werde nun zwischen Judentum und dem Christentum als der von ihm ausgehenden narzisstischen Regression wiederholt und verstärkt. Es komme zu "projektiver Umkehrung" (204): "Die Anklage gegen die Juden, Christus ermordet zu haben, läßt sich unter anderem als unbewußter Versuch deuten, das (ebenfalls unbewußte) christliche Schuldgefühl, mit der Inthronisierung des Sohnes den Vater getötet zu haben (ödipaler Mord), zu wenden und nach außen zu projizieren" (201). Die Kernfigur antisemitischer Aggression, die Verfolgung der Juden als Gottesmörder, sei so im ursprünglichen Verhältnis des Christentums zum Judentum verankert und habe sich bereits in den Evangelien ausgebildet. Deshalb führe auch die Unterscheidung zwischen (christlichem) Antijudaismus und (rassistischem) Antisemitismus nicht aus der Verknüpfung von Narzissmus und Antisemitismus im Christentum heraus, weil sich auch ein rassistisch gefärbter Antisemitismus dieser Kernfigur bedient (273). Über die Stationen des Christusbildes der Evangelien, der Herausbildung des kirchlichen Christentums und der zugehörigen antijudaistischen Polemik wird die Entwicklung zum modernen Antisemitismus bis zu seinem aggressivsten Exponenten, Adolf Hitler, verfolgt. Die psychoanalytische Antisemitismustheorie (R. Loewenstein, Psychoanalyse des Antisemitismus, Frankfurt 1968) wird hier unter dem Aspekt der narzisstischen Traumatisierung modifiziert: Die daraus erwachsende narzisstische Aggression, die in der Judenvernichtung durchbricht, sei "archaischer", oder "anubischer" verfasst als die ödipale, "reife" Form von Aggression (216, vgl. 372 f.), hier geschieht der Mord "im Namen der Reinheit und des Glaubens" (296).

Eine Auseinandersetzung mit der Argumentation im Einzelnen ist hier nicht möglich. Das gilt auch für die zu Grunde gelegte Narzissmus-Theorie G.s, die eine spezifische Freud-Lektüre mit dem Konstrukt des pränatalen Erlebens verknüpft. Die Bedeutung "vor-ödipaler" Interaktion, insbesondere die eigendynamische Ebene des Spracherwerbs, und des damit gegebenen sozialen Rahmens für den Aufbau von Ich-Aspekten wird einseitig zu Gunsten des Konzepts einer narzisstischen, monadischen Verschmelzung mit der Mutter abgeblendet. Im Blick auf die zentrale These vom christlichen Ursprung des modernen Antisemitismus fällt nur auf, dass G. bereits 1962 zwar dieselbe These der Verknüpfung des narzisstischen Traumas und der Vermeidung der ödipalen Reifung mit dem Antisemitismus vorgetragen hatte, aber ohne eine solche zentrale Gleichsetzung des Christentums mit Narzissmus und Antisemitismus (im Vortrag "Der Antisemit und der Ödipuskomplex" auf dem IV. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychotherapie und Tiefenpsychologie, Wiesbaden 1962, abgedruckt in: Psyche 16, 1962, 62, 255-272, jetzt in: Narziß und Anubis, I,1-23). Hier gilt der Antisemitismus wesentlich als "eine Variante ödipaler Beziehungen" (a. a. O., 268), deren Frustrationspotentiale im Christentum sogar noch durch die Heiligung der Mutterfigur gemildert erscheinen (a. a. O., 265). Allerdings gilt auch hier schon: "Die stärkere Einbeziehung des mütterlichen Elementes führte zur Entfachung des jüdisch-christlichen Konfliktes im Unbewußten" (a. a. O., 266). Im Verlauf der weiteren Publikationen zu diesem Themenfeld, der sich über die gesammelten Aufsätze verfolgen lässt, ergibt sich dann eine Verdichtung der hier vorgelegten These bis hin zu Hitlers Antisemitismus ("Von der Monade zur Perversion. Ein Modus zur Vermeidung des Ödipuskonfliktes", 1986, II, 206-223).

Die Lektüre der Evangelien enthält trotz der voreingenommenen Hermeneutik bemerkenswerte Aspekte.

Beispielsweise wird der anti-moralische Charakter der "Seligpreisungen" ersichtlich, wenn sie in den Kontext eines narzisstischen Ich-Ideals gestellt werden, das aus der Verschmelzung mit der Mutter ("Bemutterung") lebt: "Da das Über-Ich fehlt, kann man nicht von Moral sprechen, weil diese ihrem Wesen nach ödipal ist. Es gibt deshalb eine bestimmte christliche ,Moral, und man kann das moralische Ideal des Evangeliums als der strengen ödipalen Moral überlegen betrachten: als mitleidsvoller, großzügiger, barmherziger, sie transzendierend. Es handelt sich gewissermaßen um eine Luxus-Moral, denn die Evangelienmoral ist zwar ästhetisch gesprochen eine überaus schöne Konstruktion, aber ihr Fehler besteht darin, daß sie nicht anwendbar, da kaum nützlich ist." (139) Auch wenn sie im Ton zu einseitig ist, konturiert diese Interpretation doch scharf das mit der Bergpredigt gegebene Problem einer das göttliche Gesetz transzendierenden evangelischen Ethik. - Auffällig ist allerdings für mich, dass dabei die Ebene der Gegenübertragungs-Analyse fehlt: Das eigene, affektiv konfigurierte Textverständnis wird nicht daraufhin befragt, inwiefern es sich nicht der Übertragungsdynamik der Lektüre verdankt und insofern gerade eine aufdeckende Wirkung des Textes darstellt.

Weiterhin ist anzumerken, dass die Studie zwar die deutschsprachige (psychoanalytische) Literatur zum Antisemitismus und einen französischen Beitrag zum theologischen Dialog mit Israel (D. Cerbelaud, 1995) aufgreift, nicht jedoch den exegetischen Diskurs, der explizit antijudaistische Aspekte und Strukturmomente im Neuen Testament aufarbeitet (H. Thyen, K. Wengst u. a.), insbesondere im Blick auf das Johannes-Evangelium, dem "judenfeindliche[n] Evangelium" (M. Brumlik, 1990), das für die Autoren im Zentrum des narzisstischen Christus-Bildes steht (159 ff.). Das Problem der nationalsozialistischen Judenvernichtung wird im Rahmen des Psychogramms von Hitler und der Geschichte des Antisemitismus (Poliakov, Goldhagen) verhandelt, ohne dass weitergehende historiographische und politologische, insbesondere totalitarismustheoretische Konzepte zum Nationalsozialismus (etwa von H. Arendt) grundlegend berücksichtigt würden. Der pauschale Begriff vom "Christentum" erscheint, nicht nur in seinem über den Narzissmus vermittelten Anschluss an den Antisemitismus Hitlers, eben so wenig tragfähig wie ein undifferenzierter Begriff "des" Judentums. (Die "ödipale" Stilisierung des Judentums insbesondere im Verhältnis zum narzisstischen Christentum läuft Gefahr, selbst von der Dynamik und spezifisch antisemitischen Formation des unbewussten Konflikts abhängig zu werden, d. h. eine projektive Identifikation darzustellen.)

Ungeachtet dieser Schwierigkeiten fordert die Studie zu einer vertieften Bearbeitung des Antijudaismus im Neuen Testament und in der christlichen Theologie in seiner Beziehung zum modernen Antisemitismus heraus, deren Kern eine durch Gegenübertragungsanalyse reflektierte Lektüre der Evangelien bzw. Re-Lektüre der "Schrift" in den Evangelien sein könnte. Der christliche Glaube wäre dann in seiner anti-narzisstischen, ödipalen Reifung durch einen nicht projektiven, sondern analytischen Umgang mit den Evangelien und dem Neuen Testament bestimmt, der gegenüber den Texten und sich selbst gegenüber ambivalenzfähig wäre. So ließe sich die Studie in die Entwicklungsgeschichte der Hermeneutik einschreiben als psychoanalytischen Beitrag zum Thema "Sünde" im Verstehen, d. h. zur identifikatorischen Einschreibung des sensus proprius in den Text.