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Ausgabe:

Juni/2002

Spalte:

705–708

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Kunz, Ralph

Titel/Untertitel:

Gottesdienst evangelisch reformiert. Liturgik und Liturgie in der Kirche Zwinglis.

Verlag:

Zürich: Pano-Verlag 2001. XII, 499 S. 8 = Theophil, 10. Geb. ¬ 42,00. ISBN 3-907576-34-9.

Rezensent:

Jörg Neijenhuis

Mit der vorliegenden Studie wurde Ralph Kunz im Dezember 2000 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn habilitiert. K. hebt hervor, dass er den reformierten Predigtgottesdienst trotz des schlechten Rufs, den er mit seiner wortlastigen, erlebnisarmen und sinnenfeindlichen Liturgie hat, doch als sinnstiftend für eine Liturgik der Gegenwartskultur ansieht. Deshalb plädiert K. für einen respektvollen Umgang mit der eigenen reformierten Gottesdienstgeschichte und möchte das evangelisch Reformierte ins rechte Licht rücken.

Das ist aber angesichts einer Gegenwartskultur, die auch in der reformiert geprägten Schweiz erlebnisreich und sinnenfroh daherkommt, ein gewagtes Unternehmen, zumal K., um diesen Dialog aufzunehmen, zum Instrumentarium der Semiotik - der Lehre von den Zeichen - greift. Peirce, Morris, Eco und ihre Rezeption auf dem Feld der Liturgik, meist auch noch von lutherischen (!) Theologen besorgt, welche, wie die Semiotik überhaupt, dezidiert von der sinnlichen Wahrnehmung ausgehen, bilden das Instrumentarium, um den reformierten Gottesdienst für die Gegenwartskultur fruchtbar zu machen. Da aber der reformierte Gottesdienst das nicht sinnlich Wahrnehmbare in seinen Mittelpunkt stellt, hat sich K. mit dieser Methodenwahl vor nicht geringe Probleme gestellt, und sie werden nicht weniger dadurch, dass sich - reformierte - Kirchen angesichts der Gegenwartskultur in einem umfassenden Transformationsprozess befinden. So legt er in der Studie eine Praxistheorie vor, die den Gottesdienst in der Kirche Zwinglis aus drei Perspektiven darstellt: geschichtlich, systematisch-praktisch und strategisch.

Zunächst erhellt er geschichtlich, welche Anliegen Zwingli zur Gottesdienstreform in Zürich bewogen haben, dann geht er auf den von Zwingli in Gegensatz gesetzten inneren und äußeren Gottesdienst ein, wendet sich anschließend den Zeichensprachen des Gottesdienstes - Bilder, Musik, Wort - zu, um daraufhin Zwinglis Sakramentslehre in den Blick zu nehmen. Zwinglis Theologie und Gottesdienstreform reflektiert K., wie schon oben erwähnt, mit Hilfe der Semiotik. Dies ist aus zweierlei Gründen gewagt: Zum einen, weil Zwingli alle Zeichen - Bilder, Musik, Altar etc. - und damit ganze Zeichensprachen aus seinen Kirchen verbannt hat, um der Zeichensprache des Wortes den absoluten Vorrang einzuräumen. Das geschah in der Absicht, mit dieser Zeichensprache das Geistige, das nach Zwingli sinnlich nicht erfahrbar ist, ganz in den Vordergrund zu rücken. Zum anderen, weil Zwingli auf die Zeichenlehre des Augustinus zurückgegriffen hat, die aber dyadisch und nicht wie die moderne Semiotik nach Peirce u. a. triadisch konzipiert ist. Selbstverständlich operierte Zwingli gegen die damit verbundene substanzontologische Auffassung insbesondere der Sakramentszeichen, aber diese Zielrichtung ist der modernen Semiotik nicht eigen. So entdeckt K. bei Zwingli gerade darin und insbesondere in der Reform des Abendmahls einen Fundamentalwiderspruch. Denn auch das Sprechen und Hören, dann das Essen und Trinken von Brot und Wein bilden einen sinnlichen, wenn auch keinen notwendig zeremoniellen Vorgang, den Zwingli zugestehen muss. Die Auseinandersetzung Zwinglis mit den Zeichen bleibt nach K. deshalb ungenügend, weil Zwingli nur den Missbrauch der Zeichen sieht, aber keine Perspektive für den positiven Gebrauch von Zeichen eröffnet. Diese Perspektive bekäme angesichts der Gegenwartskultur aktuelle Bedeutung. Deshalb versucht K. nun, in paradoxen Formulierungen - immer in Auseinandersetzung mit Zwinglis Zeichenlehre - eine positive Perspektive zu eröffnen.

So ist die Sache der gottesdienstlichen Handlung "die Darstellung eines prinzipiell nicht darstellbaren inneren Wirkens Gottes vor allen Zeichen in den sichtbaren Zeichen der Kirche" (174). K. verortet auf dem Hintergrund zwinglischer Zeichenlehre Gottes Gegenwart vor und zwischen den Zeichen, und nicht - lutherisch - in, mit und unter den Zeichen. Er kommt zu dem Schluss, dass Zwingli die Mitteilung Gottes nicht sprachlos, wohl aber zeichenunabhängig denken will und somit das Wort Gottes übersprachlich aufzufassen sei. Deshalb ist der kultische Gottesdienst als Glaubensäußerung für Zwingli sekundär, primär ist dagegen der innere Gottesdienst, der sich nur im Herzen, also im Geist und in der Wahrheit ereignet. In weiterer Auseinandersetzung mit dem Sakramentsverständnis fragt K. kritisch, ob durch Verweisung der Begegnung Gottes mit den Menschen in die Verborgenheit der Seele überhaupt noch von einer sakramentalen Handlung gesprochen werden kann. Das Abendmahl als Rollenspiel, als Nachahmung der Evangelienerzählung aufzufassen, könnte dagegen für die Gegenwart neue Impulse freisetzen.

Auf die geschichtliche Reflexion folgt die systematisch-praktische Perspektive. Dabei orientiert sich K. an der Dreiteilung der Semiotik nach Charles W. Morris: Der Gottesdienst wird pragmatisch als Sprachspiel, syntaktisch als Spielraum und semantisch als Wahrnehmungsfeld aufgefasst. Es ist hier unmöglich, die vielen Einzelbeobachtungen und die Auseinandersetzungen mit reformierten wie lutherischen Theologen wiederzugeben, die K. abwägend, manchmal auch etwas langatmig referiert und teilweise bewertet, um Überlegungen für ein reformiertes Gottesdienstverständnis der Gegenwart vorzutragen. Auch dabei geht es ihm nicht um eine konfessionelle Apologetik, sondern darum, das reformierte, das zwinglische Anliegen mit seinen Stärken und trotz seiner Schwächen für die Gegenwart fruchtbar zu machen.

Zunächst fragt K. nach den Grundlagen reformierter Liturgie; es kommen ihre Grundstruktur, dann zwei reformierte Theologen - Robert Leuenberger und Theophil Müller - zur Sprache, um die Frage aufzuwerfen, was denn eigentlich reformiert sei. Abschließend wird eine liturgische Semiotik erörtert.

Der Gottesdienst wird pragmatisch als Sprachspiel verstanden, das unter der evangelischen Metaregel "Wort Gottes" gespielt wird, aber so, dass für dieses Spiel zwar Regeln, also eine Grammatik, zur Verfügung steht, aber keine feststehenden Texte oder Wörter. (Ob das generell so stimmt, ist zu bezweifeln: Stehen nicht die Wortfolgen der wie auch immer ausgewählten Bibeltexte als Schriftlesungen fest und ggf. auch die als liturgische Texte gebrauchten Wortfolgen des Vaterunsers, der Einsetzungsworte etc.?) Damit bleibt gesichert, dass menschliches Wort und Gottes Wort nicht verwechselt werden können. Es stellt sich die Frage nach dem Spielraum, in dem die Zeichen aufeinander treffen und ggf. von einer Syntax sinnvoll aufeinander bezogen werden. Hierfür legt K. den fünfschrittigen Gottesdienst der Zürcher Kirche zu Grunde: Für den Predigtgottesdienst gilt die Struktur "Sammlung - Anbetung - Verkündi- gung - Fürbitte - Sendung", für den Abendmahlsgottesdienst "Sammlung - Verkündigung - Fürbitte - Abendmahl- Sendung"; diese Struktur wird als Weg gedeutet. Dieser Weg nun soll nicht in pädagogisch-katechetischer Absicht, sondern psychagogisch gegangen werden. Dieses Modell wird verglichen mit der Grundstruktur der Erneuerten Agende für die lutherischen und unierten Kirchen in Deutschland, dann wird die Wegstruktur als eine Erlebniseinheit und als Inszenierung des Evangeliums gedeutet, um dann wiederum alles anhand der Selbstpräsentation des Heiligen, wie Josuttis vorgetragen hat, zu reflektieren.

Daraufhin hält K. hinsichtlich der Semantik für das Wahrnehmungsfeld Gottesdienst fest, dass von einer Kopräsenz Gottes in der gottesdienstlichen Situation ausgegangen werden kann, denn der Gottesdienst wird als Kommunikationsereignis des Geistes aufgefasst. Die Deutung Gottes wird mit der Kommunikation kopräsent mit Gottes Selbstdeutung. Dieser Schritt war Zwingli nicht möglich, da für ihn Gott kein wahrnehmbarer Gegenstand gewesen ist. Hier aber wird von einem Feld von Wahrnehmungen, von Kommunikation, gar davon ausgegangen, dass der Geist eine Vollzugsform des Gott-Feldes ist, so dass nach Zwinglis Diktion doch das äußere und innere Wort zusammenfallen bzw. kopräsent sind.

Anschließend wird nach der dritten Perspektive, der Strategie gefragt. K. beantwortet diese Frage - allerdings ohne den Begriff nochmals aufzunehmen - mit der Frage nach der liturgischen Bildung. Ohne Bildung über den Sinn von gottesdienstlichen Vorgängen, ohne Kenntnis darüber, in welchem Verständnis man gewisse Sprachen verwendet und andere nicht, lässt sich Gottesdienst nicht feiern. So ist der Gottesdienst eine Aufgabe für die ganze Theologie, da mit der christlichen Glaubensrede eine neue Sicht der Welt verantwortet wird. Dabei kommen die Brennpunkte der reformierten Tradition unweigerlich in den Blick durch die Verbindung von Andacht und Nachfolge, ohne die der reformierte Gottesdienst nicht überlebensfähig ist. So ergibt sich für den gegenwärtigen liturgischen Gebrauch der Zeichensprachen nicht mehr die reformatorische Frage, welche Zeichensprachen richtig oder falsch sind, sondern die Frage, wie Zeichensprachen angesichts der Gegenwartskultur richtig verwendet werden. Eine ähnliche Bedeutungsverschiebung nimmt K. auch für den Brennpunkt reformierter Theologie - Spiritualismus und Spiritualität - in Anspruch. Es geht darum, Gott Gott sein zu lassen und Gott nicht im Zeichen Gott aufgehen zu lassen, gleichwohl aber nicht zwinglischen Spiritualismus ins Extreme zu steigern, sondern zu einer Spiritualität zu kommen, in welcher der Glaube als Geistgabe in der leibhaften, bewussten und andächtigen Teilnahme am Gottesdienst empfangen wird.

K. hat zu Beginn seiner Studie nicht versprochen, einen linearen Gedankengang, gar eine Theologie des reformierten Gottesdienstes vorzulegen, sondern viele Beobachtungen und Fragen zum reformierten Gottesdienst zu bündeln und in ihrer Dependenz aufzuzeigen. Bei der Lektüre von fast 500 Seiten treten dabei manche Fragen, die ohnehin in der Luft liegen, sozusagen zwischen den Zeilen noch stärker, noch bohrender in den Vordergrund - was wohl gute reformierte Tradition ist -, ohne dass K. sogleich eine Beantwortung findet: Was ist denn nun eigentlich das Liturgische am reformierten Gottesdienst, wenn darunter nicht ein zeremonieller Vorgang verstanden werden soll? Muss ein Gottesdienst immer "liturgisch" sein, kann er nicht auch dezidiert unliturgisch daherkommen, wenn es angesichts gegenwartskultureller Anlässe nötig zu sein scheint - haben die Reformatoren vielleicht mehr gegen ein wirklichkeitsfremdes zeremonielles Gehabe protestiert und weniger oder undifferenziert gegen das Liturgische? Können Menschen Gottesdienst als ständiges Paradoxon feiern in einer Gegenwartskultur, die in sich schon paradox genug ist - wenn auch der Begriff anders verstanden wird? So wirft die hier vorliegende Arbeit weitere Fragen auf, indem sie versucht, Antworten zu formulieren. In diesem Sinne gilt abzuwarten, ob das Buch in der Lage sein wird, die reformiert-theologischen Argumente für die Diskussion zum Thema Gottesdienst und Liturgie fruchtbar zu machen.

Leider scheint das Buch etwas schnell zur Drucklegung gelangt zu sein, was die Lektüre manchmal etwas ärgerlich stimmen lässt: Die Seitenangaben des Inhaltsverzeichnisses zum ersten Teil "Fragestellung" stimmen mit den tatsächlichen Überschriften manchmal, aber nicht durchgehend überein. Auf S. 325 fehlt die Angabe der Fußnote 234. Auch wenn es mich freut, dass eigene Arbeiten berücksichtigt werden (das angekündigte Buch S. 447, Fußnote 27 konnte erst im Herbst 2001 erscheinen: Jörg Neijenhuis (Hg.): Liturgie lernen und lehren, Leipzig 2001), so ist das Liturgiewissenschaftliche Institut nicht von der EKD (446, Fußnote 20), sondern von der VELKD und der Universität Leipzig gegründet worden. Der Kolumnentitel setzt zum Teil C, wo es im Inhaltsverzeichnis "Liturgische Semantik" heißt, durchgehend "Liturgische Pragmatik" ein, wobei es sich inhaltlich um den Gottesdienst als Wahrnehmungsfeld handelt. Da stellt sich von selbst die Frage ein, ob der Gottesdienst als Wahrnehmungsfeld nicht doch besser der Pragmatik als der Semantik zugeordnet wäre - was die Schwierigkeit zeigt, die Morrissche Dreiteilung der Semiotik, die dimensional zu verstehen ist, auf drei Teile zu verteilen. Auch hat man einige Mühe, die unter 2.1 angekündigte Diskrepanzüberwindung von regulativer Idee, die sich aus der systematischen Aufarbeitung des empirischen resp. historischen Befundes (Teil C) ergibt und ihrer Konfrontation mit der tatsächlichen Situation (Teil D), wieder zu finden.