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Ausgabe:

Juni/2002

Spalte:

700–704

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Hammann, Konrad

Titel/Untertitel:

Universitätsgottesdienst und Aufklärungspredigt. Die Göttinger Universitätskirche im 18. Jahrhundert und ihr Ort in der Geschichte des Universitätsgottesdienstes im deutschen Protestantismus.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2000. X, 433 S. gr.8 = Beiträge zur historischen Theologie, 116. Lw. ¬ 89,00. ISBN 3-16-147240-3.

Rezensent:

Wolfgang Sommer

Im Vorwort zu dieser Göttinger kirchengeschichtlichen Habilitationsschrift bemerkt der Vf. zu Recht: "Mit der eigentümlichen Entwicklung des Verhältnisses zwischen katholischer Theologie und Universität in der Frühen Neuzeit hängt es zusammen, dass die Institution des Universitätsgottesdienstes im katholischen Bereich von vornherein nicht die Bedeutung und Verbreitung wie im deutschen Protestantismus finden konnte." Der im Spannungsfeld zwischen Staat und Kirche, d. h. vor allem zwischen Landes- bzw. Provinzialkirche und Universität angesiedelte protestantische Universitätsgottesdienst und ein eigenständiges Universitätspredigeramt werden in dieser Untersuchung am Beispiel der Göttinger Einrichtungen vor allem in der Entwicklungsgeschichte des 18. Jh.s detailliert dargestellt. Zunächst gilt es, das Werk in seinen drei Hauptteilen mit den wichtigsten Ergebnissen vorzustellen, um es sodann aus meiner Perspektive in einigen wenigen Akzentsetzungen zu kommentieren.

Die Lektüre dieses Werkes ist besonders deshalb sehr lohnenswert, weil hier die institutions- und rechtsgeschichtlichen bzw. politischen Fragen im Zusammenhang mit den theologie- und frömmigkeitsgeschichtlichen Aspekten sowie den homiletik- und predigtgeschichtlichen Analysen vor allem zur Geschichte der Aufklärungspredigt dargestellt werden.

Der erste Teil schildert die Geschichte der Göttinger Universitätskirche mit der Einrichtung des Universitätsgottesdienstes und den Anfängen des Universitätspredigeramtes bis zur vorläufigen Einstellung des Gottesdienstes 1803/05. Im zweiten Teil wird die Göttinger Institution in die Geschichte des Universitätsgottesdienstes im deutschen Protestantismus eingefügt, wobei zunächst ihre Vorgeschichte im Spätmittelalter und im Reformationszeitalter knapp skizziert wird, bevor die Situation an den anderen Universitäten vom Ende des 17. bis zum 20. Jh. in den Blick tritt. Einen besonderen Schwerpunkt der Untersuchung bildet der dritte Teil, der einige zentrale Gestalten der Göttinger Universitätsprediger im 18. Jh. vorstellt. Eingerahmt werden diese drei Teile durch eine Einleitung mit Erörterungen zu Thema und Anlage der Untersuchung sowie einem Ausblick auf den Neubeginn des Universitätsgottesdienstes in St. Nikolai in den 1820er Jahren im Zeichen der Erweckung und seiner weiteren Entwicklung im 19. und 20. Jh. Der Anhang enthält eine Liste der Göttinger Universitätsprediger von 1742 bis zur Gegenwart sowie Bibliographie, Personen- und Sachregister.

Die Einrichtung eines Universitätsgottesdienstes ist in Göttingen von Anfang an mit dem Konzept der Universitätsgründung 1737 engstens verbunden. Nachdem die gotische Paulinerkirche mit den anderen Gebäuden des früheren Dominikanerklosters 1734 von der Stadt Göttingen der im Aufbau befindlichen Universität überlassen wurde, war der Weg frei für die institutionelle Eingliederung dieser Kirche als Universitätskirche in die Universität. Das Gesamtkonzept eines eigenständigen Gottesdienstes an der Universität an einer ihr zugehörigen Kirche, eine besondere Universitätskirchendeputation, die für die Durchführung der Gottesdienste verantwortlich war, sowie die Einführung eines Universitätspredigeramtes ist das Werk des Universitätsgründers und hannoverschen Staatsministers Gerlach Adolph Freiherr von Münchhausen. Damit war der Universitätsgottesdienst ebenso wie die Theologische Fakultät von vornherein dem Einfluss des Konsistoriums entzogen. Hammann weist schlüssig nach, dass dies sowohl den staatskirchenrechtlichen Vorstellungen Münchhausens im Sinne des Territorialsystems entsprach wie auch seinen ideellen Grundsätzen. Damit kann auch das Gesamtbild von der Universitätsgründung und vor allem von der Stellung der Theologie in Göttingen, wie es Götz von Selle und Carl Haase in den 30er und 80er Jahren des 20. Jh.s gezeichnet haben, erheblich korrigiert werden. Denn der sog. Abschied vom "Primat der Theologie" bei der Göttinger Universitätsgründung, d. h. der Verzicht auf ein Zensurrecht der Theologen gegenüber den anderen Fakultäten, war keineswegs als eine Minimalisierung der Theologie im Gesamtrahmen der Universität gedacht. Am Beispiel der schon vor der Universitätsgründung existierenden "Lectiones asceticae" weist der Vf. nach, dass die Vorstellungen Münchhausens von der Rolle der Theologie in Göttingen und somit auch der Universitätskirche mit ihrem eigenständigen Universitätspredigeramt in der Förderung einer praktischen Religiosität für alle Universitätsangehörigen begründet waren. "In seiner Person verband sich ein schlichtes Gottvertrauen mit dem pragmatischen Sinn für das politisch Gebotene, lutherisches Berufsethos mit dem pietistischen Motiv praktischer Religiosität wie auch mit dem aufklärerischen Gedanken vom Nutzen allen Handelns." (68).

Unter den ersten, nach Göttingen berufenen Theologen, die sich die Predigtaufgabe in der Universitätskirche zu teilen hatten, entsprach diesen Vorstellungen besonders Joachim Oporin (1695-1753). Auseinandersetzungen und Schwierigkeiten bei der Verteilung der Predigten im akademischen Gottesdienst führen schließlich 1742 zur Installierung eines eigenständigen Universitätspredigeramtes, das schon im Gesamtkonzept von Münchhausen von vornherein vorgesehen war. Mit der Berufung von Christian Kortholt d. J. zum ersten Universitätsprediger in Göttingen kam das Gesamtkonzept Münchhausens zum Abschluss. In der deutschen protestantischen Universitätsgeschichte stellte es damals ein Novum dar, denn nach der Konzeption Münchhausens "war das Universitätspredigeramt ein geistlich-theologisches Institut an der staatlichen Universität, nicht aber ein genuin kirchliches Amt wie etwa das Pfarramt in einer Kirchengemeinde" (64).

Am Beispiel eines 1779 erstmals erschienenen Gesangbuches, das eigens für den Gebrauch in einer Universitätskirche konzipiert wurde - eine Singularität im deutschen Protestantismus -, werden die hymnologischen Umformungen älterer Lieder im Stile der Gesangbuchreform der Aufklärung erörtert. Im Gegensatz zu anderen Universitäten kam es in Göttingen nicht zu Konflikten zwischen der Universität und den Stadtpfarreien, vielmehr entwickelte sich zwischen der Universitätskirche und den Stadtkirchen eine problemlose Beziehung. Hierin bewährte sich die Konzeption Münchhausens, die die Universitätskirche neben dem überkommenen Parochialsystem etablierte und den Stadtkirchen dabei ihre Rechte beließ.

Die Universitätskirche war nicht nur der Ort für den regelmäßigen Universitätsgottesdienst, der auch der Förderung der homiletischen Übungen der Theologiestudierenden diente, sondern in ihr fanden auch die Festakte der Universität zu besonderen Anlässen sowie die Reformationsfeste oder von der Obrigkeit angeordnete Dank- und Jubelfeste statt. Die hierbei gehaltenen Göttinger Obrigkeitspredigten entsprechen in ihrer problemlosen Legitimierung des Herrschaftssystems des aufgeklärten Absolutismus dem Bild vergleichbarer anderer Aufklärungspredigten. Im Jahre 1803 wurde der Universitätsgottesdienst aus der Paulinerkirche in die St. Johannis-Kirche verlegt. Durch die Einbeziehung der Paulinerkirche in die Universitätsbibliothek stand sie nicht mehr als Universitätskirche zur Verfügung und wurde entsakralisiert. Hinter dieser Entscheidung der hannoverschen Staatsregierung vermutet der Vf. nicht von vornherein religiöses Desinteresse. Der Universitätsgottesdienst sollte in einer neuen Kirche weitergehen, aber diese mit Sachzwängen begründete Entscheidung hatte negative Folgen für die Gesamtkonzeption. Jedoch nicht nur das erweiterte Raumbedürfnis der Universitätsbibliothek, sondern auch der vielschichtige Prozess der Entkirchlichung um 1800 besonders im akademisch gebildeten Bürgertum ist daran beteiligt, dass schließlich 1804/05 der Göttinger Universitätsgottesdienst für knapp zwei Jahrzehnte eingestellt wurde.

Das Kapitel, das die Göttinger Universitätskirche in die Geschichte des Universitätsgottesdienstes im deutschen Protestantismus einreiht, bietet einen instruktiven Überblick über die Situation der protestantischen Universitäten vom Ende des 17. bis zum 20. Jh. Mit Recht sagt der Vf., dass wir hier ein "fast gänzlich unbearbeitetes Feld kirchengeschichtlicher Forschung" (121) betreten. Aus der Vorgeschichte des Universitätsgottesdienstes im deutschen Protestantismus wird zunächst die spätmittelalterliche Konzeption der Verbindung von Universitätsprofessur und Kollegiatstiftskanonikat dargestellt. Besonders aufschlussreich ist die Schilderung des Doppelamtes des Theologieprofessors und Pfarrers, das seit der Reformation für mindestens zwei Jahrhunderte an fast allen deutschen protestantischen Universitäten fest verankert war und als ein genuin protestantisches Phänomen zu gelten hat. "Daß Kanzel und Katheder derart eng zusammenrückten, wird man in seiner Bedeutung für die protestantische Kirchen- und Theologiegeschichte, ja für die Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit überhaupt schwerlich überschätzen können." (136).

Erst nach der Auflösung jener Ämterunion von Lehr- und Pfarramt konnte sich ein eigenständiger akademischer Gottesdienst etablieren. Der Blick auf die anderen Universitäten ist besonders von der Frage geleitet, inwiefern die Göttinger Konzeption Anknüpfungspunkte an die Gegebenheiten besonders in Halle, Jena und Leipzig zeigt. Die naheliegende Vermutung, dass die Gottesdienste in Helmstedt für die Göttinger Universitätskirche Vorbild gewesen sein könnten, erweist sich als unbegründet, da die dortige Einrichtung lediglich homiletisch-katechetischen Übungen im Rahmen des Theologiestudiums diente. Der erste akademische Gottesdienst in Deutschland ist in Halle im Geist des Pietismus entstanden. Ähnlich war es auch in Leipzig und Jena, wo eine solche Einrichtung stets auf die Initiative von einzelnen Theologieprofessoren oder von den Theologischen Fakultäten ausging. Allerdings litt ihre Institutionalisierung unter unzureichenden Rechtsformen und führte zu lang anhaltenden Auseinandersetzungen vor allem mit der Stadtgeistlichkeit bzw. den Stadtrat. Die institutionelle Gesamtkonzeption der Göttinger Universitätskirche hebt sich von ihren Vorgängern vor allem dadurch ab, dass es hier zu solchen Auseinandersetzungen zwischen Universität und den städtischen Parochien nie gekommen ist.

In dem geschichtlichen Überblick über die Universitätsgottesdienste im 19. und 20. Jh. ragen besonders die Passagen über Schleiermachers Entwurf zur Errichtung eines Universitätsgottesdienstes in Berlin von 1810 sowie über die Straßburger Universitätsgottesdienste heraus. Hatte Schleiermacher den Universitätsgottesdiensten eine Vorreiterrolle für eine allgemeine Liturgiereform zugedacht, so konnte dieses Gesamtverständnis vom Gottesdienst als Feier besonders eindrucksvoll in Straßburg unter Friedrich Spitta (1852-1924) und Julius Smend (1857-1930) verwirklicht werden. Schleiermachers Konzeption des Universitätspredigeramtes entsprach in der Struktur dem erstmals 1742 in Göttingen realisierten Amt, das ein staatlich bestallter Theologieprofessor an der staatlichen Einrichtung Universität mit geistlichen Funktionen im Sinne der Verbindung von wissenschaftlichem Geist und religiösem Bewusstsein ausüben sollte. Die Berufung der Universitätsprediger durch den Staat war im 19. Jh. noch völlig unbestritten. Aber nach dem Ende des Staatskirchentums 1918/19 kam es auch hier zu einer Zäsur und zu verschiedenen kirchenrechtlichen Gutachten und unterschiedlichen ekklesiologischen Konzeptionen (z. B. zwischen Hans von Soden und Ulrich Stutz). Schließlich ist es zu einem Kompromiss im preußischen Kirchenvertrag von 1931 gekommen, nach dem das Universitätspredigeramt ein kirchliches Nebenamt eines vom Staat berufenen Theologieprofessors ist. Diese Regelung hat sich dann mit geringen Abweichungen bis in die Gegenwart gehalten.

Im dritten, umfangreichsten Teil der Untersuchung werden nach knappen Ausführungen über die Predigtpraxis in der Universitätskirche und die Drucküberlieferung der Predigten sieben Göttinger Universitätsprediger mit ihren homiletischen Schriften sowie gehaltenen Predigten vorgestellt. In dieser Reihe ragen besonders die auch über Göttingen hinaus bekannten Aufklärungsprediger Gottfried Leß (1736-1797) und Christoph Friedrich Ammon (1766-1850) heraus.

Die Untersuchung über den Göttinger Universitätsgottesdienst mit ihren weit ausholenden Partien über die Vorgeschichte und den keineswegs nur überblicksartigen Situationsschilderungen an zahlreichen anderen protestantischen Universitäten vom Ende des 17. Jh.s bis zur Gegenwart stellt eine schon lang erwartete, m. E. sehr respektable Leistung dar. Gleichwohl gibt es natürlich auch hier einige kritische Anfragen, die aus meiner Sicht folgende Aspekte betreffen: Das umfangreiche dritte Kapitel mit der Vorstellung der sieben Göttinger Universitätsprediger im 18. Jh. kann gewiss als ein wichtiger neuerer Forschungsbeitrag zur Geschichte der Aufklärungspredigt gelten. Entsprechend der Einleitung sollten bei der Darstellung besonders die "Entwicklungen und Wandlungen innerhalb der Aufklärungshomiletik und -predigt" (22) herausgestellt werden.

Im zusammenfassenden Rückblick (358-366) wird die weitgehende Kongruenz zwischen den Grundsätzen der Homiletik des Aufklärungszeitalters und der allgemeinen theologischen Entwicklung entsprechend dem gängigen Dreischritt von der sog. Übergangstheologie der frühen Aufklärung über die Neologie bis zum Rationalismus und Supranaturalismus festgestellt. So hat sich auch nach meiner Lektüre der Darstellung der Göttinger Universitätsprediger das Bild in der Tat kaum verändert, das man auch sonst von vielen anderen Aufklärungspredigern hat. Insofern wirken die umfangreichen Ausführungen nicht selten zu langatmig und wird das spezifische Kolorit des Universitätsgottesdienstes insgesamt zu wenig deutlich. Auch wenn dieser Aspekt in den Predigten nur spärlich wahrzunehmen ist, hätte hierauf doch ein stärkerer Akzent liegen sollen. Das vorrangige Interesse des Vf.s ist auf die homiletischen Entwürfe der Prediger gerichtet, weniger auf die gehaltenen Predigten. Das empfinde ich als schade. M. E. wäre es konstruktiver gewesen, wenn wenige exemplarische Predigten vorgestellt und genauer interpretiert worden wären. Die zuweilen nur knappen Referate über einige gehaltene Predigten (258 f.320 ff.348 ff.) geben keinen wirklichen Einblick in die Denk- und Redeweise der Prediger. Aufschlussreich sind jedoch die Ausführungen zu den Predigten über die Bergpredigt von Johann Benjamin Koppe (299-305).

Eine weitere Problemanzeige betrifft die theologiegeschichtliche Einordnung vor allem der zur sog. Übergangsepoche gerechneten Prediger. Die frühe Aufklärungshomiletik steht sowohl im Kontext der lutherischen Orthodoxie als auch des Pietismus, ohne dass die Konturen hier wirklich plausibel werden (241).

Diese terminologischen Schwierigkeiten, hinter denen wichtige Sachprobleme stecken, partizipieren jedoch an den theologiegeschichtlich leider noch immer ungeklärten Fragen, die für die sog. Übergangstheologie auch bei vielen anderen Theologen bestehen. Wie stark die Tradition der lutherischen Orthodoxie in die Aufklärungshomiletik und -predigt hineinwirkt, macht ein Blick auf das Sachregister deutlich, wo das Stichwort "lutherische Orthodoxie" das zweitumfangreichste nach dem Stichwort "Aufklärung" ist.

Auch die Darstellung des Göttinger Gesangbuches hätte in der Präsentation des vergleichbar Bekannten kürzer gefasst werden können, wenn es nicht einer eingehenderen hymnologischen Untersuchung unterzogen werden sollte. - In den Anmerkungen wird über die weiterführende Diskussion mit der Sekundärliteratur hinaus zuweilen ohne argumentative Begründung scharfe Kritik an Autoren geübt (so z. B. 275, Anm. 66, 277, Anm. 74, 295, Anm. 19).