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Ausgabe:

Juni/2002

Spalte:

694–697

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Gehring, Hans-Ulrich

Titel/Untertitel:

Schriftprinzip und Rezeptionsästhetik. Rezeption in Martin Luthers Predigt und bei Hans Robert Jauß.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 1999. IX, 307 S. 8. Kart. ¬ 49,90. ISBN 3-7887-1724-6.

Rezensent:

Rochus Leonhardt

Bei dem Buch von H.-U. Gehring handelt es sich um die leicht gekürzte Fassung seiner 1998 mit dem Martin-Luther-Preis der Luther-Gesellschaft ausgezeichneten Wuppertaler Dissertation. In der Einleitung macht der Vf. seine Intention deutlich: Es geht ihm darum, die Ästhetik als "eine allgemeine Theorie sinnlicher Wahrnehmung [...] für die praktisch-theologische Theoriebildung" und namentlich für die Homiletik fruchtbar zu machen (1). Anknüpfend an die Arbeiten von R. Bohren und G. Otto sowie an die von der ästhetischen Theorie U. Ecos geprägten Überlegungen zur Predigt als offenem Kunstwerk (G. M. Martin) und zur semiotischen Homiletik (W. Engemann) zielt G. auf die "Fundierung solcher homiletischer Neuansätze [...] in hermeneutischer Perspektive" (2 [umgestellt]; vgl. 185-188). Die anvisierte Fundierung vollzieht G. deshalb auf Grund einer Auseinandersetzung mit der literarischen Hermeneutik, namentlich mit der durch H. R. Jauß repräsentierten Gestalt der sog. Rezeptionsästhetik. Als theologischer Gesprächspartner wird Luther herangezogen, den G. bereits in der Einleitung "als eine Art Urvater rezeptionsästhetischer Einsichten" (3) einführt. Weil sich nun die reformatorische Hermeneutik nach G. in Luthers Predigt konkretisiert, unternimmt er es im (das Kapitel 1 umfassenden) Teil I seiner Arbeit (5-86), anhand "der Interpretation einer exemplarischen Lutherpredigt entscheidende Merkmale reformatorischer Schrifthermeneutik zu erheben" (4).

Im Durchgang durch Luthers Predigt zu 1Kor 15,36 f. vom 22.12.1532 (vgl. WA 36, 638-648) und im ständigen Gespräch mit der einschlägigen Sekundärliteratur rekonstruiert G. das reformatorische Schriftprinzip und klopft es dabei auf Anknüpfungspunkte für die Rezeptionsästhetik ab. So gilt: "Die Natur des Christuswortes ist es, gehört und rezipiert zu werden" (16), und d. h. zunächst: "Es gibt die Sache der Schrift nicht ohne ihren Rezipienten" (20). Weil sich dementsprechend die "Bezeugung und Verkündigung des verbum dei scriptum als verbum dei prolatum" stets in den "Erfahrungszusammenhang der Hörenden hinein vollzieht" (22), muss gerade die Bildhaftigkeit von Luthers Sprachgestaltung als "präziser Ausdruck seines Schriftprinzips" (28) verstanden werden. Zwar fungiert für Luther ohne Zweifel das Wort als "das eigentliche Medium der Kommunikation" (43), womit seine "Grundeinsicht in die Freiheit der Rezeptionsbeziehung" zusammenhängt. Aber gerade das ästhetische Potential der Gleichnisse erlaubt es, "durch narrative Entfaltung die Wahrheit Gottes mit der Wirklichkeit des Rezipienten zu versprechen". Gleichnisse sind nämlich schon deshalb "strukturell von rezeptionsästhetischer Relevanz" (44), weil durch sie nach Luther (anders als im Horizont der augustinischen Signifikationshermeneutik; vgl. 50 f.80) "Wirklichkeit sprachlich verwandelt" wird (76) und Sprache daher "als Funktion von [...] Vergegenwärtigung" (80) verstanden werden kann. Weil Luthers Predigt mit ihrer imaginativen Kraft die "alltägliche Wirklichkeit von Christus her und auf diesen hin durchsichtig macht" (78), ist "das Hören der Predigt nicht nur passive Hinnahme [...], sondern aktives Mitgehen, Imaginieren und Deuten des Gehörten" (85). - Mit dieser Feststellung ist in G.s Arbeit der Übergang zur Behandlung der Position von Jauß vollzogen, von der die theologische Reflexion über Rezeptionsprozesse im Predigtgeschehen lernen soll.

"Der Ansatz der Rezeptionsästhetik bei Hans Robert Jauß", dem der (Kapitel 2 umfassende) Teil II gewidmet ist (87-158), wird im Horizont seiner zeitgeschichtlichen Rahmenbedingungen dargestellt. Als Grundlage dient zunächst die auf Jauß' Konstanzer Antrittsvorlesung von 1967 zurückgehende wirkmächtige Studie "Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft": Gegen die "Vorurteile des historischen Objektivismus" (105, Zitat Jauß) ist die Interpretation von Literatur im Erwartungshorizont ihrer Leser zu fundieren, nicht zuletzt, um damit das gesellschaftsrelevante Potential der Literatur nicht zu verspielen (vgl. 110). Die sich aus diesem Ansatz ergebende Betonung der "hermeneutische[n] Differenz zwischen dem einstigen und dem heutigen Verständnis eines Werkes" (108, Zitat Jauß) verdankt sich der kritischen Auseinandersetzung mit H.-G. Gadamers Neuansatz der philosophi- schen Hermeneutik in "Wahrheit und Methode". Die Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen Gadamer und Jauß werden von G. äußerst anregend dargestellt (vgl. 116-131): Jauß' rezeptionsgeschichtlich (bzw. rezeptionsästhetisch) motivierte Betonung der "unabschließbare[n] Mannigfaltigkeit der Deutungsmöglichkeiten eines Kunstwerkes" (130) richtet sich gegen die in Gadamers wirkungsgeschichtlichem Ansatz vermutete Metaphysik der Tradition (vgl. 125).

Nach den hermeneutischen stellt G. die spezifisch ästhetischen Implikationen der Rezeptionstheorie von Jauß dar; dies geschieht im Durchgang durch dessen Schrift "Kleine Apologie der ästhetischen Erfahrung". Sie markiert insofern eine partielle Selbstrevision der Rezeptionstheorie, als sie eine "Abkehr von der ausschließlichen Orientierung an einer Ästhetik der Negativität und Innovation hin zur Rehabilitation des genießenden Verstehens als ästhetischer Grunderfahrung" vollzieht (132). Die Konfrontation von Jauß' Schrift mit T. W. Adornos Text "Ästhetische Theorie" weist auf die gesellschaftliche Relevanz der Rehabilitierung ästhetischer Erfahrung als eines genießenden Verhaltens hin (und macht zugleich den Zusammenhang zwischen ästhetischer Erfahrung und rezeptionsgeschichtlicher Hermeneutik deutlich): Der "Abweis der kommunikativen Dimension des Kunstwerks bei Adorno" (153) bewirkt nach Jauß den "Praxisverlust" (155) von dessen Theorie, wogegen die "gesellschaftliche Funktion der ästhetischen Erfahrung" gerade auf der "Fähigkeit des Rezipierenden zu aktiver Identifikation" beruht (141; vgl. 154-157).

Im (Kapitel 3 und 4 umfassenden) Teil III der Arbeit werden die beiden bislang getrennt behandelten Paradigmen Schriftprinzip und Rezeptionsästhetik zusammengeführt. Dies geschieht im Rückblick auf verschiedene Andeutungen in den ersten beiden Kapiteln, namentlich in Aufnahme der regelmäßig gegen Ende der Abschnitte formulierten "Fragestellungen" in Kapitel 2 (vgl. 99.113.131.145.157). In (hier überwiegend kritischer) Auseinandersetzung mit der Rezeptionstheorie (namentlich mit Jauß' Hauptwerk "Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik") sowie im permanenten Gespräch mit unterschiedlichster Sekundärliteratur fragt G. in einem ersten Schritt unter der Überschrift "Wortgenuß" (160-224) nach Zusammenhängen zwischen der von Jauß herausgearbeiteten "Eigenart ästhetischer Erfahrung" und der "Erfahrung des Glaubens im Wortgeschehen der Predigt" (162). Anhand von Luthers Predigt vom 30.5.1535 über das lukanische Gleichnis vom Großen Gastmahl (Lk 14,16 ff.; vgl. WA 41, 280-292) macht er deutlich: "Der Glaube [...] genießt im und vom Christuswort her ein neues Verhältnis zu Gott wie zu Mitmensch und Mitwelt" (170). Indem G. nun "jenes genießende Verhältnis [...], das im hörenden Wortgenuß als ein Zu-sich-nehmen der Evangeliumsspeise sich darstellt" (171), mit dem Heiligen Geist identifiziert, eröffnet sich die Möglichkeit, die "Dimension des delectare theologisch fundamental zu verankern" (172). Diese später noch durch die Aufnahme des Perichoresis-Begriffs weitergeführte "trinitarische Fundierung biblischen Wortgenusses" (175; vgl. 198-213) führt ihn auch im Hinblick auf die Predigtvorbereitung zu einem "Plädoyer für den genießenden Umgang mit biblischen Texten" (177). In besonderer Weise ermöglicht wird nach G. die Erfahrung biblischen Wortgenusses durch Metaphern; "genährt von biblischen Bilderwelten und zugleich getragen und phantasievoll weitergesprochen von der Einbildungskraft des Glaubens" (214) transformieren sie literarischen Textgenuss in biblischen Wortgenuß (vgl. 214-224).

Nach der Behandlung der "Struktur der ästhetischen Erfahrung" in Kapitel 3 kommt dann im Schlusskapitel 4 (225-297) der Text selbst in den Blick. Es geht dementsprechend nicht mehr um den imaginativen Aspekt der Rezeption, sondern diese wird jetzt "primär als Interpretations- und Identifikationsprozeß beschrieben" (159). Folgerichtig geht G. dem Verhältnis von Text und Interpretation nach und charakterisiert, u. a. anknüpfend an die theologische Verarbeitung der Rezeptionsästhetik von W. Iser durch U. Körtner und T. Nißlmüller, das Verstehen biblischer Texte als "Wahrheitsgeschehen des Evangeliums" (240). Es gilt dementsprechend, "den Prozeß der Interpretation des Textes im Durchgang durch seine Landschaft dialektisch zu vermitteln mit seiner Bewahrheitung am Tisch des Herrn" (241). Mit diesem Festhalten an einem emphatischen Wahrheitsbegriff, das sich der "Einsicht in die spezifische Rezeptionserfahrung des Glaubens in Bibellektüre und Predigt" verdankt, weist G. die "Pointe der Rezeptionsästhetik" zurück (256): "das Zulassen radikaler und beständig neuer Fragemöglichkeiten" (252) wird dem "Gabecharakter des Wortes Gottes" (256) nicht hinreichend gerecht. So sehr G. im Teil III von Jauß zu Gadamer zurücklenkt, so sehr möchte er aber an der (von Jauß gegen Gadamer eingeschärften) Dialogizität des Rezeptionsgeschehens festhalten. Dazu dient ihm der Hinweis auf die Mündlichkeit der personalen Vermittlung biblischer Texte in der Predigt, ein Gedanke, der auf die Frage nach Person und Rolle des Predigers im Predigtgeschehen führt (vgl. 263-280).

Abweichend von M. Josuttis gründet für G. der dialogische Charakter der Predigt gerade nicht auf dem mit der Vorbildfunktion des Predigers gegebenen Identifikationsangebot; anknüpfend an die "in der Begriffsgeschichte [sc. von persona] angelegte Spannung zwischen Sprecherrolle und Identität" (270) sowie "in der Spur dialektisch-theologischer Homiletik" regt G. vielmehr "die Verbergung auch der Person des Predigers in das Maskenspiel des Textes" (271) an. Denn "[d]er Hörer des Wortes gewinnt seine Identität in, aber nicht durch seine wechselnden Identifikationen mit den personae des Textes (oder auch des Predigers)" (278). Dass sich für diese These auch "explizit christologisch argumentieren" lässt, macht G. daran deutlich, "daß Jesus das Kommen des Gottesreiches in seiner Person in die Inszenierungen seiner Gleichniserzählungen hineinverbirgt" (271). Es ist daher konsequent, wenn im letzten Abschnitt der in der jesuanischen Gleichnisrede entfaltete metaphorische Prozess thematisch wird (vgl. 281-297). Dabei wird "die subversive Erzählstrategie" (291) der Gleichnisrede, nämlich die "Vergleichung des Reiches Gottes in die Welt des Rezipienten hinein" (292), nochmals rezeptionsästhetisch zurückgebunden, hier durch Anknüpfung an den bei W. Iser maßgeblichen Begriff der Leerstelle (vgl. 287-292).

Die Arbeit läuft aus in konkrete Anregungen zur Predigtgestaltung im Horizont des lutherischen Schriftprinzips, wobei Elemente wie "metaphorische Bildlichkeit, narrativer Charakter, fragmentarische Form und dialogisch-offene Struktur" (297) für den Bezug zur literarischen Hermeneutik stehen. Den Schluß des Buches bildet eine kurze und leicht verfremdete narrative Paraphrase der Emmaus-Perikope (vgl. 298).

Es ist zweifellos das Verdienst G.s, die wichtige Frage nach der Bedeutung der neueren literarischen Hermeneutik für die traditio Evangelii exemplarisch für den Bereich der Homiletik behandelt zu haben. Seine Kenntnis der schwer überschaubaren Literatur zu diesem Themenfeld ist nach Einschätzung des Rez. bemerkenswert. Leider aber verfällt G., was die sprachliche Gestalt der Arbeit betrifft, vor allem in den Kapiteln 3 und 4 z.T. in einen barocken, mit Metaphern überladenen Stil, der die Frage aufwerfen kann, ob es sich um einen Text über Rezeption und Gestaltung von Predigt oder nicht viel mehr selbst um eine Predigt handelt.

Fragen stellen sich allerdings auch inhaltlich, d. h. bezüglich seiner Durchführung der Konfrontation von Schriftprinzip und Rezeptionsästhetik. So entsteht bisweilen der Eindruck einer theologischen Domestizierung bestimmter Aspekte literarischer Rezeptionstheorien: Die eigentliche "Pointe der Rezeptionsästhetik" (256) wird ausdrücklich zurückgewiesen, obwohl doch, wie G. selbst bemerkt, der von ihm gegen Jauß unter Berufung auf Luther stark gemachte Gedanke der hermeneutischen Inversion (vgl. bes. 166 f.193) auch im Horizont des modernen Rezeptionsbegriffs formuliert werden kann (vgl. den Hinweis zu W. Iser: 235). Und könnte man nicht die "ideologiekritische Grundhaltung" (93) der Rezeptionsästhetik positiv auf das traditionskritische Schriftprinzip beziehen, wenn dieses doch für "die prinzipielle Unterordnung auch des Credo und aller kirchlichen Lehren und Bekenntnisse unter die Norm der Schrift" steht (249, mit Hinweis auf BSLK 767)? Leider denkt G. diese z.T. von ihm selbst gestellten Fragen (vgl. etwa 2.131) nicht wirklich zu Ende bzw. beschränkt sich, etwa im Fall seiner Hinweise zur theologischen Enzyklopädie (114 f.), auf wenige Andeutungen, denen genauer nachzugehen nicht nur vom Thema her nahegelegen hätte, sondern auch vielversprechend gewesen wäre.