Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Juni/2002

Spalte:

692–694

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Douglass, Klaus

Titel/Untertitel:

Die neue Reformation. 96 Thesen zur Zukunft der Kirche.

Verlag:

Stuttgart: Kreuz 2001. 346 S. m. Abb. 8. Geb. ¬ 24,90. ISBN 3-7831-1833-6.

Rezensent:

Eberhard Winkler

Missionarischer Gemeindeaufbau wird in der protestantischen deutschsprachigen Praktischen Theologie überwiegend ignoriert oder mit abfälligen Bemerkungen erledigt. Eine dieser Bemerkungen lautet, die entsprechenden Programme hätten sich als unwirksam erwiesen. Belegt wird diese Behauptung nicht. Douglass und sein Team verbinden in Niederhöchstadt Praxis und theoretische Reflexion des Gemeindeaufbaus und wurden bereits durch mehrere Publikationen, besonders aber durch die erfolgreichen "GoSpecial-Gottesdienste" bekannt. Im vorliegenden Buch fasst D. sein Programm übersichtlich zusammen. Vieles ist aus den früheren Veröffentlichungen und der bisherigen Literatur zum Gemeindeaufbau bekannt. Impulse empfing D. besonders von der amerikanischen Praxis und Theorie des Gemeindeaufbaus, vor allem von Willow Creek, aber auch von Fritz und Christian A. Schwarz sowie Klaus Eickhoff. Wie diese Autoren formuliert D. klar und kühn, besonders in seinen Prognosen, manchmal etwas undifferenziert in seinen Analysen. Er versteht aber sein Buch nicht als Kampfansage, sondern als Liebeserklärung an seine Kirche.

Die 96 Thesen ergeben sich dadurch, dass D. zwölf Aufgaben formuliert und jeweils durch acht Thesen erläutert. Grundlegend ist die erste Aufgabe: "Zur reformatorischen Mitte zurückkehren". Die deutschen evangelischen Landeskirchen haben die reformatorischen Formen bewahrt, die Inhalte aber weitgehend verloren. In neuen, heutigem Empfinden gemäßen Formen müssen diese Inhalte wiedergewonnen werden. - "Spiritualität freisetzen" heißt die zweite Aufgabe. In unsern Gemeinden wird Begeisterung durch Langeweile, Gesetzlichkeit und Mittelmaß verhindert. Die Variationsbreite spiritueller Formen, z. B. beim Gebet, kommt nicht zur Geltung. Das zentrale Defizit aber ist die mangelnde Erfahrung der Gottesliebe.

Die dritte Aufgabe besteht darin, den missionarischen Auftrag wieder zu entdecken. Dass Kirche eine Funktion der Mission Jesu ist, wird Eickhoff zugeschrieben (91), doch war das schon vor 40 Jahren eine missiologische Kernthese. Mission zielt auf Bekehrung, denn: "Es gibt kein Christsein ohne Bekehrung - aber durchaus ohne Bekehrungserlebnis" (Th. 20) im Sinne pietistischer Schemata. Zur Bekehrung gehört die aktive Eingliederung in die Gemeinde. Dazu muss die Kirche "entkirchlicht" werden, ihre Verengung auf das bildungsbürgerliche Milieu aufgeben.

Viertens ist das allgemeine Priestertum der Gläubigen zu aktivieren. Diese Aufgabe ist engstens mit der fünften verbunden: "Den Pfarrberuf neu definieren". Mit Schwarz heißt es: "Der Pfarrer für die Mitarbeitenden, die Mitarbeitenden für die Gemeinde" (Th. 38). Von Bohren wird der Vorschlag übernommen, die "pastorale Grundversorgung" einschließlich Kasualien den Hausgemeinden zu übertragen. Dieser Vorschlag hat sich bisher freilich als unrealistisch erwiesen. - "Führungsverantwortung übernehmen", lautet die sechste Aufgabe. D. unterscheidet Leitung = Management, das die Probleme von heute löst, und Führung, die Visionen entwickelt, vermittelt und umsetzt. In rechter Führung "liegt das Geheimnis lebendiger Gemeinde". - Die siebte Aufgabe liegt im Aufbau einer gesunden Kleingruppenstruktur. "Wir brauchen eine gezielte Schwerpunktverlagerung vom Haus Gottes zurück zu den Häusern der Menschen" (181) und damit eine Annäherung an neutestamentliche Merkmale der Gemeinde. In diesem Zusammenhang steht eine der steilen prognostischen Thesen: "Die Gemeinde der Zukunft wird nicht mehr Hauskreise oder ähnliche Kleingruppen haben. Sie wird aus solchen Kleingruppen bestehen" (Th. 55). Die Kleingruppenleiter werden die Pastoren der Zukunft sein (Th. 56).

Achtens gilt es, eine Kultur der Liebe zu entwickeln, d. h. eine Gemeinschaft zu bilden, die als eine Art "neue Familie" ein wirkliches Zuhause als wichtigstes Beziehungsfeld der Christen anbietet. Dazu gehört ein familiärer Umgang, der jedoch nicht exklusiv gemeint ist, denn zugleich gilt Bonhoeffers Satz von der "Kirche für andere". Die "neue Familie" soll gerade nicht auf ein enges Milieu begrenzt, sondern für die bisher vernachlässigten verschiedenen Gruppen der "Kirchendistanzierten" offen sein. Dazu gehören die Karriere- und Genusstypen.

Neuntens ist der zu einer Nischenveranstaltung degenerierte Gottesdienst von der Bindung an traditionelle und elitäre Formen zu befreien. D. plädiert für mehr unterschiedliche Gottesdienste, die den differenzierten Erwartungen entsprechen, dabei von biblischer Substanz erfüllt und in ein umfassendes Konzept des Gemeindeaufbaus eingebunden sind. Erstaunlich ist, dass D. beklagt, den Gemeinden seien selbständige liturgische Neuerungen verboten, zumal ihm selber freie Hand gegeben ist und in vielen Gemeinden Formen und Inhalte willkürlich verändert werden.

Zehntens sind die innergemeindlichen Strukturen zu vereinfachen. D. polemisiert gegen den "morphologischen Fundamentalismus" und fordert, ca. 80 % der derzeit gültigen Regeln zu beseitigen, da sie das Leben strangulieren. Der Strukturbegriff ist hier nicht klar. Was gemeint ist, wird bei der elften Aufgabe deutlicher: Der Primat der Gemeinde ist wieder herzustellen. In den Gemeinden liegen die Stärken der Landeskirchen. Nicht Gemeinden, sondern Verwaltungszentralen sind zusammenzulegen. Das Priestertum der Gläubigen soll die hierarchischen Strukturen aufheben. Wir brauchen nicht weniger, sondern mehr Gemeinden. Sie haben das Recht und die Pflicht zur Profilbildung. Zwölftens schließlich ist die Kirche nach vorne zu träumen. Diese modische Rede vom Träumen meint, dass von Gottes Möglichkeiten her zu denken ist. In der Lehre vom Gemeindeaufbau heißt das "verheißungsorientiert" denken in der Zuversicht, "dass unsere evangelische Kirche ihre besten Tage nicht hinter, sondern noch vor sich hat" (316).

In einem Nachwort gibt der Vf. noch Ratschläge, das Gelesene in die Tat umzusetzen. Kirchenpräsident Steinacker bescheinigt in seinem Vorwort dem Vf., dass er mit den zwölf erläuterten Aufgaben "zentrale Herausforderungen unserer evangelischen Kirche benennt". Dann darf die von D. einmal als "Nebenfach" apostrophierte Praktische Theologie sich diesen Aufgaben nicht entziehen. Die meisten von ihnen stehen spätestens seit Emil Sulze (1891) auf der Tagesordnung. Wer die Rede von der ecclesia semper reformanda konkret verstehen will, muss sich den Herausforderungen dieses Buches stellen.