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Ausgabe:

Juni/2002

Spalte:

690–692

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Schauer, Alfred J., Schreiber, Hans-Ludwig, Ryn, Zdzislaw, u. Janusz Andres [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Ethics in Medicine.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001. 583 S. m. 63 Abb. u. 29 Tab. gr.8. ¬ 92,00. Lw. ISBN 3-525-45312-4.

Rezensent:

Josef Römelt

Der vorliegende Band dokumentiert die Beiträge des polnisch-deutschen Symposions über "Ethik in der Medizin" in Krakau vom Oktober 1998, das von der Universität Krakau und der Universität Göttingen in gemeinsamer Verantwortung organisiert worden ist. Unter dem genannten Titel versammeln sich eine Fülle von Gedanken zu unterschiedlichsten Bereichen der Medizinethik. Selbstverständlich vor allem medizinische Fachkompetenz, aber auch theologische und philosophische Reflexion, Beiträge aus dem Bereich der Psychiatrie kommen hier zur Geltung.

Der Band versucht den Stoff in acht große Bereiche zu gliedern, denen eine Deklaration sozusagen als Schlussdokument des Symposiums und die Beiträge einer begleitenden Veranstaltung über Ethik im Kontext von Tierversuchen angeschlossen sind. Die Bereiche betreffen zunächst eine Rechenschaft über die theologischen und philosophischen Konzepte in Bezug auf die Werte, die im Blick auf das menschliche Leben auf dem Spiel stehen (Theological and Philosophical Concepts of Values of Human Life), sodann Fragen der Ausbildung in Medizinethik (Education of Ethics in Medicine), der Ethik innerhalb der Notfall- und Intensivmedizin vor allem für sterbende Menschen (Ethics in Emergency and Intensive Care for Dying People), Fragen der Organ- und Gewebetransplantation (Organ and Tissue Transplantation), Qualitätskontrolle und das Problem des Kunstfehlers sowie der Verantwortung von Ärzten in diesem Zusammenhang (Quality Control, Malpractice and Responsibility of Physicians), eine Auseinandersetzung mit der Bedeutung der Europäischen Bioethikkonvention (Significance of European Bioethical Convention) und mit Fragen der Verantwortung im Bereich medizinischer Forschung (Ethics in Medical Research) sowie Überlegungen zur gegenwärtigen finanziellen Absicherung des Gesundheitssektors und ihre moralischen Konflikte. Diese Bereiche stellen die inhaltlichen Schwerpunkte des Buches dar. Der Band wird beschlossen mit einer Liste der Autoren und Koautoren der einzelnen Beiträge.

Es ist kaum möglich, bei dem fast 600 Seiten starken Werk die einzelnen Beiträge je für sich zu würdigen. Insgesamt überzeugt aber die äußerst sachliche und detailreiche Form der Auseinandersetzung, die hier unterschiedlichsten Konfliktfeldern in-nerhalb der medizinischen Ethik zuteil wird.

So wird die Beziehung zwischen einem von Hans Küng angeregten "Weltethos" und der gegenwärtigen Bioethik reflektiert. Hans-Bernhard Würmeling wirbt für eine gleichsam kommunitaristische Lösung, die sich von starken regionalen ethischen Traditionen und ihrer offenen Kommunikation mehr verspricht als von einem vagen minimalistischen Ethos scheinbarer Weltkonsensbildung im Kontext medizinischer Verantwortung im Abgleich verschiedener religiöser und säkularer Ethiken (H.-B. Wuermeling, Bioethics, Rooted in "Weltethos" or in Christian Culture?, 17-22). Jan P. Beckmann betont, dass die gegenwärtigen medizinethischen Probleme nicht in dem Sinne neu sind, dass jegliche traditionelle Kategorien ohne Bedeutung für die menschliche Lösung der modernen Konflikte bleiben. Er spricht sich für eine Kontinuität des Denkens auch in der Auseinandersetzung mit gegenwärtigen, durch technischen Fortschritt hervorgerufenen Problemen medizinischer Kultur aus (J. P. Beckmann, On the Philosophical Foundations of Bioethics, 31-39). Im Blick auf die Ausbildung der Mediziner und die Frage nach einer Aufnahme der Medizinethik in das Curriculum des medizinischen Studiums macht der Band Mut, ethische Themen in die entsprechenden Studiengänge aufzunehmen. Wichtig erscheint eine sinnvolle Verbindung zwischen Praxis und Theorie. Der ohnehin sehr große Wissensstoff, wie er innerhalb der Medizin vermittelt wird, sollte nicht einfach durch ethische, kognitive Materialien ergänzt werden, sondern es bedarf einer eigenen sinnvollen Vermittlung zwischen technischem Tun und ethischer Reflexion sowie Praxis im Bereich der Medizin (A. J. Schauer, Training Medical Students in Bioethics under the Aspects of the New Approbation Order, 71- 80).

Deutlich wird das vor allem am Umgang mit sterbenden Menschen, wie er in der Notfallmedizin und Intensivmedizin am Tag ist. Sehr ehrlich werden die ethischen Konflikte des Behandlungsabbruchs und kritische Entscheidungen am Ende des Lebens dargestellt. Die Last ärztlicher Kompetenz, die - auch wenn es nicht um Rationierung der Medizin gehen kann- häufig realistische Entscheidungen treffen muss, welche bis an den Rand von Selektion gehen können, wird angedeutet (M. Mohr/D. Kettler, Ethical Conflicts in Cessation of Treatment, 91-100). Aber auch die Hilfe, die dabei eine Implementierung ethischer Kompetenz in den medizinischen Alltag darstellen kann, wird an Hand von Erfahrungen beschrieben (S. Reiter-Theil, Critical Decisions at the End of Life, 101-113). Der Teil zur Organ- und Gewebetransplantation stellt die Gesetzgebung in Deutschland dar, die seit 1997 in Kraft ist. Hier wird auch zur Präimplantationsdiagnostik Stellung genommen (A. Marcol, Ethical Considerations about Preimplantation Diagnostics, 136-141).

Ein breiter Abschnitt ist der Qualitätskontrolle und der Verantwortung von Ärzten für ihr Handeln gewidmet. Das Arzt-Patient-Verhältnis, das Problem einer Entwicklung innerhalb der Bestrahlungstherapien, in denen die negativen Begleiterscheinungen oft unterschätzt wurden, die Konkurrenz zwischen klinischen und niedergelassenen Ärzten und die Probleme für die Versorgung von Patienten, die außerhalb der Klinik begleitet werden müssen, die Frage nach der zunehmenden Bedeutung der Histopathologie für Beurteilungen von Therapien, all dies wird sehr konkret und sehr offen beschrieben und reflektiert.

Die Bioethikkonvention wird zum Teil kritisch beurteilt, aber im Allgemeinen als ein sinnvoller Schritt auf eine Vereinheitlichung und internationale Verständigung über das Medizinrecht hin verstanden. Auch hier geht es noch einmal um die Präimplantationsdiagnostik im Zusammenhang mit der Embryonenforschung und der vorsichtigen Öffnung der Konvention dafür, wobei hier sehr positiv zu dieser Form der Diagnostik Stellung genommen wird (A. J. Schauer/S. Bohlander, Preimplantation Genetic Diagnosis [PGD], 257-275).

Die Gedanken zur medizinischen Forschung offenbaren die Problematik, eine sinnvolle Forschung auch in schwierigen Fällen betreiben zu können. Der Rekurs auf den Konsens und die informierte Zustimmung der Patienten erscheint fundamental. Aber auch sachliche Notwendigkeiten, wie die Forschung an nicht einwilligungsfähigen Personen im Bereich bestimmter Krankheiten, werden deutlich herausgestellt. Die Beiträge bleiben hier relativ offen, weil die Spannung in der Sache selbst begründet ist. Die bisher strengen ärztlichen Standesrichtlinien sowohl auf der Ebene nationaler als auch internationaler Institutionen werden in einem gewissen Sinn angefragt. Nie geht es aber darum, auf die informierte Einwilligung des Behandelten oder seiner rechtlichen Vertreter ganz zu verzichten. Die Artikel zur Kultur und zur finanziellen Absicherung der Gesundheitsbereiche sind eher eine Beschreibung gegenwärtiger Konflikte als ein direkter Impuls zur Lösung dieser. Hier werden zudem Beiträge eingruppiert, die unter dieser Überschrift eigentlich nur schlecht zuzuordnen sind (z. B. die sehr sorgfältige Definition von "mental disorder" und ihre Verortung in der Psychiatrie [J. Hartmann, The Definition of Mental Disorder and Discourse Strategies in Psychiatry, 440-446], sodann der Beitrag des verstorbenen und in diesem Band gewürdigten Chirurgen Rudolf Pichlmayr).

Die Ausführungen zu Experimenten mit Tieren bieten einen sehr interessanten Einblick in gegenwärtige genetische Untersuchungen von menschlichen Krankheiten mit Hilfe von Tierversuchen (E. Günther, Genetic Research on Diseases with Conventional and Transgenic Animals under Animal-related Ethical Aspects, 562-575) sowie in die Behandlung von Gefäßerkrankungen und der Ermittlung eines Impfstoffs gegen Aids. Die durch das neue Tierschutzgesetz in Deutschland vorgeschriebenen Sicherungen werden aus der Sicht der Praxis beschrieben und in ihrem Sinn bedacht.

Die Mischung zwischen ärztlicher Sachkompetenz und philosophischer Verarbeitung der Daten erscheint in diesem reichen Band sehr gelungen. Es wird freilich keine tiefere Systematik medizinethischer Auseinandersetzung angestrebt. Die Gliederung des Buches erscheint pragmatisch, den Bedürfnissen eines Kongressablaufs angepasst. So bleibt ein z.T etwas unübersichtliches Kaleidoskop ethischer Probleme in der Medizin. Die Beiträge bauen nicht aufeinander auf, in ihrer gegenseitigen Ergänzung oder auch widersprüchlichen Polarität geben sie aber einen interessanten Einblick in die Werkstatt heutigen, modernen ethischen Denkens.