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Ausgabe:

Juni/2002

Spalte:

687–690

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Ludwig, Heiner, u. Karl Gabriel [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Gesellschaftliche Integration durch Arbeit. Über die Zukunftsfähigkeit sozialkatholischer Traditionen von Arbeit und Demokratie am Ende der Industriegesellschaft.

Verlag:

Münster-Hamburg: LIT 2000. 331 S. 8 = Studien zur christlichen Gesellschaftsethik, 2. Kart. ¬ 17,90. ISBN 3-8258-4609-1.

Rezensent:

Andreas Grabenstein

Seit bald zwei Jahrzehnten, spätestens seit dem Ende des Ost-West-Konfliktes, der sozialethisches Denken stark auf den Dual von Staat und Markt fixierte, öffnet sich die sozialwissenschaftliche Wahrnehmung für die Bürgergesellschaft "zwischen" professioneller Politik und geldgeprägter Wirtschaft. Eigenarbeit in ihren vielfältigen Formen von Familienarbeit und Ehrenamtlichkeit wird neu entdeckt; verschiedene Dimensionen von Sub-Politik, Partizipation und Engagement werden neu wahrgenommen. Umbruchstimmung allerorten: Vom Ende der industriellen Erwerbsarbeit ist die Rede, vom Übergang in die Dienstleistungs- oder Wissensgesellschaft; darüber hinaus sehen manche im Aufgang der Bürgergesellschaft das Ende des Staates, es kursieren verhalten oder offen optimistische Konzepte einer nach-industriellen, sich von dem Zwang zur Erwerbsarbeit mehr und mehr befreienden Gesellschaft.

Welche Rolle spielt hier noch die gesellschaftliche Integration durch Arbeit? Und wie verhalten sich dazu sozialkatholische Positionen? Unter diesen Leitfragen bringt sich der vorliegende Band in die Diskussion ein. Die Beiträge entlanggehend gebe ich einige Schlaglichter dieser Debatte wieder (I) und zeige, auf welche differenzierte Überzeugungsbildung der Sozialkatholizismus (SK) dabei zurückgreifen kann (II).

I) Wie steht es um die für den SK konstitutiven Größen Erwerbsarbeit und Staat? Alles im Umbruch oder gar am Ende?

Sicher steigt mit dem Trend zu Dienstleistungen die Chance für subjekthafte, reflexive Arbeitsformen. Doch zeigen Nicolai Egloff und Heiner Ludwig, wie auch diese Dienstleistungen vom geldabhängigen Erwerbsarbeitsmuster geprägt sind. Es sei "angemessener [...], von einem Formwandel innerhalb der Arbeitsgesellschaft zu sprechen, anstatt deren Grundprinzipien generell für obsolet zu erklären" (32).

Matthias Möhring-Hesse weist darauf hin, dass spätestens mit dem Konsultationsprozess der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage nicht mehr die Kategorie der Arbeit, sondern die der Beteiligung für die Wahrnehmung der Gesellschaft wesentlich wird. Zwar sind in der bundesrepublikanischen Situation Beteiligungsrechte zentral an Erwerbsarbeit gekoppelt, von daher ist ein "Recht auf Erwerbsarbeit" unumgänglich. Gleichwohl müsse der Wert der Erwerbsarbeit gegenüber anderen Tätigkeiten sinken, die Zugangschancen zur Integration durch Arbeit müssen besser verteilt werden. "Die Bundesrepublik darf nur Arbeitsgesellschaft bleiben, als sie ihre arbeitsgesellschaftlichen Strukturen zähmt und [...] zunehmend weniger Arbeitsgesellschaft wird" (112).

Die bleibende Relevanz abhängiger Erwerbsarbeit zeigt sich auch im Blick auf den Sozialstaat. Er fange, so Stephan Lessenich, nicht nur ex post die "Opfer" der Erwerbsarbeitsgesellschaft auf (und wird hier von neoliberaler Seite in Frage gestellt), sondern er richte gleichsam ex ante für Erwerbsarbeit zu und schaffe deren notwendiges Umfeld (Familienpolitik, Bildungspolitik ...). Die Rede von der Krise des Sozialstaats greife zu kurz: Dieser ist keine beliebig zu verschlankende Wohltätigkeitsveranstaltung, sondern bietet die unverzichtbaren Rahmenbedingungen zur Nutzung abhängiger Lohnarbeit.

Walter Reese-Schäfer verweist darauf, dass Markt und Staat in bürgerschaftlich-vertikal strukturierten Kulturen besser funktionierten als in hierarchisierten Kulturen. Für die gesellschaftliche Integration sei deshalb nicht die hierarchisch geprägte Erwerbsarbeit ausschlaggebend, sondern das Engagement in zivilgesellschaftlichen, von egalitären Politikmustern gekennzeichneten Projekten.

Aus frauen- und familienpolitischer Sicht lesen sich die Konzepte zur Entkoppelung von Erwerbsarbeit und Einkommen, zur neuen Wertschätzung der Eigenarbeit mindestens ambivalent. Darauf machen die Beiträge von Stolz-Willig, Klammer und Klein aufmerksam.

Brigitte Stolz-Willig widerlegt den Mythos vom "Ende der Erwerbsarbeit". Im Gegenteil: Mit dem Trend zur Frauenteilzeit wachse deren Bedeutung. Allerdings werde so der tradierte Geschlechtervertrag nur behutsam modernisiert, nicht überwunden. Die Alternative für Stolz-Willig: Frau und Mann sind jeweils ganz erwerbstätig, der (familienstützende) Dienstleistungsbereich muss ausgebaut werden (175). Passend dazu konstatiert Wolfgang Klein, dass die zunehmende Frauenerwerbstätigkeit begleitet werden müsse von einer "Verweiblichung" der männlichen Erwerbsarbeitsbiographie: mehr Teilzeit, mehr Familien- und Eigenarbeit, mehr Unterbrechungen auch für Männer.

Ute Klammer befragt die Entkoppelungskonzepte (guter Überblick zu Rifkin, U. Beck, Club of Rome, Dettling, F. Bergmann) daraufhin, ob der zivilgesellschaftliche Dritte Sektor nur Auffangbecken für die Opfer von Markt und Staat sei oder ein Ort neuer, attraktiver Eigenarbeit. Sie zeigt, dass ehrenamtliche Arbeit konstitutiv auf Erwerbsarbeit angewiesen ist und nicht deren Ersatz sein kann: Wer sich bürgergesellschaftlich engagiert, muss Zugang zur existenzsichernden Erwerbsarbeit haben.

II) Die sozialkatholische Bewegung, welche die vorstehenden Beiträge implizit prägt, wird selbst Thema einer zweiten Reihe von Texten. Werner Krämer rekonstruiert Genese und Folgen des Beschlusses zur Mitbestimmung auf dem Katholikentag 1947 in Bochum. Er verbindet instruktiv historische Darstellung und sozialethische Grundlegung: Das sozialkatholische Verständnis von Arbeit als Selbstausdruck des Menschseins geriet in Spannung mit dem Verständnis von Arbeit als verfügbarem Produktionsfaktor. Bochum 1947 betonte, dass Arbeit wesentlicher Beitrag zur unternehmerischen Wertschöpfung sei: Deswegen sollten die Arbeitenden nicht nur am Unternehmenserfolg beteiligt werden, sondern mitbestimmen können. Mitbestimmung sei unumgänglich, wenn Arbeitnehmer nicht nur Verfügungsobjekte der Kapitaleigner sein sollen. "Die Erwerbsarbeit soll zum Lebensraum der Arbeitenden und zu einem gesellschaftlichen Fundament der Demokratie werden" (168).

Flankiert wird Krämers Beitrag von zwei Texten, die sozialkatholische Bewegung und Tradition analysieren: Karl Gabriel beschreibt von unten die Herausforderungen des unscharf gewordenen sozialkatholischen Milieus in spätmodern-pluraler Gesellschaft: "Die Zivilgesellschaft [...] eröffnet der katholischen Sozialbewegung einen wichtigen Ort ihres künftigen Handelns in der Gesellschaft auf nationaler wie globaler Ebene" (227). Heiner Ludwig rekonstruiert von oben die sozialkatholische Überzeugungsbildung in Anlehnung an Verlautbarungen der Kurie. Der Sozialkatholizismus schillere zwischen antimodernistischer Reaktion und moderner Bewegung. Die Wahrnehmung, dass die frühindustriellen Arbeits- und Lebensbedingungen die Entkirchlichung beförderten, führe zum gehaltvollen sozialkatholischen Begriff von Arbeit als "sittlicher Tätigkeit und Subjektsausdruck", führe von daher zur Option für eine partizipatorische Wirtschaftsordnung, die menschengerechte und subjekthafte Arbeitsverhältnisse ermögliche.

Auch das Verhältnis zur Demokratie ist nicht ungebrochen. Hermann-Josef Große Kracht: So wenig der Katholizismus oben demokratisch sei, so sehr führten doch die Auseinandersetzung mit der kapitalistischen Moderne unten zu (wirtschafts-)demokratischen Überzeugungen. Spannend bleibe die Frage nach der Rolle von demokratisch-zivilgesellschaftlichen Bewegungen wie des SK angesichts des massenmedial verstärkten Interesses an Hierarchien und Führungspersonen.

Der Beitrag des Physikers Reiner Kümmel schließlich weitet mit dem Fokus auf der Energiefrage den Horizont für die globale Ökologie: Im Zuge von Industrialisierung und Computerisierung seien "die menschlichen Sklaven und Leibeigenen durch Energiesklaven ersetzt worden" (286). Sie würden aber nicht leistungsgerecht entlohnt, Arbeit würde zu hoch, Energie viel zu niedrig besteuert. Ein anderes Steuersystem sei dringend geboten, aber nur durch globale Institutionen zu etablieren. Kümmel hofft hier auf ein gemeinsames Ethos der Solidarität, das nur von den Weltreligionen getragen werden könne.

Der Band liefert einen spannenden Überblick über die beachtliche konzeptionelle Stärke des Sozialkatholizismus wie über manche analytischen und konzeptionellen Schatten nach-industrieller Träume von der Bürgergesellschaft. Zukunftsfähig halte ich das im Band anschaulich werdende Ineinander von SK als Bewegung, der sich hier kritisch selbst wahrnimmt, und SK als Denkfabrik, der wertvolle Impulse zur gegenwärtigen Debatte liefert - Ethos und Ethik, sozialkatholische Tiefenprägung und reflexive Schärfe in interessantem Wechselspiel.