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Ausgabe:

Juni/2002

Spalte:

684–686

Kategorie:

Systematische Theologie: Ethik

Autor/Hrsg.:

Hildemann, Klaus D. [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Die Zukunft des Sozialen. Solidarität im Wettbewerb.

Verlag:

Leipzig: Evang. Verlagsanstalt 2001. 252 S. 8. Kart. ¬ 19,50. ISBN 3-374-01862-9.

Rezensent:

Heinrich Bedford-Strohm

Das Buch dokumentiert Beiträge, die anlässlich eines im September 2000 an der Berliner Humboldt-Universität veranstalteten Symposions über die Entwicklung der beiden großen Sozialpartner Staat und freie Wohlfahrtspflege entstanden sind. Die über 20 Beiträge können hier nicht im Einzelnen aufgeführt werden. Sie reichen von Aufsätzen auf hohem theoretischen Niveau, die sich mit Begründungsfragen wie dem Verhältnis von Gottebenbildlichkeit und Menschenwürde (Ulrich Barth) oder dem Thema "Menschenwürde und Sozialethik. Erwägungen zum Proprium diakonischer Praxis" (Christian Schwarke) oder der Beziehung zwischen Moral und Ökonomie (Hermann Lübbe) beschäftigen, über Stimmen aus der Politik, wie dem Aufsatz von Walter Riester über die Arbeits- und Sozialpolitik der Bundesregierung oder dem Beitrag von Kurt Biedenkopf über die demographische Entwicklung als politische Herausforderung, bis hin zu Beiträgen, die konkrete Formen diakonischen Handelns beschreiben und reflektieren, so etwa die Zukunft gemeinnütziger Stiftungen, die Nutzung des Internets für diakonisches Handeln oder das Fundraising als Berufsfeld.

Der Herausgeber Klaus Hildemann steckt in seinem Vorwort das Feld ab, in dem sich alle Überlegungen bewegen, indem er den Staat, die freie Wohlfahrtspflege und schließlich gewinnorientierte Sozialunternehmen als die drei Akteure beschreibt, die die Zukunft des Sozialen maßgeblich prägen werden. In dem ebenfalls von Hildemann verfassten einleitenden Beitrag wird die einleuchtende These vertreten, dass Sozialstaat und Marktwirtschaft nicht gegeneinander ausgespielt werden dürfen. Marktwirtschaftliches Handeln - so Hildemann - "profitiert von einem gut funktionierenden Sozialstaat". Das Sozialstaatsprinzip trägt zur Befriedung bei, "indem es breite Bevölkerungsschichten vor Armut und sozialer Ausgrenzung bewahrt" (18).

Der Sozialethiker und Berlin-Brandenburger Bischof Wolfgang Huber bestätigt diese These, wenn er in seinem Beitrag über die Rolle der Kirchen als intermediäre Institutionen unterstreicht, dass ein Leben in Freiheit "nur gelingt, wenn mir die Freiheit des anderen genauso wichtig ist wie die eigene Freiheit" (46). Um die mit dieser Einsicht verbundenen Haltungen einzuüben und fruchtbar werden zu lassen, bedarf es intermediärer Institutionen wie der Kirchen. Eine solche intermediäre Institution ist die Kirche deshalb, weil sie einerseits für den Einzelnen einen Deutungshorizont anbietet, der den Zusammenhang der verschiedenen Felder persönlichen und gesellschaftlichen Lebens erkennen lässt. Sie kann aber andererseits auch als Interpretationsgemeinschaft verstanden werden, die dem Einzelnen ermöglicht, die gesellschaftlichen Sinnmuster mitzuprägen (49). Im Bildungsauftrag der Kirche - so Huber - steckt deswegen auch beides: die Stärkung der Kohäsionskräfte der Gesellschaft, aber auch die "Befähigung zur Kritik an Zuständen und Entwicklungen, in denen die Würde der menschlichen Person und die Grundlagen eines gerechten gesellschaftlichen Zusammenlebens gefährdet oder aufgehoben werden" (52).

Mit der Frage, wie solche Grundlagen gerechten Zusammenlebens beschrieben werden können, also mit Begründungsfragen des Sozialstaats befasst sich der Beitrag des Kieler Philosophen Wolfgang Kersting. Zu Recht verweist er auf die große theoretische Unsicherheit bei dieser Frage. Bis heute ermangele der Sozialstaat einer verbindlichen normativen Hintergrundtheorie. Ob eine solche verbindliche Hintergrundtheorie nötig oder überhaupt wünschbar ist, mag dahingestellt bleiben. Gerade im Hinblick auf die soziale Gerechtigkeit kann die Offenheit des Diskurses ja auch als Gewinn gesehen werden. Dass angesichts knapper Kassen oder jedenfalls einer von Knappheit geprägten allgemeinen Stimmung genaueres moralisches Orientierungswissen notwendig ist, ist aber sicher nicht zu bestreiten. Dazu leistet der Autor einen Beitrag, indem er vier Modelle einer kohärenztheoretischen, also am Zusammenhang verschiedener philosophischer Argumentationsstränge orientierten Sozialstaatsbegründung vorstellt und bewertet. Das erste Modell nimmt die reine Daseinsfürsorge in den Blick. Hier geht es also nur um die fundamentalen Lebens-, Erhaltungs- und Entwicklungsinteressen der Menschen, denen Rechnung getragen sein muss. Das zweite Modell der Freiheitsfürsorge geht hier weiter. Es verlangt darüber hinaus eine materielle Absicherung menschlicher Autonomieausübung. Nicht nur die Aufrechterhaltung der Lebensbedingungen eines Homo Sapiens sind hier gefordert, sondern alles, was notwendig ist zur Entwicklung einer autonomen Persönlichkeit. Das dritte Modell der Gleichheitsfürsorge geht demgegenüber einen qualitativ neuen weiteren Schritt: Es intendiert im Lichte des Gleichheitsideals die Korrektur der natürlichen Unterschiede zwischen Menschen. Bei dieser "im Kielwasser der Rawlsschen Gerechtigkeitstheorie" entwickelten Konzeption wird die Verteilungsgerechtigkeit als moralische Forderung verstanden, die natürliche und soziale Benachteiligungen ausgleicht. Das vierte Modell schließlich, das Kersting vorstellt, ist die Demokratiefürsorge. Die Diskursethiker, die dieses Modell vertreten, sehen die sozialstaatliche Absicherung vor allem als Voraussetzung für die zivilgesellschaftliche Teilhabe aller am öffentlichen Diskurs. Kersting nimmt im Spektrum dieser vier Modelle klar Partei für das zweite Modell der Freiheitsfürsorge. Seine Argumentation wird indessen getrübt von Polemik gegen das dritte und vierte Modell, die nur bedingt nachvollziehbar ist und eher von Affekten als von nüchterner Sachlichkeit geprägt ist. Die egalisierungsverpflichtete Gesellschaft rufe zur "Selbstorganisation des Neides" auf. Kersting bescheinigt diesem Modell eine "paradox-perverse Tiefenstruktur", in der die "Autoviktimisierung zur Erfolgsstrategie" erklärt wird (79). Der in dem Beitrag spürbare Eifer in der Kritik an einer Überbetonung des Gleichheitsideals trübt die sachliche Überzeugungskraft der Argumentation zuweilen ein wenig. Gerade in seiner kontroversen Spitze lassen sich daraus aber zahlreiche Gedankenanstöße gewinnen.

Die Fülle von unterschiedlichen Perspektiven aus ganz verschiedenen Reflexions- und Praxiszusammenhängen kann als die besondere Stärke des ganzen Buches gesehen werden. Dass es sich in allen seinen Beiträgen mit einem Grundproblem gesellschaftlichen Zusammenlebens beschäftigt, das in Gegenwart und Zukunft zu einem der zentralen politischen, ethischen und theologischen Herausforderungen gehört, steht außer Frage. Leserinnen und Leser, die in der diakonischen Praxis stehen, die im akademischen Bereich tätig sind oder die sich in der Politik mit den dabei verhandelten Fragen beschäftigen, werden aus dem Buch wertvolle Anstöße mitnehmen.