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Ausgabe:

Juni/2002

Spalte:

669–671

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Baier, Karl, Mühlberger, Sigrid, Schelkshorn, Hans, u. Augustinus Karl Wucherer-Huldenfeld [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Atheismus heute? Ein Weltphänomen im Wandel. Mit einem Geleitwort von Kardinal Franz König.

Verlag:

Leipzig: Evang. Verlagsanstalt 2001. 204 S. 8. Kart. ¬ 19,50. ISBN 3-374-01861-0.

Rezensent:

Matthias G. Petzoldt

Die vorliegende Aufsatzsammlung versteht sich als eine Weiterführung des von einer "Studiengruppe zu Fragen des Unglaubens" getragenen Unternehmens, das 1979 mit dem 1. Band der "Studien zur Atheismusforschung" unter dem Titel "Weltphänomen Atheismus", hrsg. von A. K. Wucherer-Huldenfeld, J. Figl und S. Mühlberger, eröffnet wurde. Wie schon 1979, damals in seiner Funktion als Präsident des vatikanischen Sekretariats für die Nichtglaubenden, hat Kardinal König auch diesmal für das Buch ein Geleitwort geschrieben. Allerdings steht hinter dem Titel jetzt ein Fragezeichen. Dass Atheismus ein Weltphänomen sei, war für die Herausgeber Ende der siebziger Jahre eine Tatsache gewesen, die für sie feststand, für deren Einsicht sie freilich die Leserinnen und Leser erst noch gewinnen zu müssen meinten. Die Herausgeber des neuen Bandes widerrufen diese Auffassung nicht; sie problematisieren sie aber. Nach dem Tod markanter atheistischer Denker wie Sartre und Bloch, nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Systeme in Osteuropa und unter dem Eindruck des Spektrums postmoderner Pluralität, das von bunter Religiosität bis zu religiöser Indifferenz reicht, haben sich alte Diskussionsschablonen wie das Dual Atheismus/Theismus abgenutzt. Der Philosoph A. K. Wucherer-Huldenfeld (Wandlungen des Phänomens und der Bedeutung des Atheismus an der Wende zum 21. Jh.; 37-52) verdeutlicht, wie schwer selbst ausdifferenzierte Bestimmungen des Atheismus das oft nur verdeckt thematisierte Phänomen kategorial erfassen können. So verwundert es nicht, wenn auch eine quantifizierende empirische Sozialforschung (H. Bogensberger: Atheismus heute? Ein religionssoziologisches Fragment; 15-35) Schwierigkeiten hat, Aussagen über die - gar weltweite - Verbreitung von Atheismus und verwandte Einstellungssyndrome zu machen.

Zwei Beiträge (U. H. J. Körtner: Finis Christianismi - Christentumskritik bei Franz Overbeck; 147-169, und G. Pöltner: Nihilismus - Grundzug der abendländischen Metaphysik? 119-135) widmen sich prominenten Positionen der Theologie, Religions- und Metaphysikkritik (bei Letzterem geht es um Heideggers Auseinandersetzung mit Nietzsches Nihilismusbegriff) und loten ihre Bedeutung für die Gegenwart aus. Die veränderte Diskussionslage nach der klassischen Religionskritik hingegen wird beispielhaft durch H. Schelkshorn an dem Denken von Michael Foucault aufgezeigt (Ein melancholisches Spiel der Masken - über Foucault, die Moderne und die Religion; 63-90), das in seiner frühen und späten Phase auf schillernde Weise religiöse und christliche Traditionen beerbt und zu einer "Dialektik der Entgrenzung" zuspitzt.

Das Gespräch zur Psychologie hin und zur Psychotherapie öffnen auf unterschiedliche Weise zwei Aufsätze. R. Schwager (Die Provokation zum Atheismus durch Gewalt in den biblischen Schriften; 137-145) setzt sich in besonnener Argumentation mit den kritischen Thesen des Freiburger Psychologen Franz Buggle (Denn sie wissen nicht, was sie glauben - Oder warum man redlicherweise nicht mehr Christ sein kann; 1992) auseinander. Und R. Picker (Über den praktischen Atheismus von Therapie und Therapeuten; 171-184) kehrt die herkömmliche, ihrer Bedeutung wegen auch immer wieder zu stellende Frage nach den krankmachenden Wirkungen religiöser Erziehung und pathologischer Formen von Frömmigkeit um zur Frage nach den Therapieverlusten unter einer Therapeutenzunft, die ihre Arbeit im Kontext eines von einem positivistischen Wissenschaftskonzept geleiteten praktischen Atheismus verrichtet. Grundhaltungen wie die der Reue, des Dankens oder der Hoffnung verkümmern unter dem Paradigma einer genetischen Analyse. Die Problemstellung, die aus der Erfahrung therapeutischer Praxis des Autors heraus erhoben wird, ist um so beachtenswerter, als jenes herrschende Paradigma von Psychotherapie gegenwärtig konterkariert wird durch eine wachsende Konjunktur spiritueller Psychotherapie, welche Anleihen bei verschiedenen religiösen Traditionen, außer bei christlichen, macht.

K. Baier (Der A/Theismus des Erwachens - Zen-Philosophie und Theismus-Kritik bei Hisamatsu Shinichi; 91-117) weitet den eurozentristisch verengten Blickwinkel, wie er für die Thematisierung des Atheismusproblems typisch ist, aus für eine Wahrnehmung modernen japanischen Denkens (Kyôto-Schule). Freilich machen seine Ausführungen deutlich, wie diese fernöstliche Artikulation einer atheistischen Religion aus der Rezeption von und Auseinandersetzung mit europäischer Religionskritik und Theologie erwachsen ist.

In einem literaturwissenschaftlichen Aufsatz von S. Mühlberger ("Ich lebe Auge in Auge mit dem Nichts" - Beispiele literarisch artikulierter Religionskritik; 185-201) werden Texte von Reiner Kunze, Ernst Meister und Marlen Haushofer auf ihre weltanschauliche Grundhaltung hin untersucht. Bei aller Unterschiedlichkeit ist ihnen gemeinsam, dass sich ihre Distanzierung von Religion auf dem Hintergrund einer Verwurzelung in christlicher Sprachwelt und Tradition vollzieht. Das trifft selbst auf Rainer Kunze zu, der lange Zeit in der DDR gelebt hatte.

Dass die Entwicklung des Atheismus im ostdeutschen Raum aber inzwischen ein neues Stadium erreicht hat, davon wird etwas aus dem Beitrag von U. Kühn (Zur säkularen Welt Ostdeutschlands; 53-62) ersichtlich. Er zitiert aus einer Untersuchung der Leipziger Religionssoziologin Wohlrab-Sahr die im Interview artikulierte weltanschauliche Selbstdefinition einer Jugend als "normal" jenseits von Christentum und Atheismus. Schon in der zweiten Generation lebt man hier ohne irgendeine Berührung mit christlicher Tradition. In geradezu rührender Weise sucht Kühn unter der ostdeutschen Bevölkerung nach Symptomen religiöser Bedürfnisse wie z. B. an Besuchen von Kirchenkonzerten oder im Kult von Pop-Stars. So wichtig solche Beispiele zweifellos sind, dürfen sie jedoch die Wahrnehmung nicht verstellen, dass z. B. durch Lieder von Rockgruppen, Figuren aus Comics, Filme und Werbeclips usw. gemeinsame Sprachräume entstehen, die zur Kommunikation von Ängsten, Hoffnungen usw., zur Erinnerung und zur Findung und Plausibilisierung von Lebensgewohnheiten befähigen: Jugendkulturen mit ihren eigenen Sprachspielen, in denen christliche Tradition nicht mehr vorkommt und die sich auch von neuen religiösen Kulten erstaunlich unberührt zeigen. Von "Atheismus" kann bei alledem nicht mehr die Rede sein. Er hat sich aufgelöst, weil er sein Gegenüber verloren hat.

Der Band von 1979 war im Herder-Verlag erschienen. Haben die Herausgeber diesmal einen ostdeutschen Verlag gesucht, weil sie sich hier ein größeres Leserinteresse für ihre Thematik erhofften? Dem dürfte nicht im Wege stehen, dass die Autorinnen und Autoren fast ausnahmslos aus Österreich kommen. Der Horizont ihrer Fragestellungen ist global und ihre Herangehensweise interdisziplinär, wie es der Komplexität des Themas entspricht.