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Ausgabe:

Juni/2002

Spalte:

666 f

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Kinzel, Ulrich

Titel/Untertitel:

Ethische Projekte. Literatur und Selbstgestaltung im Kontext des Regierungsdenkens: Humboldt, Goethe, Stifter, Raabe.

Verlag:

Frankfurt/M.: Klostermann 2000. X, 609 S. 8 = Das Abendland, NF 27. Lw. ¬ 99,00. ISBN 3-465-03064-8.

Rezensent:

Klaus Stiebert

Ulrich Kinzels Studie "Ethische Projekte" untersucht - wie es im Untertitel heißt - "Literatur und Selbstgestaltung im Kontext des Regierungsdenkens", an fünf Beispielen der deutschen Literatur- bzw. Kulturgeschichte. In der Habilitationsschrift des Fachbereichs Sprachwissenschaften der Universität Hamburg werden "Formen des Individualismus rekonstruiert", die dem "Prinzip der Selbstsorge verpflichtet" (1) seien. Damit schließt der Autor an Untersuchungen Michel Foucaults zur Ethik an, liest die ausgewählten Texte als eine "modifizierte Fortsetzung der Geschichte der Selbstkultur" (ebd.), ohne dabei zu vernachlässigen, dass die Themen der persönlichen Ethik mit denen der politischen und sozialen Struktur verknüpft sind. K. sucht unter diesen Aspekten nach einem neuen Verständnis der Landlebendichtung des 17. und 18. Jh.s, der politischen und ästhetischen Aufsätze Wilhelm von Humboldts, der Goetheschen "Wilhelm-Meister"-Romane, des "Nachsommer[s]" von Adalbert Stifter und der späten, nach 1885 veröffentlichten Romane Wilhelm Raabes.

Es geht ihm darum zu zeigen, wie einerseits Individuen ihre Existenzweise selbst umformen und wie andererseits "auf Individuen eingewirkt wird, um sie in die politische Gemeinschaft des Staates zu integrieren" (2), also um die zeitlosen Fragen von Moral und Politik. Für Foucault ist die "Frage der Ethik eine Frage nach der Regierung des Selbst durch es selbst" (3), verbunden mit der Frage nach der Regierung anderer; bei dessen vier "Typen von Technologien" (denen der Produktion von Gütern, von Zeichen, der Technologien der Macht und des Selbst) erscheinen K. die beiden letzteren erweiterungswürdig, weil "die ethische Relevanz" der hier zu behandelnden Modelle "mit einer politischen Brisanz ausgestattet ist" - dem Versuch nämlich, zu einer "Ethik des Selbst zurückzukehren, die durch Auseinandersetzung mit bestimmten Formen der politischen Macht gewonnen wurden" (3). Der Wirkungsweise der einzelnen Texte wird ebenfalls Beachtung geschenkt, das Feld zwischen Poesie und Praxis, Logos und Ethos als "Ethopoetik" bezeichnet.

Das Werk ist in zwei große Teile klar gegliedert: Landleben, Humoldts Ansichten, Goethes Romane und die Umorientierung in der Mitte des 19. Jh.s mit den Problemen, auf die Adalbert Stifter und Wilhelm Raabe Antwort zu geben suchten. Die Analysen zeichnen zuerst "regimentale Konstellationen" nach, den zwei Untersuchungsteilen jeweils vorangestellt, ihnen folgen die Auseinandersetzungen mit den Texten selbst. Doch ist weder eine Geschichte der "literarischen Selbstkultur" (6) noch eine theoretische Reflexion über die Literatur angestrebt, nicht also die Entwicklungsdarstellung des "Bildungs- und Erziehungsromans" im gattungsspezifischen Sinne gemeint und nicht die Frage nach der historischen Bedeutsamkeit der in Betracht gezogenen Werke, sondern eine "empirische Analyse ethopoetischer Modelle" (ebd.).

Zweifellos bleiben Humboldts Konzeptionen, Goethes Idee der Entsagung, Stifters "sanftes Gesetz" oder Raabes Moralität "ethische Fiktionen" (8) und man kann für sie keinen "objektiven historischen Status reklamieren" (ebd.), doch der Versuch, persönliche Ethik und politisches Handeln aufeinander abzustimmen (Humboldt, Goethe) ist ebensowenig abgegolten wie die Neugründung politischer Gemeinschaften auf der Basis einer Ethik des Selbst (Stifter, Raabe).

Im ersten, "Landleben" überschriebenen Teil wird der Rückzug aufs Land als konstantes Thema der "Kultur des Selbst" (11) und als Ausdruck der Abwendung von der Politik gesehen. Ausgehend von Beispielen der Lyrik Martin Opitz', Friedrich Hagedorns und Ewald von Kleists oder den Schriften Joachim Heinrich Campes, Karl Philipp Moritz' und anderer wird in der Ethik des "ruralen Rückzugs" und der "Gradlinigkeit eines klugen Verhaltens" (50) die Möglichkeit beschrieben, den Wechselfällen des politischen Lebens zu widerstehen.

Im zweiten Kapitel, "Souveränität und Einbildungskraft", steht Humboldts Projekt einer Ethik des Selbst im Mittelpunkt: "Je mehr der Mensch für sich wirkt, desto mehr bildet er sich. In einer freien Vereinigung wird er leicht Werkzeug" (91) - Humboldts Aussage in den "Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen" weist zugleich auf das "anthropologische Dilemma" hin. Die Auseinandersetzung mit Goethes "Wilhelm-Meister"-Roman, den Lehr- und Wanderjahren, ist mit "Lebenskunst und Wohlfahrt" überschrieben (Teil III). Hier waren in klassischen Zeiten von vornherein in Leben und Werk "persönliches Regiment und politische Macht" (184) miteinander verbunden. Die "Ethopoetik der Spiele" in den Lehrjahren flüchtet in die Einsamkeit der Entsagung der "Wanderjahre" zu Individuen, "die sich als regierbar und der Wohltaten fähig erweisen wollen" (344).

"Das erfüllte Haus" (Kapitel IV) trifft exakt auf Stifters Intention des "Nachsommer"-Romans von 1857: Familie, Erziehung, Kunst und Wissenschaft als Orientierungsorte - hier ist die "Ästhetik des Hauses" tatsächlich das ethische Projekt für die Zukunft einer Gemeinschaft. Das V. Kapitel, "Die Waffen des Lebens", gilt der Gestaltung der philosophischen (stoizistischen) Lebensweise und ihrer existentiellen Reduktion in Wilhelm Raabes Romanen, vorwiegend in "Stopfkuchen", von 1891, aber auch "Das Odfeld", "Die Akten des Vogelsangs", "Hastenbeck" und "Altershausen" werden einbezogen. Sie gelten K. allesamt als "Orte des Rückzugs in sich selber", gesehen als das "allegorisch verschlüsselte Geheimnis (arcanum) der Kunst, sich selber zu erfinden" (532); sie bestätigen so den gewählten Projekt-Ansatz.

Eine umfangreiche Bibliographie, Personen- und Sachregister erleichtern den Umgang mit der interessanten Arbeit.