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Ausgabe:

Juni/2002

Spalte:

664–666

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Grözinger, Karl E., u. Jörg Rüpke [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Literatur als religiöses Handeln?

Verlag:

Berlin: Berlin Verlag 1999. 372 S. gr.8 = Religion - Kultur - Gesellschaft, 2. Kart. ¬ 46,00. ISBN 3-8305-0119-6.

Rezensent:

Klaus Stiebert

In der Reihe "Religion, Kultur, Gesellschaft" (hg. von Karl E. Grözinger) ist als zweiter Band eine Sammlung von 16 Aufsätzen erschienen, in denen "die Bandbreite der Schnittmengen von literarischen Produktionsnormen und religiöser Intention, von religiöser Textproduktion und literarischer Rezeption" (9) auszuloten versucht wird. Eine interdisziplinär entwickelte Frageperspektive für die Einzeluntersuchungen von der Antike bis zum 20. Jh. will das Fragezeichen des Titels der Publikation ernst nehmen. Die chronologische Anordnung soll keine Entwicklungsgeschichte suggerieren. Drei Arbeiten gelten dem "Altertum", fünf dem "Mittelalter und der Frühen Neuzeit"; der etwas problematischen Zuordnung "Neuzeit" für sechs sehr unterschiedliche Aufsätze, die in der Mehrzahl dem 19. Jh. vorbehalten bleiben, folgen noch zwei Zugänge zum 20. Jh., die offenbar dieser Neuzeit nicht zugeordnet werden sollen. Die Beiträge erwuchsen aus Vorträgen und Diskussionen einer Ringvorlesung an der Philosophischen Fakultät der Universität Potsdam 1998/99.

Peter Riemers vergleichende Untersuchung "Spielarten göttlicher Macht" in den Tragödien des Sophokles' "Ödipus Tyrannos" und des Euripides "Bakchen" arbeitet den theologischen Gehalt der attischen Tragödie heraus. Während die "Unverfügbarkeit göttlichen Willens" (10) in Sophokles' "Ödipus" trotz aller Zweifel nicht in Frage steht, sprechen Zerrissenheit und Zwiespalt der Euripideischen Gestalten schon die "Mahnung aus: sich dem Irrationalen nicht ungehemmt hinzugeben" (35). "Sprach- und Sprecherwandel im Erlösungsroman des Apuleius" behandelt Ulrike Egelhaaf-Gaiser. Die religiöse Aussage scheint eindeutig: Durch das Eingreifen der Göttin Isis wandelt sich der "Esel" zu einem in höhere Grade eingeweihten Anhänger, vom "Zauberlehrling zum Isispriester". Den Metamorphosen des Abenteurers entsprechen die der Sprache, die ein "facettenreiches Repertoire ausschöpfen (61). Das Verhältnis von "religiöser Organisation und Text" untersucht Jörg Rüpke an "Problemfälle[n] religiöser Textproduktion in antiken Religionen", das heißt am Beispiel der stadtrömischen Priesterschaft, wobei sich die Frage nach der religiösen Qualität von Texten als eine nach "Kontexte[n] der Produktion, Tradition und Rezeption" (91) erweist.

Judith Klüger und Hans-Jürgen Bachorski untersuchen die weitverbreiteten und beliebten mittelalterlichen Legenden, wie sie in der "Legenda Aurea" gesammelt wurden: "Religiöse Leitbilder und erzählerisches Spiel". Die "generative Kraft des Erzählmodells" (129) wird im beigegebenen Bildmaterial anschaulich und eröffnet der "wilden Narrativität der Gattung" (128) weite Spielräume. Der Tradition literarischer Selbstreflexion seit der Antike geht Helene Harth in ihrer Untersuchung lateinischer Texte der italienischen Renaissance nach. Keine "Lebensgeschichte im Sinne moderner Autobiografie" (146), sondern das Strukturmuster der Beichte und ein geistiges Porträt findet sie in den "religiösen Aspekten der Selbsterforschung in Petrarcas Secretum". Gerda Haßler stellt mit den "Cantigas en loor de Santa Maria" Alfons des Weisen eine Sammlung gallizischer Texte aus dem 13. Jh. vor, die - obgleich Marienlieder - erkennbar an die Tradition der Troubadordichtung anknüpfen und so "zwischen höfischer Dichtung und religiöser Poesie" stehen.

"Glückliche Schuld und epische Vorsehung" lautet der Titel der Untersuchung Stephan Mussils zur "dichterischen Anverwandlung des Sündenfalls" in John Miltons "Paradise Lost". In dem Epos werde Gott "zum Epiker der Heilsgeschichte" (184) erklärt, eine religiöse Dichtung "im Sinne einer aufgehobenen Mitteilung", die der Autor gleichsam "versiegelt" (185). Andreas Wendland findet "auf dem Weg zum konfessionseigenen Heiligen. Frühneuzeitliche Märtyrer-Heilige in ausgewählten Texten des 17. u. 18. Jahrhunderts", also von der Gegenreformation geprägte, neue Märtyrer-Legenden und ihre Darstellungs- und Deutungsmuster.

"Literatur und Text als religiöses Handeln im Judentum" heißt der Untertitel von Karl E. Grözingers Beitrag "Die Apotheose der Sprache", der den Teil "Neuzeit" eröffnet. "Schreiben als Form des Gebets" notierte Franz Kafka, G. will das auf dem Hintergrund der jüdischen religiösen Kulturtradition verständlich machen: Geschichten-Erzählen im Chassidismus, der Text "als Medium der Gottesbegeisterung" - "wird doch der Mensch erst im Umgang mit der Sprache Ebenbild Gottes" (236). "Was kann Religion?" fragt Brigitte Sändig beim Vergleich zweier um 1800 entstandener Texte: Chateaubriands "Génie du christianism" und Novalis' "Die Christenheit oder Europa".

"Folgenreich verändert" (253) nennt Juliane Jacobi die Bezüge zwischen Literatur und Religion und Praxis in ihrer Analyse von Friedrich Schleiermachers "Idee zu einem Katechismus der Vernunft für edle Frauen" - ein Text, der "gerade nicht zur Substitution von Religion durch Bildung benutzt" (13) werden sollte. Kunst als Wegbereiterin der Religion ist Schleiermachers Perspektive in den Reden "Über die Religion" (1799), der Susanne Lanwerd nachgeht. "Puschkin, Gogol und die Sakralisierung des Dichters in der russischen Kultur" seit dem Mittelalter ist das Thema des Vortrags von Norbert P. Franz: die Tradition des Dichters als "Prediger" bis ins 20. Jh. Inken Prohl blickt auf die "Darstellung des japanischen Zen-Buddhismus in westlicher Literatur", auf die Besonderheit ("Versinken im Nichts"), aber auch auf die Verformungen und Missverständnisse.

Ein sehr weit gefasster Religionsbegriff liegt der Untersuchung eines "Heiligen Textes" der SED zu Grunde, der achtbändigen "Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung" Walter Ulbrichts von Siegfried Lokatis. Absichten und Ziele einer solchen Darstellung kommunistischer Parteigeschichte unterlagen schon dem Spott Stefan Heyms ("König David Bericht"); sie werden hier als Beispiel einer gescheiterten Kanonisierung angeführt. Im letzten Beitrag widmet sich Hildegard Piegeler den Rezeptionsformen und der religiösen Deutungsgeschichte von Spielkarten: "Das Tarot der modernen Esoterik", das (gedruckte) Symbolsystem einer neuen Religion der westlichen Welt.

Völlig unerfindlich ist, inwiefern der Verlag die Arbeiten als "hochaktuelle" Beiträge zur Debatte um die deutsche Rechtschreibung anpreist. Die Anmerkungen stehen sehr lesefreundlich am Fuße der Seiten. Merkwürdigerweise sind nur bei vier Aufsätzen bibliographische Angaben nachgestellt.