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Ausgabe:

Juni/2002

Spalte:

662–664

Kategorie:

Christliche Kunst und Literatur

Autor/Hrsg.:

Fermor, Gotthard, Gutmann, Hans-Martin, u. Harald Schroeter [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Theophonie. Grenzgänge zwischen Musik und Theologie.

Verlag:

Rheinbach: CMZ 2000. 340 S. 8 = Hermeneutica, 9. Kart. ¬ 19,43. ISBN 3-87062-037-4.

Rezensent:

Gerd Buschmann

Die Herausgeber, Gründungsmitglieder des seit 1995 bestehenden Bundes-Arbeitskreises "Populäre Kultur und Religion", und die einschlägig ausgewiesenen Mitarbeiter umreißen in origineller Weise das weite Grenzland von Musik und Theologie, von klassischer bis zu moderner, gebildeter bis zu populärer Musik - allerdings fast ausschließlich in praktisch-theologischer, nicht in musikwissenschaftlicher Perspektive.

Mit phänomenologischen Hörproben (15-39) beginnt der Kölner Religionspädagoge Dietrich Zilleßen: unsere Hör-Kultur und das Un-Erhörte. Hören ist Hinterherhören, Nachhören, geschieht mithin im Rezipienten, ist nicht teleologische Sender-Empfänger-(Tele-)Kommunikation. Auf das Wahrnehmen der Zwischentöne kommt es an, nicht auf die redundante Repetitionsmusik ...

Der Dortmunder Studienrat Matthias Schröder bietet in Könnt Ihr mich hören? Gespräche mit Popstars über die religiöse Dimension ihrer Musik (40-77) und damit Auszüge seiner einschlägigen Monographie (Neukirchen 2000): Religion wird unter (Rap-)Stars nun auch explizit und zugleich bereitwilliger Interviewgegenstand.

Der Paderborner Religionspädagoge und aktive Jazz-Musiker Hans-Martin Gutmann notiert autobiographisch Grenzgänge. Einfälle zu Jazz und Theologie (78-97): originelle Vergleichbarkeit von ästhetischer und theologischer Erfahrung, von Herbie Hancock und Karl Barth, dessen Ja und Nein wieder erkannt wird auf der Grenze zwischen Ordnung und Chaos des modernen Jazz und in Beziehung gesetzt wird zur Inszenierung von Schwellensituationen der liminalen Ritualtheorie Victor Turners.

Gotthard Fermor, einschlägig über Popmusik und Religion promoviert (vgl. meine Rez. in ThLZ 125, 2000, 1330-1332), behandelt Georg Friedrich Händels "Messias" und seine Soulful Celebration als Herausforderung, erneut über geistliche Musik nachzudenken (98-127) und fragt: Was qualifiziert ein musikalisches Werk als "geistlich"? F. antwortet pneumatologisch, nicht christologisch: säkulare Doxologien mit ekstatisch-entgrenzendem Charakter.

Der Bonner Privatdozent Harald Schroeter entdeckt Mendelssohns "Elias" für den Bibelgebrauch in der Postmoderne: Ein Bibliodrama zwischen Kirche und Konzertsaal (128-151). Die Kirche vernachlässigt das menschliche Bedürfnis nach (religiöser) Unterhaltung (vgl. Schroeters Habilitationsschrift).

Der Bonner Praktische Theologe Gustav A. Krieg beschreibt "Das Verhältnis von Theologie und Musik vor dem Horizont der Postmoderne" (152-179) und der über Spiritualität und Popmusik promovierte Hubert Treml schreibt "Anklänge. Von der Nähe der popularmusikalischen Praxis zur Religion und vom theologischen Umgang mit beidem" (180-203): auch er betont - wie die Postmoderne - das Subjekt, versucht, die Alternative von funktionalem oder substantiellem Religionsbegriff zu überwinden und plädiert (wie F.) für eine pneumatologische Perspektive.

Der Frankfurter Religionspädagoge Hans-Günter Heimbrock denkt grundsätzlich über den Klang nach, auch tiefenpsychologisch: Modo religioso. Klang und religiöse Bedürfnisse (204-236). Dem Primat des Wortes und der Religion des Buches wäre theologisch eine erweiterte Wahrnehmung von Klängen (der Alltagskultur) kritisch zuzugesellen zu Gunsten einer Rehabilitierung der sinnlichen Erfahrung; Klänge können heilig und heilsam sein. Regressionsbedürfnisse sind urmenschliche Bedürfnisse; ehe der Mensch Worte versteht, vernimmt er Klänge.

Peter Bubmann, Professor an der Ev. Fachhochschule Nürnberg, hat sich schon Anfang der 90er Jahre und seitdem vielfältig mit Pop und Religion auseinandergesetzt. Jetzt fragt er aktuell nach Techno als Rhythmus der Freiheit? und nimmt nicht nur vom 1Kor her eine Unterscheidung der Klang-Geister vor (237-266) und beantwortet im Hinblick auf sog. Techno-Gottesdienste ethisch, nicht ästhetisch, welche Musik im christlichen Gottesdienst ihren Platz haben darf. Er lehnt als Normen ab die musikontologische Harmonie, die biblizistische Verkündigungsmusik und die Abgrenzung von Kunst und Kitsch, um stattdessen die geistgewirkte christliche Freiheit zur Norm zu erheben: ihre Wortdimension, ihre leibliche und ihre zeitlich-geschichtliche Dimension. Es gilt, Techno wahrzunehmen, nicht sofort zu funktionalisieren.

Mein mittlerweile Ludwigsburger Kollege Manfred L. Pirner, Religionspädagogik und Musikpädagogik - entfremdete Schwestern auf dem Weg zu einer neuen Schwesterlichkeit? (267-284) hat in seiner ausgezeichneten Dissertation die geschichtliche Zuordnung von Musik- und Religionspädagogik umfassend beschrieben (vgl. meine Rez. in ThLZ 124, 1999, 1289 f.) und leitet daraus für heute wichtige Aspekte ab: Respektierung der Autonomie der Kunst, Emanzipation der Musik von der Religion, "Musik und Religion entfalten im pädagogischen Bereich gerade dort am stärksten ihre [...] humanisierenden Kräfte, [...] wo sie in ihrem Eigenwert erkannt werden" (279).

Der Bonner Praktische Theologe Eberhard Hauschildt fragt aus aktuellem Anlass nach Unterhaltungsmusik in der Kirche. Der Streit um die Musik bei Kasualien (285-298). Immer häufiger wird bei Kasualien Popmusik von Angehörigen gewünscht, von Mendelssohns Hochzeitsmarsch über Tina Turner bis hin zu "Candle in the Wind" (Lady Diana) oder gar "Highway to Hell" bei der Bestattung. Den Streit um die Musik bei Kasualien zeichnet der Vf. als Streit zwischen gesellschaftlichen Mi-lieus nach (in Anlehnung an G. Schulze, Erlebnisgesellschaft, 1992), um die These zu formulieren: "Der Streit um die Kasualmusik bedarf nicht Aktionen verschärfter Kontrolle [...] vielmehr der vertieften Interpretationsarbeit" (296); denn "das Anliegen der [...] Reformation war: das Christliche von ritualisierter Ausgrenzung zu beteiligender Interpretation hin zu reformieren" (298).

Der Bonner Emeritus Henning Schröer fragt: Wie musikalisch kann Theologie werden? Ein Plädoyer für die Wahrnehmung von "Theophonie" (299-312). "Theophonie will sagen, daß Musik von Gott in ihrer Weise etwas mitzuteilen weiß, was Theologie als Denkvorgang [...] berücksichtigen sollte" (300).

Die Musikwissenschaftlerin Bianca Tänzer schließlich formuliert biographische Erfahrungen mit der spirituellen Dimension von Musik: Haste (Kirchen-)Töne? Oder: Suchet, so werdet ihr finden (Matthäus 7,7) (313-328).

Namenregister und Autorenverzeichnis beschließen den Band.

Kritik kann angesichts der Fülle der Aspekte hier nur exemplarisch formuliert werden: Welche Relevanz etwa hat die Autorenintention (heute noch) und fallen die Interview-Aussagen von Pop-Stars theologisch nicht selten weit hinter das biblisch Erkannte zurück (M. Schröder), z. B. was ist Theodizee und kann sie nach Hiob noch angemessen mit "Erziehungsleiden" beantwortet werden? (57). Oder: Wird man Techno gerecht, wenn man primär funktional-gottesdienstlich perspektiviert? (P. Bubmann). Insgesamt aber ein innertheologisch, interdisziplinär und popkulturell anregendes Buch.