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Ausgabe:

Oktober/1998

Spalte:

987–989

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Hergenröder, Clemens

Titel/Untertitel:

Wir schauten seine Herrlichkeit. Das johanneische Sprechen vom Sehen im Horizont von Selbsterschließung Jesu und Antwort des Menschen.

Verlag:

Würzburg: Echter 1996. XXVII, 744 S. gr.8 = Forschung zur Bibel, 80. Kart. DM 80,-. ISBN 3-429-01826-9.

Rezensent:

Johannes Beutler SJ

Vielleicht geht der ungewöhnliche Umfang dieser Freiburger Dissertation aus dem Jahre 1994/95 nicht zuletzt darauf zurück, daß der Vf. ein interdisziplinäres Gespräch sucht. Es geht ihm um die Begegnung von Schriftauslegung und systematischem Denken, vermittelt durch seinen Freiburger Lehrer B. Casper und dessen Lehrer B. Welte, aber auch durch Religionsphilosophen wie R. Guardini und systematische Theologen wie H. U. v. Balthasar. Im Mittelpunkt steht die Frage, welche Bedeutung dem "Sehen" im Johannesevangelium (Joh) zukommt und wie diese Sicht in heutiger Darstellung des christlichen Glaubens nach Joh vermittelt werden kann.

Hiervon handelt zunächst grundsätzlich Teil A. In Teil B geht H. den "Verben des Sehens in ihrer Bedeutungsbreite und Bedeutungstiefe" nach. In Teil C leitet H. dann zu seiner eigenen Interpretation der johanneischen Texte vom "Sehen" über: "Sehen als sich aus der Offenbarung Gottes in Jesus empfangendes Geschehen - das johanneische Sprechen vom Sehen im Horizont der Epiphaniesprache". In Teil D wird der Sehende selber stärker in die Thematik einbezogen: "Sehen als Aufnahmeweise von Offenbarung in der Spannung von Fremdheit und Verwandtschaft - das johanneische Sprechen vom Sehen im Horizont das Appells zur Entscheidung". Eine speziell johanneische Fragestellung ist diejenige nach dem Verhältnis von Sehen und Glauben. Ihr wird in Teil E nachgegangen. Es geht um die "Antwort des Glaubens auf den Appell der Offenbarung". Diese Sicht konkretisiert sich in Teil F auf die Person Jesu ’ aber auch des Glaubenden hin: "Das Sehen zwischen dem Bezug auf die Person Jesu und die Existenz des Glaubenden - das johanneische Sprechen vom Sehen in seiner ereignishaften Geschichtlichkeit". Spielt hier der Rückblick auf Jesus eine entscheidende Rolle, so kehrt sich im letzten Teil "G" die Blickrichtung noch einmal um: es geht um eine Interpretation des Joh auf dem Hintergrund heutiger Fragestellungen: "Das johanneische Sprechen vom Sehen im Horizont der Bildsprachlichkeit".

Gehen wir den einzelnen Teilen kurz nach und fragen wir dabei nach Gewinn und Grenzen der Arbeit. Schon im Eingangsteil "A" begegnet uns ein für den weiteren Verlauf der Arbeit wichtiger Begriff: derjenige der "Epiphanie" (5 f.). Die "Epiphanie" Jesu wird im Joh zur Sprache gebracht. Hier werden bereits wichtige Weichen gestellt. Es geht offenbar um das Epiphanwerden der Gottheit in Jesus Christus, in seiner Person und in seinem Werk. Das Wort als Selbsterschließung Gottes tritt demgegenüber zurück, und dementsprechend auch der göttliche Heilsratschluß: "Das Geschehen der Epiphanie wird in der Sprache ins Wort gefaßt", kann es S. 28 heißen. Es geht um das "Erschließen von Bedeutungstiefe" (33), besser: das zur Sprache bringen des "Du Gottes" (ebd.). Daß die Offenbarung performative Sprache ist, die Beziehung schafft, kommt bei H. eigentlich nirgends deutlich heraus.

Der Überblick über die Verben des Sehens in "B" versucht, die alte Streitfrage positiv zu entscheiden, ob diesen Verben bei Joh überhaupt eine unterschiedliche Bedeutung zukommt. Für den Unterschied zwischen theorein und theasthai muß dies - anders als bei H. vermutet - wohl offenbleiben. Das Problem liegt darin, daß H. seine semantische (oft an "Grundbedeutungen" orientierte) Untersuchung ohne Zuhilfenahme der sprachlich-syntaktischen Analyse durchführt und dabei übersieht, daß theorein bei Joh durchweg im Präsensstamm, heasthai hingegen im Aorist und Perfektstamm vorkommt. So wird es hier ähnlich sein, wie H. es für horao und Verwandte sieht, daß nämlich verschiedene Verben für verschiedene Zeitstufen bzw. Aktionsarten stehen. Unbestritten bleibt, daß horao bei Joh das theologisch "dichteste" Verb ist.

Nach Teil "C" ist die "Epiphaniesprache" das beherrschende Paradigma für die Rede von der Offenbarung: "Die größte Bedeutung wird dem Visuellen zugemessen werden, wenn dem Joh-Ev ein epiphanisches Offenbarungsverständnis entnommen wird. Ein solches Verständnis bildet den Gegenpol zur Beschränkung des Offenbarungsbegriffs auf das Wort" (238). H. gewinnt sein Verständnis von Offenbarung also in kritischer Auseinandersetzung mit reformatorischen Entwürfen wie besonders demjenigen von R. Bultmann. Ein wichtiger Baustein in H.s Entwurf ist die Geschichte von der Hochzeit von Kana (Joh 2,1-12). Jesus offenbart seine doxa vor seinen Jüngern, und diese glauben an ihn. Freilich fällt an dieser Stelle (279) auf, daß ein wichtiges Korrektiv dieses johanneischen Textes von H. nicht beachtet wird: die Bindung der Offenbarung der "Herrlichkeit" Jesu an seine "Stunde" (Joh 2,4). Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, daß H. sehr stark griechischem Denken verhaftet ist und die "heilsgeschichtliche" Dimension von Offenbarung und Erlösung in Gefahr ist, aus dem Blick zu entschwinden.

Von den Stellen, die im Passiv vom doxazein des "Menschensohnes" sprechen, sieht H. durchaus den Zusammenhang mit der "Stunde" Jesu (vgl. 252 f.). Doch sieht H. diese "Stunde" gewissermaßen vorausgenommen in Augenblicken des Epiphanwerdens der "Herrlichkeit" Jesu in seinen Erdentagen (ebd.). Verwunderlich ist, daß ein Zusammenhang zwischen dem "Sehen" und dem "Verherrlichtwerden" Jesu nach Joh von H. geleugnet wird (254). Eigene Untersuchungen haben eher das Gegenteil ergeben (vgl. Biblica 71, 1990, 333-347): offenbar steht hinter dem ganzen, von Jesu "Erhöht-" und "Verherrlichtwerden" bestimmten Abschnitt Joh 12,20-36 (vgl. 37-43) das Vierte Lied vom Gottesknecht in der Septuagintafassung und dabei auch der Vers Jes 52,15 LXX: "Diejenigen, die nicht gesehen haben, werden sehen, und diejenigen, die nicht gehört haben, werden hören". Er erfüllt sich im "Kommen der Griechen, um Jesus zu sehen". Bedeutsam ist auch und gerade hier die Bindung des "Sehens" an den Augenblick der "Erhöhung" und "Verherrlichung" Jesu, also an Kreuz und Auferstehung.

An der Glaubensgeschichte des Blindgeborenen von Joh 9 zeigt H. in "D" sehr schön die Umkehrung der Verhältnisse in dieser johanneischen Erzählung: Die Blinden werden sehend, die sehend Erscheinenden erweisen sich als blind. Im Rückblick auf Teil "B" muß freilich gesagt werden, daß die stärker oder schwächer ausgeprägte theologische Einfärbung der verwendeten Verben hier wenig verschlägt: fast die ganze Zeit geht es um das (ana)blepein des vormals Blinden und dessen Entsprechung bei den Pharisäern. Damit findet ein Verb Verwendung, das nach H. (66) "ein theologisch schwaches Verb" ist. Entscheidend ist eben nicht eine lexikalische Semantik, sondern der Kontext und der größere Textzusammenhang. Richtig bleibt, daß der Blindgeborene am Ende seines Weges ins Licht Jesus "sieht" mit dem Verb horao/heoraka (V. 37) und damit zu einer personalen, glaubenden Begegnung mit Jesus kommt.

In Abschnitt "E" über das Verhältnis von Sehen und Glauben spielt die Deutung des Dialogs zwischen Jesus und Tomas in Joh 20,24-29 eine wichtige Rolle. Es gibt ein Glauben aufgrund von Sehen, aber auch ein Glauben ohne Sehen. Nach H. trifft der Vierte Evangelist keine Option für ein Glauben, das ohne Sehen allein mit dem Wort auskommt (vgl. 524-533), und setzt sich mit dieser Sicht u. a. von Bultmann ab. Für ihn bedeutet Jesu Wort an Tomas (Joh 20,29) nicht mehr und nicht weniger als sein Wort an Natanael (Joh 1,50 f.), d. h. eine Weiterführung eines aufgrund eines "Zeichens" zustandegekommenen Glaubens, ja eigentlich nur eine Alternative. Das letztere wird man freilich bei Tomas kaum sagen können, da sonst seine Bewertung als apistos nicht einleuchten will. Hier wie auch bei der Behandlung der Abschiedsreden fällt auf, daß H. die Situation der nachösterlichen Gemeinde nach dem letzten Erscheinen Jesu zu sehr an diejenige des historischen Jüngerkreises angleicht. Vielleicht liegt dies auch daran, daß Textpragmatik bei ihm kaum eine erkennbare Rolle spielt.

Wenn nicht alles täuscht, dann will der Vierte Evangelist auf den Glauben derjenigen vorbereiten, die ohne zu sehen auf das Wort hin glauben.

Ein dafür so grundlegender Text wie Joh 17,20 wird von H., soweit ich sehe, nicht herangezogen. Ebenso wird - jetzt schon in Teil "F" - die Aufgabe des Parakleten, in das Wort Jesu einzuführen, zu rasch mit einem zukünftigen "Sehen" der Jünger in Joh 14,19 in Verbindung gebracht (vgl. 588 f.). Vermutlich unterscheidet der Vierte Evangelist sorgsamer zwischen einem nachösterlichen "Sehen" Jesu durch die Jünger und ihrem Verbleib auf Dauer im Wort Jesu aufgrund der Wirksamkeit des Parakleten. Rückblickend möchte H. den Glauben im Zeugnis des Verfassers verankert sehen. Dieser ist nach H. wohl nicht der Lieblingsjünger, wohl aber der "andere Jünger", der in Joh 1,35.40; 18,15 f.; 20,2-10 genannt wird (vgl. 637). Er sei dann durch die Redaktion zum "Jünger, den Jesus liebt", gemacht worden. Diese literarkritische Konstruktion bleibt kühn. Zur Verankerung des Zeugnisses des Joh in einem "Gesehenhaben" dürfte sie auch kaum notwendig sein, da der Ausleger nicht in erster Linie Verfasser zu rekonstruieren, sondern Texte auszulegen hat.

Im Schlußteil "G" kommt H. auf die johanneische "Bildsprachlichkeit" zurück. Erneut zeigt sich seine Vorliebe vor der "Epiphanie" gegenüber einem an der Wortmitteilung orientierten Offenbarungsempfang (vgl. 681 f.). Es bleiben die bereits geäußerten Bedenken, ob hier das Anliegen und die Sicht des Vierten Evangelisten getroffen ist. Wenn schon systematisch argumentiert werden soll, so ist im Sinne der "Worttheologie" zu fragen, ob das Sehen von etwas, das epiphan wird, geeignet ist, interpersonale Mitteilungen zu erfassen. Ist es von daher so zufällig, daß das Vierte Evangelium mit dem Satz beginnt: "Im Anfang war das Wort"?