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Ausgabe:

Juni/2002

Spalte:

650–653

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Taylor, Justin

Titel/Untertitel:

Les Actes des Deux Apôtres. IV: Commentaire Historique (Act. 1,1-8,40).

Verlag:

Paris: Gabalda 2000. XXXII, 245 S. gr.8 = Études Bibliques, 41. Kart. ISBN 2-85021-126-5.

Rezensent:

Jürgen Roloff

Dieses Buch bibliographisch und entstehungsgeschichtlich zu verorten, ist nicht ganz einfach. Es will, wie sein Titel zeigt, als Fortsetzung des großen Werkes von M.-É Boismard/A. Lamouille (Les Actes des Deux Apôtres, I-III, Paris 1990) verstanden werden. Ursprünglich hatte sein Vf. geplant, die vorwiegend textgeschichtlichen und literarischen Analysen der drei vorangegangenen Bände durch einen historischen Kommentar, dessen Hauptinteresse den Realien der Apg gelten sollte, zu ergänzen. Er setzte dabei mit dem in Apg 9 beginnenden Paulus-Teil ein, dessen Auslegung er bereits in den Bänden V (1994) und VI (1996) publizieren konnte. Der nunmehr vorliegende Bd. IV behandelt die bislang noch fehlenden Kapitel 1-8, bringt also das Gesamtwerk zu einem (vorläufigen?) Abschluss. Inzwischen aber hat sich sein Auslegungskonzept verändert. So erschien es ihm notwendig, auf die Diskussion um die textgeschichtlichen Hypothesen von Boismard/Lamouille, die auch die Basis seiner eigenen Interpretation bilden, ausführlicher einzugehen. Darüber hinaus wollte er Ergebnisse der an der Jerusalemer École Biblique in den letzten Jahren intensiv betriebenen Apg-Forschung zur Diskussion zu stellen. Auch die weitere Diskussion des Vf.s mit dem "Altmeister" Boismard (dem auch die Übersetzung des ursprünglich auf Englisch verfassten Manuskripts zu verdanken ist) ist wohl auf sein Werk nicht ohne Einfluss geblieben.

So ist denn auch keineswegs ein Kommentar im klassischen Sinn entstanden. Auf eine fortlaufende Auslegung des Textes wird ebenso verzichtet wie auf eine Nachzeichnung der theologischen und literarischen Struktur des lukanischen Werkes. Das Interesse konzentriert sich nahezu ausschließlich auf text- und quellenkritische Analysen sowie auf ausgewählte historische Einzelfragen. Hinzu kommt, dass die einzelnen Textabschnitte in sehr unterschiedlicher Dichte behandelt werden. Dies alles erweckt eher den Eindruck einer Reihe von gelehrten Essays, die in der heutigen Forschungsdiskussion dezidiert Positionen markieren und sie mit ebenso anregenden wie kontroversen Thesen befruchten wollen. Aber vielleicht ist in der gegenwärtigen Situation ein solches - bewusst als "uvre en progrès" konzipiertes (IX) - Unternehmen realistischer als der Versuch eines "definitiven" Kommentars.

Kontrovers ist bereits die textgeschichtliche Leitthese, die - wenn auch mit gewissen Modifikationen - der Grundsatzentscheidung von Boismard/Lamouille folgt. Demnach hat der hauptsächlich durch den Codex Bezae Cantabrigiensis repräsentierte "westliche" Text zeitliche und sachliche Priorität, denn sein Autor war Lukas selbst. Der "Alexandrinische Text" hingegen, dem NA27 im wesentlichen folgt, ist das Ergebnis einer nachlukanischen Revision (5). Hierin weicht der Vf. von der früheren, letztlich auf Th. Zahn zurückgehenden Meinung von Boismard/Lamouille ab, nach der der Alexandrinische Text auf eine von Lukas selbst hergestellte Zweitfassung seines Werkes zurückgehe. Den in seiner vorliegenden Gestalt im Wesentlichen Lukas zugeschriebenen westlichen Text hält der Vf. nun freilich keineswegs für literarisch einheitlich. Er findet in ihm vielmehr Spuren von Brüchen, die er auf die Verarbeitung vorlukanischer Texte zurückführt. Deren Rekonstruktion und historische Auswertung ist sein zentrales Anliegen. Demgegenüber treten sowohl die Frage nach mündlichen Überlieferungen wie auch traditions- und motivgeschichtliche Überlegungen in den Hintergrund, und das dürfte für die hier vertretene Forschungsrichtung symptomatisch sein.

Vor allem die sogenannten Summarien und Berichte über das Leben der Urgemeinde in Jerusalem in Apg 1-6 werden eingehend untersucht. Zu ihnen rechnet der Vf. 1,12-26; 2,42-47; 4,32-5,16 und - mit Einschränkung - 6,1-7. Auf Grund der Beobachtung ihrer weitgehenden thematischen und stilistischen Einheitlichkeit folgert er eine ursprüngliche literarische Zusammengehörigkeit. Es handle sich um ein vorlukanisches schriftliches Quellenstück, das Lukas durch die Einsprengung von drei Blöcken, die Erzählungen und Reden enthalten, nämlich des Pfingstberichts (2,1-14), der Gelähmtenheilung im Tempel samt der folgenden Konfrontation mit den jüdischen Autoritäten (3,1-4,34) und der Verhandlung vor dem Synhedrion (5,17-41) erweitert habe. Das ist deutlich konträr zu der in der neueren Forschung vorherrschenden Überzeugung, dass erst Lukas - allerdings nicht freischwebend, sondern unter Rückgriff auf verstreute Einzelüberlieferungen - die Summarien und Berichte über das Jerusalemer Gemeindeleben geschaffen habe, um das in den spektakulären Einzelepisoden Erzählte in ein kohärentes Gesamtbild der gemeindlichen Frühzeit zu integrieren.

In dem vom Vf. postulierten eigenständigen Quellenstück erscheint die Urgemeinde als eine eigenständige Gruppe innerhalb des Judentums, die sich vor allem durch rigoristische Lebensweise und straffe organisatorische Struktur auszeichnete. In beidem ergeben sich enge Analogien zu den Essenern, den von Philo und Josephus beschriebenen Gruppierungen und insbesondere zu den organisatorischen Regeln der Schriften von Qumran. Besonders auffällig ist die Nähe zu Qumran in der Hananias-Sapphira-Episode (5,1-11), die der Vf. - trotz ihres erzählenden Charakters - für das Quellenstück in Anspruch nimmt: In ihrer Brutalität finde sich "kein Echo des Evangeliums der Gnade und der Vergebung" (3). Genau darin aber spiegle sich die historische Realität. Diese jüdische Gruppe habe nämlich dieses Evangelium, dessen Triebkraft die im Christusgeschehen angebrochene eschatologische neue Wirklichkeit ist, noch nicht entdeckt und die Vermittlung dieser Wirklichkeit durch den Heiligen Geist noch nicht erfahren. Sie sei eine Gemeinde ohne Geist gewesen, die sich selbstgenügsam auf ihr eigenes Binnenleben konzentrierte und auf die Gewinnung neuer Glieder keinen Wert legte, sondern nach außen hin eher abweisend wirkte (5,13; Wachstumsnotizen wie 2,41 und 4,4 bleiben als lukanische Zufügungen außer Betracht). Und erst recht blieb ein missionarischer Ausgriff auf die Weltvölker für sie außer Betracht.

Der in 1,12-26 beschriebene "geistlose" Zustand der Jerusalemer Jesusjünger, den Lukas durch die Einfügung des Pfingstberichtes (dessen historischer Kern die in 1Kor 15,5 erwähnte Erscheinung des Auferstandenen "vor 500 Brüdern", nicht aber die Erinnerung an eine Geisterfahrung gewesen sei) auf nur wenige Tage reduzierte, habe in Wirklichkeit ungleich länger gedauert, nämlich bis zum Auftreten des Stefanus-Kreises und der "Hellenisten".

Dafür aber will der Vf. auf Grund von 6,14; 7,54-59 eine Spätdatierung wahrscheinlich machen: Erst vor dem Hintergrund des 39 n. Chr. von Caligula geplanten Übergriffs auf den Tempel (vgl. Mk 13,14!) habe die Tempelkritik des Stefanus und seine Ankündigung der Tempelzerstörung als todeswürdiges Vergehen gelten können (176 f.). Stefanus und sein Kreis seien es auch gewesen, die als erste in Jerusalem eine Erhöhungschristologie vertraten, die Jesus als den zur Rechten Gottes erhöhten Menschensohn begriff, dem schon jetzt messianische Herrschermacht eignet (7,55), während die Urgemeinde zwar an die Auferweckung Jesu geglaubt, daraus aber - wenn überhaupt, dann nur sehr vage - Folgerungen hinsichtlich seiner Messianität gezogen habe (176).

Historische Konstruktionen wie diese mögen gewisse Wahrheitsmomente ins Licht setzen. Ihre Überzeugungskraft bleibt aber gering, da sie weit mehr neue Fragen aufwerfen, als sie alte zu lösen vorgeben. Das gilt insbesondere hinsichtlich der Christologie. Ein Glaube an die Auferweckung Jesu ohne eschatologische, pneumatologische und messianologische Implikationen, wie der Vf. für die Urgemeinde postuliert, ist doch schwer denkbar.

Was die Beobachtungen hinsichtlich der Qumran-Nähe der Urgemeinde anlangt, so sind sie an sich keineswegs neu. Der Vf. hat sie in mancher Hinsicht ergänzt, intensiviert und gebündelt. Das ist zweifellos verdienstvoll. Aber um den Eindruck zu widerlegen, dass seinem Rekonstruktionsversuch des Bildes der Urgemeinde ein circulus vitiosus von historischen Vermutungen und diese bestätigenden literarkritischen Operationen zu Grunde liegen könnte, hätte es genauerer methodischer Überlegungen bedurft. Insbesondere ist es ein schwerwiegendes Manko, dass man nur über Inhalte des postulierten vorliterarischen Quellenstücks, nicht jedoch über dieses selbst informiert wird. Welche literarische Form hatte es, wo und zu welchem Zweck könnte es entstanden sein? Auf diese nicht ganz bedeutungslosen Fragen bleibt Taylor die Antwort schuldig.