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Ausgabe:

Juni/2002

Spalte:

645–647

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Kurth, Christina

Titel/Untertitel:

"Die Stimmen der Propheten erfüllt". Jesu Geschick und "die" Juden nach der Darstellung des Lukas.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 2000. 264 S. gr.8 = Beiträge zur Wissenschaft vom Alten und Neuen Testament, 148. Kart. ¬ 30,60. ISBN 3-17-016620-4.

Rezensent:

Peter Müller

Die 1999 unter Anleitung von Ekkehard Stegemann entstandene Dissertation von Christina Kurth verfolgt den "Hauptzweck, das Bild des Lukas vom Judentum und dessen Verhältnis zu Israel aus den lukanischen Texten zu rekonstruieren und einerseits für die lukanische Theologie wie auch für die soziale Realität der damaligen Zeit fruchtbar zu machen, andererseits einen Beitrag zur Aufarbeitung des antijüdischen Stereotyps von den Juden als den Gottesmördern zu leisten" (15). Zur Erreichung dieses Ziels bedient sich K. einer erzählanalytischen Methode und versucht herauszuarbeiten, was Lukas mit seiner Darstellung bei seinen Hörern und Hörerinnen erreichen will (40).

Kapitel I (19-36) gibt einen Forschungsüberblick. Der Sachverhalt, dass sich insbesondere in Apg ausgesprochen pro-jüdische neben sehr anti-jüdischen Aussagen finden, führt zu unterschiedlichen Theorien, wobei K. insgesamt eine Tendenz hin zu der Position von J. Jervell erkennt (36), also einer Interpretation der lukanischen Aussagen vor dem Hintergrund der jüdischen Tradition und unter Betonung der Fortdauer der Verheißungen für Israel (27). Dieser Position ist auch K. verpflichtet.

In Kapitel II (37-46) grenzt K. ihren Untersuchungsgegenstand ab. Sie befasst sich vor allem mit den Aussagen der Apg über die Juden als diejenigen, die Jesus getötet haben (2,23.36; 3,15; 4,10; 5,30; 10,39 im Zusammenhang von Petrusreden, außerdem 4,27 f.; 7,52; 12,28 sowie Lk 24,20). Der synchron-narrative Untersuchungsansatz führt jedoch dazu, diese Stellen im Zusammenhang der lukanischen Aussagen über Leiden und Tod Jesu insgesamt zu interpretieren (41).

In Kapitel III und IV finden sich die Textanalysen, und zwar in Kapitel III (49-113) die Analysen der Leidensweissagungen und des Prozesses sowie der Emmausperikope, in Kapitel IV (115-202) die Untersuchung der genannten Stellen aus Apg 2-13. Wesentliche Ergebnisse sind: Nicht nur Jesu Tod, sondern schon sein Leiden und Geschick entsprechen dem göttlichen Vorhersehungswillen, erweisen sich als schriftgemäß und sind so notwendiger Ausweis seiner Messianität (111). Wenn aber das Geschick Jesu Erfüllung der Schriften ist, haben die jüdischen Autoritäten die Funktion von Werkzeugen im göttlichen Plan (112), und ihre Handlungen sind dementsprechend gottgewollt und schriftgemäß (200). Hierin zeige sich eine fundamentale Kontinuität mit der jüdischen Tradition (201). Die Apg nimmt gegenüber dem Evangelium eine Erzählperspektive post mortem ein. Während das Evangelium Zweifel an der Messianität Jesu zu entkräften versucht habe (111), richte sich der Aufklärungsbedarf nun auf den nur teilweisen Erfolg der Umkehrpredigt und auf die Einbeziehung der Christusgläubigen aus den Völkern ins messianische Heil (115). Hinzu komme eine narrative Situationsverschiebung. Die Aussage von der Tötung Jesu durch die Juden werde in den Reden der Apg direkt an die narrativen Hörer der jeweiligen Reden gerichtet. Diese würden dadurch zu aktiven Figuren im Erzählgeschehen. Die Aussage der Tötung Jesu durch die Juden habe hier die Funktion, die Notwendigkeit der Umkehr darzulegen. Sie zielten auf das Bekenntnis zum getöteten und auferweckten Jesus. Viele Angehörige des Volkes reagierten entsprechend, nicht aber die führenden Mitglieder. Die Aussageintention liege jedoch nicht im Aufzeigen von deren Schuld, sondern in ihrer falschen Einschätzung Jesu sowie in ihrer mangelnden Verantwortung für die eigene Rettung (200).

In Kapitel V (205-234) geht es K. um eine historisch-kritische Auswertung der narrativen Exegese (205). Im Blick auf ihre Leitfrage kommt sie zu der Erkenntnis, dass keiner der behandelten Texte die Ablehnung der Apostel von jüdischer Seite damit begründe, dass die Aussage der Tötung Jesu durch Juden diese Ablehnung evoziert habe. Der wiederholt vorgetragene Sachverhalt habe keinen Einfluss auf deren Möglichkeit umzukehren. Wichtig sei Lukas, dass sich hier ein schriftgemäßer und gottgewollter Vorgang vollziehe. Es gehe also nicht um die historische Evidenz, sondern um die theologische Tendenz der Aussage. Antijudaismus könne man den Texten deshalb nicht vorwerfen (217). Dementsprechend könne man auch nicht von einem Übergang des Evangeliums von den Juden zu den Heiden sprechen (201). K. unterstreicht dieses Ergebnis durch eine Überlegung zu den Lesern u. Leserinnen. Der Name Theophilus stehe als Metapher für alle, die Gott lieben und die in verschiedenen Personen narrativ dargestellt seien (224 f.). Die historische Frage müsse deshalb lauten: Welche möglichen historischen Hörer u. Hörerinnen der lukanischen Zeit konnten etwas aus den Texten lernen? (226) Dies wird im Blick auf Judenchristen, Gottesfürchtige und Heidenchristen ausgeführt.

Die Dissertation lässt ihren Standpunkt klar erkennen: Als exegetische Arbeit will sie einen Beitrag leisten zur Klärung der Frage nach der Bedeutung der Aussage der Tötung Jesu durch Juden. Mit ihrem synchron-narrativen Textzugang und mit ihren Ergebnissen lässt sich die Untersuchung in die gegenwärtige Forschungssituation einordnen, ebenso mit ihrem pragmatischen Interesse, aus den Texten Erkenntnisse zur sozialen Realität möglicher Rezipientengruppen zu gewinnen. Die Kritik von K., dass die Grenzen zwischen dem impliziten Leser und einer angenommenen realen Person in der Literatur nicht selten verwischt würden (15), trifft allerdings auch sie selbst; ihre eigene Lösung, Theophilus als Metapher und Rollenangebot (222) für diejenigen zu sehen, die Gott lieben, und diese dann in "möglichen historischen HörerInnen" zu finden (226 ff.), lässt diese Grenze auch nicht völlig unangetastet, wie überhaupt im Blick auf die Beziehung zwischen Christusgläubigen und Juden aus der lukanischen Narration nicht unerhebliche historische Schlüsse gezogen werden (z. B. 215). Dieses Vorgehen sollte aber immer nur mit großer Vorsicht durchgeführt werden. Bedauerlich ist, dass K., obwohl sie mit Recht den Vorwurf der Tötung Jesu durch die Juden in den Kontext weiterer Aussagen bei Lukas stellt, dabei nicht alle in Frage kommenden Stellen berücksichtigt und insbesondere Apg 28,17-28 nicht behandelt (202).

Die Arbeit ist als exegetischer Beitrag zum christlich-jüdischen Dialog zu begrüßen. In diesem Bereich kann sie allerdings auf eine Reihe guter Vorarbeiten (vielfach in Aufsätzen) aufbauen, deren Ergebnisse sie durch die Detailuntersuchung der Tötungsaussagen untermauert, deren Rahmen sie aber nicht wesentlich überschreitet.