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Ausgabe:

Juni/2002

Spalte:

642–645

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Dschulnigg, Peter

Titel/Untertitel:

Jesus begegnen. Personen und ihre Bedeutung im Johannesevangelium.

Verlag:

Münster-Hamburg-London: LIT 2000. XVI, 339 S. 8 = Theologie, 30. Kart. ¬ 20,90. ISBN 3-8258-5042-0.

Rezensent:

Ruben Zimmermann

Die auf frühere Arbeiten des Vf.s1 aufbauende Monographie folgt dem gegenwärtigen Trend der Johannesforschung und betrachtet das Evangelium als einheitliches sprachliches Kunstwerk, das synchron hinsichtlich seiner literarischen Gestaltungsmittel zu analysieren ist (8). Ähnlich wie bei jedem literarischen Werk sei auch der Autor des Joh darauf bedacht, ein Wechselspiel zwischen einer Hauptperson, d. h. hier Jesus, und unterschiedlichen Nebenpersonen zu inszenieren. D. richtet seinen Blick ganz bewusst auf diese Nebenrollen um Jesus und blendet die Hauptperson Jesus und übergreifende Personengruppen (z. B. die Juden, die Pharisäer) aus, nicht zuletzt um eine Verdoppelung oder Vervielfältigung der Arbeit zu vermeiden (4). Nach D. liegen in Joh keine individuellen Porträtzeichnungen vor, vielmehr werden die Personen in "typisierender Absicht gezeichnet, um an ihnen unterschiedliche Reaktionen auf Jesus darzustellen und diese den Lesern u. Leserinnen vor Augen zu führen, damit sie sich orientieren und ihre eigene Antwort auf Jesus finden und realisieren können" (1 f.).

Nach einer kurzen Einführung in Fragestellung und Erläuterung des exegetischen Standpunkts des Vf.s (1-9) werden im Hauptteil 21 Personen in 17 Unterabschnitten untersucht, wobei sich die Auswahl der Personen aus dem Kriterium ergibt, dass die Einzelpersonen "handelnd auftreten (sollen), sei es an verschiedenen Stellen oder an einer Stelle in relativer Breite" (4). Die Darstellung der einzelnen Personen (Johannes d. Täufer, Andreas und Philippus, Petrus, Natanael, die Mutter Jesu, Nikodemus, die Frau aus Samaria, der Königliche, der Gelähmte, Judas Iskariot, der Blindgeborene, Maria, Marta und Lazarus, Thomas, Kajaphas und Hannas, der Lieblingsjünger, Pilatus und Maria von Magdala) erfolgt in der Reihenfolge ihres erstmaligen Auftretens im Joh und orientiert sich an einem einheitlichen Muster: In einer "Hinführung" wird die generelle Bedeutung dieser Person im Joh im Vergleich mit den synoptischen Evangelien hervorgehoben. Dann werden die einzelnen Stellen ihres Auftretens in Gestalt von detaillierten Einzelexegesen untersucht, wobei zu jedem Abschnitt eine kurze Erörterung der exegetischen Grundprobleme und eine kontextuelle Einbindung gegeben wird. Besonders instruktiv sind die zusammenfassenden Überlegungen, die in eine Art Personencharakteristik münden, in der deutlich wird, welche Rolle diese Figur auf der Bühne des Joh spielt. Im Folgenden können nur einige Aspekte ausgewählter Personendarstellungen exemplarisch herausgegriffen werden:

Die schon bei den Synoptikern angelegte Ausrichtung von Johannes dem Täufer (10-35) auf den kommenden Stärkeren werde im Joh noch verstärkt und christologisch zugespitzt, wie bereits die Erwähnung im Prolog deutlich mache (Joh 1,15). "Das christologische Verkündigungsanliegen des Joh macht den Täufer zur Personifikation des idealen Christuszeugen, dessen Glaube keine Mängel aufweist" (34). Obgleich die Frau aus Samaria (!) (122-135) als nicht-jüdische Frau mit fragwürdiger Vergangenheit im Vergleich zu Nikodemus schlechte Ausgangsbedingungen habe, verlaufe die Begegnung mit Jesus "überraschend positiv" (123). In ihrer Christuserkenntnis werde sie als "Vorbild im Glauben" dargestellt und erweise sich im symbolischen Sinn (z. B. Männerbeziehungen als Götzendienst Samarias) als "Repräsentantin Samarias" (133). Die Perikope werde dabei zum Vorbild der nach Ostern aufgetragenen "Sammlung aller Glaubenden aus den Völkern zu Jesus" (135). Mit Judas Iskariot (155-184) liegt neben Kajaphas und Hannas die einzige durchweg negativ dargestellte Person im Joh vor. Judas wird als Symbolfigur der nicht (mehr) glaubenden Jünger, als "Repräsentant der Dissidenten und Schismatiker" (326) vorgeführt und sogar mit "teuflischem Charakter" (Joh 6,70 f.; 13,2.27; 17,12) geschildert. Gegenüber dieser "Schwarz-Weiß-Technik" der Gegensätze zwischen Christuszeugen und Satansdienern gewinnen nach D. in den joh Gestalten des Nikodemus, Thomas und auch Petrus eher die Zwischentöne der menschlichen Wirklichkeit Raum. Schon die Tatsache, dass Simon Petrus (51-81) der am häufigsten namentlich erwähnte (40mal) Jünger Jesu im Joh ist, zeigt die besondere Bedeutung, die der Evangelist dieser Figur beimisst. Dabei biete Petrus gerade in seiner ambivalenten Darstellung eine Identifikationsmöglichkeit für die Leser und Leserinnen. Obwohl er als Fels (Joh 1,41), Bekenner (Joh 6,66- 69) und Hirt (Joh 21,15-17) überwiegend positiv gezeichnet werde, würden auch Schwächen und Grenzen des Petrus im Missverstehen der Fußwaschung (Joh 13,1-11), in Gewaltanwendung bei der Verhaftung (Joh 18,10 f.) und in der Verleugnung (Joh 18,15-27, vgl. 13,36-38) nicht verschwiegen. Ob hierbei wirklich bereits die Gefahr des Leitungsamtes mitreflektiert ist (79), wird erwogen, vorrangig werde - so D. - an Petrus allerdings die Schwierigkeit vieler Menschen im Verstehen von Leid und Kreuzestod Jesu, die Gefahr von Abfall sowie die Möglichkeit der Vergebung durch Christus vorgeführt. In vier Szenen steht Petrus ausdrücklich neben dem Jünger, den Jesus liebte (248-273), wobei Letzterer einen "Vorrang des Glaubens und der Erkenntnis" (77) habe , womit er "die Grenzen des Hirtenamtes des Petrus" (78) markiere. Auch wenn der Lieblingsjünger namentlich nicht bekannt ist und "vom Verfasser in theologischer Absicht sehr stark als Idealfigur des Jüngers" (307, vgl. 266 f.) dargestellt werde, vermutet D. dahinter eine historische Gestalt und hält den rein fiktional-literarischen Charakter dieser Person für unwahrscheinlich. Eine Identifikation des Lieblingsjüngers mit dem Zebedaiden Johannes oder mit dem Verfasser des Joh lehnt D. ab, erwägt aber eine Zuordnung zu Lazarus, Andreas oder Natanael, ohne sich auf eine Position festlegen zu wollen. Entscheidend sei vielmehr die Zeugenfunktion dieses Jüngers und seine besondere Stellung innerhalb der joh Schule (272 f.). Wenn der Vf. im Lieblingsjünger jedoch ein "Bild des idealen Jüngers und der idealen Jüngerin entworfen (sieht), welche in der Kirche (!) die Gemeinschaft mit Jesus und dem Geist der Wahrheit so leben, dass sie zu Erkenntnissen des Glaubens finden, welche die Kirchenleitung zum Schaden der Kirche nicht berücksichtigte" (80 f.), scheint mir eher die Situation der gegenwärtigen römisch-katholischen Kirche reflektiert zu sein als die der joh Gemeinde. Doch gerade dadurch bestätigt der Vf., dass der "Lieblingsjünger" als Symbolfigur der Glaubenden gezeichnet wird, die auch heute noch als Identifikationsfigur fungieren kann (307).

Besonders instruktiv ist das 3. Kapitel, in dem der Vf. die Ergebnisse bündelt und zusammenfasst. Die dargestellten Personen geben als "Fenster" Einblicke in die frühjüdische Welt Jesu (3.3.) sowie in das Selbstverständnis der joh Gemeinde (3.4.). Vor allem aber dienen sie als Identifikationsangebote an die Leser und Leserinnen (3.5.), für die sie trotz oder gerade wegen mancher menschlicher "Schatten" zu Glaubenszeugen und -helfern werden können.

Die Studie von D. verdient schon als erste deutschsprachige Monographie zum Thema Beachtung. Ferner lenkt sie in der Darstellung der Charaktere den Blick auf ein wesentliches Strukturelement des Evangeliums, das im gegenwärtigen Trend einer synchronen Johannesexegese auf breites Interesse stoßen wird. Darüber hinaus ist hervorzuheben, dass die Untersuchung exegetisch solide und genau gearbeitet ist. Für den adressierten breiteren Leserkreis (wenig Fußnoten, Erklärung der vereinzelten griechischen Typen etc.) könnte die exegetische Feinarbeit, das schon aus früheren Publikationen bekannte statistische Interesse des Vf.s (z. B. Zeilenangaben, Kap. 3.1.) oder der z. T. verbliebene Vorlesungsstil vielleicht streckenweise etwas trocken wirken, was aber durch die guten Zusammenfassungen aufgewogen wird. Die Gegenüberstellung von historischen Gestalten und idealtypischen Figuren (z. B. 307) wird m. E. dem Komplexitätsgrad joh Reflexion nicht ganz gerecht und lässt z. B. außer Acht, dass in den Personen auch gegenwärtige Gruppen der joh Gemeinde zur Zeit der Abfassung des Evangeliums repräsentiert sein können. Da die Nebenfiguren - wie D. selbst betont (1) - eine dienende Funktion für die Darstellung Jesu erfüllen, wäre ein Ausblick auf die jeweiligen christologischen Implikationen sowie die Berücksichtigung maßgeblicher Personengruppen (z. B. die Juden) für die Gesamteinschätzung des johanneischen "Dramas" sicherlich förderlich gewesen. Dass die Auseinandersetzung mit der umfangreichen Sekundärliteratur nur selektiv in den Fußnoten geführt wird, erhöht die Leserfreundlichkeit. Teilweise werden aber dadurch auch Forschungspositionen z. B. zur Identität des Lieblingsjüngers ausgeblendet. Neuere englischsprachige Arbeiten zum Thema2 sowie feministische Arbeiten, die die Bedeutung der Frauen im JohEv hervorheben3, waren dem Vf. offenbar unbekannt. Die leserorientierte Ausrichtung der Analyse hätte bei stärkerer Einbindung von Methoden der Rezeptionsästhetik vielleicht noch reichere Ergebnisse bringen können.

Insgesamt liegt hier aber eine interessante und in ihrer Art innovative Studie zum Joh vor, die zweifellos einen wichtigen Platz in der Johannesexegese behaupten wird. Neben exegetischer Akribie und theologischer Urteilskraft überzeugt vor allem, dass der Vf. trotz der anerkannten Analogien zu literarischen Werken nicht der Versuchung erliegt, die z. T. unbefriedigend empfundene Knappheit der Personendarstellung im Joh durch eigene Fantasie und Spekulationen zu Charakterprofilen oder Personenporträts auszubauen. Stattdessen versucht D. durch große Nähe zum Text, die Angaben des Evangeliums selbst zum Sprechen zu bringen und für den gegenwärtigen Leser in einer Weise fruchtbar zu machen, dass sie einen Raum eröffnen, "Jesus (zu) begegnen."

Fussnoten:

1) P. Dschulnigg, Petrus im Neuen Testament, Stuttgart 1996; Ders., Nikodemus im Johannesevangelium, SNTU.A 24, 1999, 103-118.

2) So z. B. David R. Beck, The Discipleship Paradigm. Readers and Anonymous Characters in the Fourth Gospel (Biblical Interpretation Series 27), Leiden 1997; David Rhoads/Kari Syreeni [Hrsg.], Characterization in the Gospels. Reconceiving Narrative Criticism (JSNT.S 184), Sheffield 1999.

3) So Collen M. Conway, Men and Women in the Fourth Gospel. Gender and Johannine Characterization (SBL.DS 167), Atlanta 1999; I. Kitzberger, Synoptic Women in John. Interfigural Readings, in: Dies. [Hrsg.], Transformative Encounters. Jesus and Women reviewed (BIS 43), Leiden 2000, 77-111.