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Ausgabe:

Juni/2002

Spalte:

641 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

DeConick, April D.

Titel/Untertitel:

Voices of the Mystics. Early Christian Discourse in the Gospels of John and Thomas and Other Ancient Christian Literature.

Verlag:

Sheffield: Sheffield Academic Press 2001. 191 S. gr.8 = Journal for the Study of the New Testament, Suppl. Series, 157. ¬ 35,00. ISBN 1-84127-190-X.

Rezensent:

Hans-Martin Schenke

Das vorliegende Werk ist ein Repräsentant derjenigen modernen Forschungsrichtung, die die Verbindungen, die das Thomas-Evangelium zum Johannes-Evangelium aufweist, als literarisch verschlüsselte Widerspiegelungen einer konfliktreichen Beziehung der jeweiligen Trägergruppen zueinander versteht. Der andere Hauptvertreter ist G. Riley (Resurrection Reconsidered: Thomas and John in Controversy, Minneapolis 1995). Aber während für Riley der Streitpunkt die Auferstehung ist (die Thomas-Christen bestreiten die im 4. Evangelium vertretene Lehre von der leiblichen Auferstehung), besteht die Meinungsverschiedenheit nach DeConick in der Soteriologie: Beide Gruppen stünden zwar in der Tradition der frühen jüdischen Mystik. Aber während die Thomas-Christen nur eine weiterentwickelte Form der Visions-Mystik praktizieren (der Aufstieg in den Himmel zur Gottesschau mit der Folge der Vergottung gilt schon als zu Lebzeiten möglich), hat der Verfasser des 4. Evangeliums daraus und dagegen das theologische Konzept einer Glaubens-Mystik entwickelt (Gott kann nur, durch den Glauben, hier unten im fleischgewordenen Jesus gesehen werden). Da nun der Begriff des "Sehens" nicht nur bei Joh, sondern, obwohl nicht in gleichem Maße, auch im EvThom eine wichtige Rolle spielt, ist genügend Stoff vorhanden, um das Skelett dieser Theorie mit Fleisch zu umkleiden. Da die Autorin nun selbst sagt, dass sie sich in der konkreten Darlegung ihrer Sicht der Dinge in vielfältiger Weise auf schon vorhandene größere oder kleinere eigene Arbeiten stützt (9), ist das Neue, das sie hier vorlegen möchte, wohl in erster Linie in einer abschließenden Zusammenschau der verschiedenen anderswo erarbeiteten Teilaspekte zu sehen. Ein ihr besonders wichtiger Teil dieser Zusammenschau ist übrigens wohl die Einbettung ihres Arbeitsfeldes in eine umfassende Theorie über die Widerspiegelung von ideologischen Konzeptionen, die im Meinungsstreit zwischen verschiedenen Gruppen gewonnen worden sind, in der Literatur. Als die Hauptquelle für das von ihr dazu gebrauchte bzw. adaptierte Koordinatensystem erscheint R. Wuthnow (Communities of Discourse, Cambridge, MA 1989). Mit dem literarischen Genus des vorliegenden Werkes als Zusammenfassung hängt es übrigens wohl auch zusammen, dass hier der Stil der bloßen Darlegung vorherrscht und man Auseinandersetzung und Beweise mehr hinter dem Text vermuten muss als in ihm finden kann. Außerdem oder infolgedessen ist auch die Exegese, wie sie hier in durchaus bewundernswerter Weise vorgeführt wird, von wesentlich paraphrasierender Natur.

Es gibt nun aber zwei Punkte, die an dem Buch besonders hervorzuheben sind. Der erste betrifft EvThom Kap. 71. Das ist übrigens das (schon wegen seines fehlenden Schlusses) dunkle Logion, in dem Riley die Auferstehungslehre der johanneischen Tradition ausdrücklich bekämpft sieht und mit dessen Deutung seine ganze Konzeption steht und fällt. Es heißt dort: "Ich werde [dieses] Haus [zerstören], und niemand kann es (wieder) aufbauen [...]." Riley bezieht "das Haus" natürlich in Analogie zu dem Tempelwort von Joh 2,19.21 auf den Leib Jesu, DeC. dagegen auf den wirklichen Tempel und versteht dann die Aussage des Nicht-Wieder-Aufbaus im Zusammenhang mit der Orientierung der Thomas-Gemeinde auf den himmlischen Tempel als das Ziel des mystischen Aufstiegs. Die (also gar nicht benutzte) "Offenbarung", die ich meine, findet sich nur in einer beiläufigen Anmerkung (10648) und besagt: Wenn das Thomas-Logion eine echte Variante der neutestamentlichen Parallelen sein sollte, dann müsste in der Lücke gestanden haben: "[außer mir]".

Der zweite Höhepunkt ist, dass DeC. im letzten Kapitel (133- 163), in dem sie die Weiterwirkung des Mystik-Konflikts in anderen, aus dem syrischen Raum stammenden Schriften behandelt, neben den Praedicationes Johannis, der Epistula Jacobi Apocrypha (NHC I,2), der Ascensio Jesaiae, dem Dialog des Erlösers (NHC III,5) auch, und zwar in herausragend ausführlicher Form, das sogenannte Unbekannte Berliner Evangelium (P. Berol. 22 220) analysiert, das unter dem Titel "Gospel of the Savior" vor kurzem erst ediert worden ist (vgl. C. W. Hedrick/P. A. Mirecki, Gospel of the Savior. A New Ancient Gospel, California Classical Library, Santa Rosa, Cal. 1999). Was DeC. hier bietet (136-151), ist nämlich die erste angewandte, und ungeahnte neue Einsichten vermittelnde Exegese dieser Schrift überhaupt. Nur mischt sich mit dem Respekt vor der Autorin das Bedauern, dass sie ihrer Exegese noch nicht die erst nachträglich von S. Emmel entdeckte richtige Textfolge zu Grunde legen konnte. Den Herausgebern ist nämlich das unerklärliche Missgeschick passiert, dass sie die Haar- und Fleischseiten der Pergamentblätter verwechselt haben (vgl. S. Emmel, The Recently Published "Gospel of the Savior" ("Unbekanntes Berliner Evangelium"): Righting the Order of Pages and Events, HThR 95, 2002, 45-72). Emmels Richtigstellung ist übrigens so gravierend, dass sogleich eine Neuausgabe des Textes nötig ist und man sich also, da DeC. diesen Text mit Recht so liebt, auch schon auf die Umarbeitung ihrer Exegese freuen kann.