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Ausgabe:

Juni/2002

Spalte:

639–641

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Siegert, Folker [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Israel als Gegenüber. Vom Alten Orient bis in die Gegenwart. Studien zur Geschichte eines wechselvollen Zusammenlebens.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000. 584 S. m. 5 Abb. gr.8 = Schriften des Institutum Judaicum Delitzschianum, 5. Lw. ¬ 99,00. ISBN 3-525-54204-6.

Rezensent:

Hermut Löhr

Den Grundbestand des Bandes bilden Vorträge, die aus Anlass des fünfzigjährigen Wiederbestehens des Institutum Judaicum Delitzschianum in Münster am 13.5.1998 gehalten wurden. Weitere Beiträge kamen hinzu, so dass die Sammlung nun 24 Aufsätze (der Buchdeckel spricht hingegen von "25 Studien") von 21 Autorinnen und Autoren vereint. Gerahmt sind diese durch Einleitung und Nachwort des Herausgebers. Wie der Titel bereits signalisiert, geht es weniger um eine Introspektion des Judentums und Israels, sondern vorwiegend um die Frage, wie aus christlicher, zumal protestantisch-lutherischer Sicht Israel durch die Jahrhunderte wahrgenommen wurde. Das Werk ist so stark den Anliegen des christlich-jüdischen Dialoges und einer Erneuerung christlicher Theologie nach der Shoa verpflichtet. Hinzu treten Beiträge, die sich mit dem Alten Orient, der hellenistisch-römischen Antike und dem frühen Islam befassen.

Paul-Richard Berger untersucht in seinem Beitrag das Bild Israels, das die Inschriften des alten Ägypten, der Assyrer und Babylonier widerspiegeln. Zumeist geht es in den erhaltenen Quellen um die Unterwerfung Israels und sich daraus ableitende Tributforderungen. Johann Maier widmet sich erneut der Frage nach einer angenommenen Auseinandersetzung zwischen Judentum und Hellenismus im zweiten Jahrhundert vor Christus und interessiert sich besonders für das Zeugnis der Qumran-Texte. Einige dieser Texte wird man jetzt, so die These Maiers, vor dem Hintergrund der Ereignisse um 200 v. Chr. und nicht erst der makkabäisch-hasmonäischen Epoche verstehen müssen. Yaacov Ben-Chanan beleuchtet die Sicht auf die Juden bis in die Zeit Hadrians aus römischer Perspektive. Folker Siegert versteht die innerhalb der Zweiquellentheorie postulierte Logienquelle Q als vorchristlich (und damit auch jeder christlich-jüdischen Auseinandersetzung vorausliegend) und untersucht das in ihr entworfene Bild von Jesus und seinem Volk. François Bovon fragt in seinem Beitrag nach der Rolle Israels in der Theologie des Paulus. Er beschreibt den Weg des Apostels hin zu Röm 9-11 als einen langsamen und tastenden inneren Klärungsprozess. Während Reinhard Feldmeier auf wenigen Seiten die judenchristliche Sicht des Matthäus-Evangeliums auf Israel skizziert, geht Martin Rese noch einmal den Spuren der ersten Heidenchristen im Neuen Testament nach und beschreibt ihre Wahrnehmung Israels. Mit dem vierten Evangelium und seiner Haltung zu Juden und Judäern beschäftigt sich der Aufsatz von Eberhard Güting. Der Autor versucht dabei nachzuweisen, dass Joh 6 ein späterer Einschub ist. Adolf Martin Ritter gelingt es auf wenigen Seiten, prägnante Schlaglichter auf die Wahrnehmung Israels in der griechischen Kirche von den Anfängen bis zum fünften Jahrhundert zu werfen. Zwei Beiträge befassen sich mit der Stellung der Juden im frühen Islam, derjenige von Adel Theodor Khoury, der vor allem auf rechtliche Aspekte konzentriert ist, sowie derjenige von Alev Masarwa, der historisch weiter ausgreift. Eine Konzentration auf jüdische Positionen bietet der zweite Aufsatz von Johann Maier, der "Grundlagen der jüdischen theologischen Auseinandersetzung mit dem Christentum in Mittelalter und Früher Neuzeit" zum Thema hat - Stoff genug für mehrere Monographien! Eine Miniatur steuert Heinz Schreckenberg mit der Erinnerung an eine Adventspredigt "Adversus Judaeos" des Roberto Caracciolo (1425-1495) bei. Ein weites Feld eröffnet der Beitrag von Hans-Martin Kirn, der in einem gelungenen Überblick die reformatorische Sicht auf Juden und Judentum im 16. Jh. behandelt. Volker Stolle konzentriert sich auf eine Darstellung der Position Martin Luthers im "Horizont seiner biblischen Hermeneutik", wobei der Akzent auf einer Zusammenschau, nicht in erster Linie auf einer Darstellung von Entwicklungen liegt. Gerbern S. Oegema versucht die Sicht der reformierten Tradition auf Israel zu profilieren, wobei J. Calvin und K. H. Miskotte exemplarische Beachtung finden. Gleich drei innovative Beiträge steuert Frieder Lötzsch zu diesem Band bei. Zunächst wird die Wahrnehmung des Judentums in der lutherischen Orthodoxie anhand der Positionen von Johann Gerhard, Abraham Calov, David Hollatz sen. und David Hollatz jun. erhoben. Der Verfasser sieht eine Entwicklung von der Gegnerschaft hin zur Konvergenz. Ferner wird anhand der Auffassungen von Lessing, Schiller, Goethe, Kant, Schleiermacher, Fries und Heine die Geistes-Geschichte der deutsch-jüdischen Symbiose im 18. Jh. umrissen. Zuletzt untersucht Lötzsch den Einfluss des Predigers und Philosophen Samuel Hirsch (1815-1889) auf Albert Schweitzer. Noch keine Berücksichtigung finden in dieser Darstellung die 1998 herausgegebenen Straßburger Vorlesungen Schweitzers. Klaus Wand erinnert in seinem Aufsatz an den Verfasser des "Handbuchs der Judenfrage", den antisemitischen Publizisten Theodor Fritsch (1852- 1933). Eine frühe Phase des christlich-jüdischen Dialogs im 20. Jh. beleuchtet Arnulf H. Baumann, ausgehend von den Bemühungen Schalom Ben-Chorins seit 1938. Den Blick über den protestantischen Bereich hinaus weitet der Aufsatz von Johanna Eichmann, der die Position der katholischen Kirche in Deutschland zur Israelfrage seit 1945 zum Gegenstand hat. Die Konzilserklärung "Nostra Aetate" erscheint dabei als entscheidender Einschnitt. Wesentliche Verlautbarungen protestantischer Kirchen in Deutschland seit dem Stuttgarter Schuldbekenntnis 1945 sichtet der Beitrag von Katja Kriener. In einem (durchaus auch zum Widerspruch) anregenden Essay blickt Günther Bernd Ginzel auf das "Gegenüber von Deutschland und Israel nach dem Krieg". Angefügt sind den Aufsätzen zwei Zugaben ("Zugabe 1: Erklärung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Amerika gegenüber der jüdischen Gemeinschaft"; "Zugabe 2: Stellungnahme des Institutum Judaicum Delitzschianum zur Hauptvorlage der Herbstsynode 1999 der Evangelischen Kirche von Westfalen") sowie ausführliche Register.

In den unterschiedlich ausführlichen und unterschiedlich innovativen Beiträgen des Bandes wird ein Panorama der Fremdwahrnehmungen Israels seit den ältesten Zeiten bis in die jüngste Vergangenheit erkennbar. Israel wird dabei vor allem als Gegenüber der Kirche in den Blick genommen. Zu bereichern wäre das so gewonnene, eindrucksvoll facettenreiche Bild christlicher Selbstreflexion angesichts Israels durch eine noch stärkere Berücksichtigung der Wahrnehmung der Anderen durch Israel selbst bis in die Gegenwart.