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Ausgabe:

Juni/2002

Spalte:

636–639

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Heschel, Susannah

Titel/Untertitel:

Der jüdische Jesus und das Christentum. Abraham Geigers Herausforderung an die christliche Theologie. Aus dem Amerik. übers. von Ch. Wiese.

Verlag:

Berlin: Jüdische Verlagsanstalt Berlin 2001. 406 S. 8 = Sifria, 2. Kart. ¬ 49,90. ISBN 3-934658-04-0.

Rezensent:

Gerhard Bodendorfer

Vielen Leserinnen und Lesern ist Susannah Heschel als überaus engagierte und auch streitbare Autorin ein Begriff, die ihren Finger immer wieder auf die in unseren deutschsprachigen Landen mehr oder weniger latenten Antisemitismen legt, welche auch in der modernen Wissenschaft und Forschung nicht verschwunden sind. Sie weist dabei auf die Mechanismen der Ab- und Ausgrenzung hin, denen Juden ausgesetzt waren (und mitunter noch sind). In dem vorliegenden Buch stellt sie sich nun einem in vielfacher Hinsicht faszinierenden Thema. Mit Abraham Geiger porträtiert sie auf überaus einfühlsame Weise eine Persönlichkeit des deutschen liberalen Judentums, die breiten Kreisen leider noch immer viel zu unbekannt ist. In der Beschreibung des Umgangs der christlichen Theologie mit dem Judentum Jesu zeigt sie die Hermeneutik der Abgrenzung und Diffamierung auf, der Geiger eine aufregende "Gegengeschichte" entgegensetzt. Nicht zuletzt findet ein großer Teil der protestantischen Exegese des 19. Jh.s und des beginnenden 20. Jh.s eine umfassende Beschreibung.

H. setzt mit einem hermeneutischen Kapitel ein, das sie "die Umkehrung des Blicks" nennt. Dabei greift sie auf den eben erwähnten Begriff der "Gegengeschichte" zurück, der besonders von Amos Funkenstein und David Biale herausgearbeitet wurde. Darunter versteht man eine Polemik, bei der jemand die Quellen des Gegners ausnutzt und "gegen den Strich bürstet". Das Christentum hat Jahrhunderte lang die jüdischen Quellen verwendet und als Vorwegnahme des kommenden Christusgeschehens gedeutet, wobei es das Judentum selbst seiner positiven Identität beraubte. H. zeigt, dass Abraham Geiger nun eine "Gegengeschichte der christlichen Gegengeschichte" (44) schrieb, in dem er die Verbindung zwischen Jesus und dem Christentum durchtrennte. Jesus wird ganz und gar zum Verkünder des klassisch-pharisäischen Judentums, während das Christentum eine dogmatische Religion sei, die Jesu Lehren verkehrt habe. Geiger machte das Judentum zum Subjekt, das seinen Blick nun auf das Christentum richtete, und kehrte damit die herkömmliche Betrachtungsweise um. Zugleich hob Geiger mit seiner Gegengeschichte auch das Reformjudentum von der Orthodoxie ab, indem er ersteres auf das authentische Judentum des Anfangs zurückführt. Dieses sei im talmudischen Judentum - als Reaktion auf christlichen Druck und Intoleranz - engstirnig und streng geworden. H. zeigt an der Person Geigers auf, dass die liberale Bewegung keineswegs einfach eine Assimilation an eine deutsch-protestantische Gesellschaft vollzog, sondern eine eigenständige jüdische Identität definierte.

Im zweiten Kapitel widmet sich H. der Biographie des Theologen, Historikers, Orientalisten und Philologen Abraham Geiger (1810-1874) und zeigt ihn als facettenreiche Persönlichkeit voller Selbstvertrauen, Optimismus und wachem, energischem Geist, mit höchsten intellektuellen Fähigkeiten, der auch private und berufliche Rückschläge überstehen konnte.

Im dritten Kapitel zeichnet die Autorin seine historische Islamkritik nach, die zum Vorbild für seine Christentumsbetrachtung wird. Das christliche Islambild des 19. Jh.s war von Polemik gekennzeichnet, Mohammed wurde als Betrüger und Epileptiker verunglimpft. Geiger dagegen zeichnete Mohammed als Persönlichkeit ehrlicher religiöser Überzeugung, der die jüdische Lehre aufgenommen und weitertradiert habe. Er entdeckte im Koran zentrale Motive, die er direkt aus der rabbinischen Literatur entlehnt glaubte. Glaube und Sitten seien wesentlich dem Judentum entlehnt und arabischer Praxis angeglichen. Das Judentum war nach Geiger der kraftvoll originelle Impuls, der Islam eine davon abgeleitete Konstruktion. Er gestand vor allem dem ma. Islam jedoch weit mehr Bildung und Kultur zu als dem zeitgleichen Christentum. Mit seiner These von der direkten Abhängigkeit des Islam von Midrasch und Talmud griff Geiger ein bereits bei Petrus Venerabilis bekanntes Element auf, deutete es jedoch im Gegensatz zum christlichen Islambild nicht als Beweis der jüdischen Irrlehre, sondern als Zeichen der positiven Bedeutung und Strahlkraft des Judentums. Es wäre an dieser Stelle des Buches interessant gewesen, mehr über die Rezeption der jüdischen Islamdeutung im direkten Umfeld von Geiger - was H. anreißt -, aber auch darüber hinaus zu erfahren, vor allem im Blick auf die zeitgenössische Islamsicht. Dies könnte eine lohnende Aufgabe weiterer Studien sein.

Sehr ausführlich und überaus kenntnisreich widmet sich H. dann der protestantisch-theologischen Literatur des 19. Jh.s in Bezug auf die Beurteilung des Judentums. Dies setzt im 3. Kapitel ein und zieht sich über das 4. ("Das neue Bild des Frühjudentums") und 5. (zur Tübinger Schule) bis zum 6. Kapitel ("Der jüdische Jesus und die protestantische Flucht vor dem historischen Jesus") hin. Dabei zeigt sie die Problematik der liberalen Theologie auf, trotz rationalistischer Zugänge und reformfreudiger Wissenschaftsorientierung am Antijudaismus und ihren Stereotypen festzuhalten. Selbst die Wiederentdeckung rabbinischer Quellen für die Beschreibung des christlichen Ursprungs bei August Friedrich Gfrörer paarte sich gerade nicht mit einer positiven Einstellung zum Judentum. Gfrörer hielt an der stereotypen Distanz zwischen Jesus und dem pharisäischen Judentum - das er dem verhassten Katholizismus verglich - fest und wünschte sich für seine Zeit ein Ende des Judentums als Folge der Emanzipation.

Im 4. Kapitel zeigt H. nun die Bedeutung des Hauptwerkes Geigers - "Urschrift und Übersetzungen der Bibel" - als bahnbrechenden Versuch einer positiven Würdigung der Quellen und einer akribischen Auseinandersetzung mit dem Bibeltext, den Interpretationen und Übersetzungen. Dabei legte er den Schwerpunkt auf die Auseinandersetzung zwischen Pharisäern und Sadduzäern, die er als Motor der frühen Textentwicklung zu entdecken glaubte.

Die Ideologie der Sadduzäer leitete er von den Samaritanern her und ließ sie auf die Karäer einwirken. Sie hätten eine eigene priesterliche Halacha entwickelt, deren Überreste man noch in den rabbinischen Quellen finden könne, ebenso in den Targumim und im 1. Makkabäerbuch. Die Sadduzäer stellten nach Geiger das konservative Element dar, das streng am Buchstaben orientiert die Vorherrschaft der Priester festigen wollte, während die Pharisäer das demokratische Prinzip verkörperten und zudem wesentlich mehr Spielraum für eine Interpretation des Textes ließen. Erst nach dem Abschluss des Talmud habe sich das pharisäische Judentum auf Grund christlichen Drucks zu einem strengen Rechtssystem entwickelt. Noch im Talmud sei es ein Element der Erneuerung gewesen. Viele Widersprüche auch in den Evangelien führte Geiger auch in dem Essay "Sadducäer und Pharisäer" von 1863 auf die Diskussion zwischen Pharisäern und Sadduzäern zurück. Die Schule Hillels habe sich stark von den Sadduzäern entfernt und einen Sieg davongetragen. Ihr milder und demokratischer Grundton entspräche dem von Jesus, der deutlich die pharisäische Position vertrete. Mit den Pharisäern teile er die zentralen Ideen, die das Judentum als universale Religion auszeichneten. Widerstand gegen Unterdrückung, eine hohe ethische Reife und ein "erwachsenes Volksbewußtsein" seien seine Charakteristika, die sich in seiner Zeit wieder in der protestantischen Reformation fänden, die gegen den sadduzäischen Katholizismus aufstand. Die Pharisäer verkörperten nach Geiger (auch in "Das Judentum und seine Geschichte") das Judentum schlechthin und die höchste Ebene der Religiösität, in der Gleichberechtigung aller, Kampf gegen Hierarchie und innere religiöse Gesinnung eine wichtige Rolle spielen.

Methodisch orientierte sich Geiger in seinen Ausführungen deutlich an David Friedrich Strauss und der Tübinger Schule, deren Repräsentanten die historisch-kritische Bibelwissenschaft vorantrieben. Ferdinand Christian Baur und seine Anhänger erforschten die Texte unabhängig von theologischen Überlegungen, als Tendenzschriften (mit einer Hermeneutik des Verdachts) und als Zeugen einer Auseinandersetzung zwischen Juden- und Heidenchristentum. Die Frage der Gründung des Christentums wurde zur entscheidenden Belastungsprobe, in der die Person des Paulus eine zentrale Rolle spielte.

Im Unterschied zu Baur ging Geiger so weit, dass er das Christentum als paulinische Schöpfung postulierte. Die Vertreter der Tübinger Schule hingegen sahen in ihm nur das Sprachrohr, der das in Jesus angelegte religiöse Bewusstsein jetzt zum Ausdruck bringen konnte. Die Tübinger Schule erkannte zwar die Bedeutung des Judentums für die Entstehung des Christentums, ohne aber antijüdische Vorurteile ganz abzulegen. Mit dem Aufstieg Albrecht Ritschls setzten sich diese vielmehr massiv durch. Jesus wurde nun erneut als radikaler Bruch mit dem Judentum gedeutet. Der historische Jesus müsste durch Glaubenszeugnisse verstanden werden, er hätte sich nicht für Gottes Sohn ausgeben können, wenn er nicht in diesem Verständnis zu Gott gestanden habe. Schleiermachers Unterscheidung zwischen dem Juden Jesus und dem von der Präsenz Gottes in ihm geprägten Christus ist die logische Konsequenz dieses Spagats.

Geiger registrierte diese Ansichten, und sie verschärften seine Einstellung zum Christentum, wie sie seine Thesen zur Entstehung des Christentums beförderten, etwa in der Rolle des Paulus, die H. u. a. in Kapitel 6 nachzeichnet, in dem sie einen überaus lesenswerten Überblick über die christliche und jüdische Rezeption Jesu als Jude bietet und die "protestantische Flucht vor dem historischen Jesus" aufgrund der "theologischen Notwendigkeit einer göttlichen Gestalt im Zentrum der Jesusgeschichte" (263) und der Absicht, Geigers Ansichten von Jesus als ganz und gar jüdischem Menschen zurückzuweisen, darstellt. Nach Geiger hätte das Christentum zwar "Jesus zum Gegenstand, sei aber nicht mit dem Glauben Jesu identisch" (263).

Kapitel 7 widmet sich weiter der Entstehung des Christentums und des wachsenden Einflusses, den das Christentum schließlich auch auf das Judentum ausübte. Kapitel 8 und ein Teil des Epilogs Kapitel 9 zeichnet in großer Kenntnis und mit viel Details den Einfluss Geigers auf jüdische und christliche Forscher nach. Während die jüdische Rezeption der Evangelien vor allem auf Geiger zurückgeht - leider erwähnt H. den Jesusroman von Schalom Asch hier nicht -, hat die christliche Theologie ihn zwar vielfach rezensiert, seine Folgerungen aber mehrheitlich abgelehnt. Dafür ist - so H. - die beharrliche negative Deutung des Judentums in der christlichen Theologie verantwortlich. Mehrheitlich wurde allerdings die Sadduzäerdeutung Geigers positiv übernommen. Unter den zahlreichen Beispielen der christlichen Rezipienten ragt Julius Wellhausen heraus, dessen Ablehnung der Thesen Geigers über die Pharisäer ein ideologisch gefärbtes Bild des Judentums zeigen, seine kritische Bewertung des Heranziehens der rabbinischen Quellen für das Judentum zur Zeit Jesu aber die bis heute geführte Diskussion wird.

Im Abschlusskapitel "Epilog" nähert sich H. auch der "Funktion" Jesu an der Grenzscheide zwischen Judentum und Christentum. Unter Verwendung postmoderner und feministischer methodischer Überlegungen versucht H. sich dem Dilemma zu nähern, das darin besteht, dass "Juden ihn als Juden, Christen aber als Christen begreifen [...] Versteht man Jesus gemäß postmoderner Kategorien, so ist er zugleich ein Zeichen, das die Vieldeutigkeit des Bezeichneten hervorhebt, zugleich aber auch auf den Ort verweist, wo er nicht ist" (386). Damit der Christ die Oberhand gewinnen kann, muss er in dem Maße, in dem er Jesus als Juden wahrnimmt, das Judentum von Jesu Lehre abgrenzen und die Pharisäer verunglimpfen. Für Juden wie Geiger hingegen ist die Inanspruchnahme Jesu eine "Trumpfkarte, da sein Judesein das Christentum [...] im besten Fall zu einem abweichenden Ausläufer des Judentums macht" (387). Mit der Aussage: "Der jüdische Gelehrte wird, indem er die Jesusgeschichte erzählt, zum Helden, der die Macht der Geschichte ergreift und mit Blick auf das Christentum die gleiche Destabilisierung versucht, die Christen mit Blick auf das Judentum unternommen haben" (391), endet H.s umfassender und großartiger Beitrag zu einer Wiederentdeckung eines der führenden Köpfe des liberalen Judentums und fast mehr noch zu einer Diskussion um die christliche Jesusrezeption. H.s kritische Analyse ist notwendig und erfrischend.

Natürlich lässt jede noch so hervorragende Studie Wünsche offen. So hätte mich eine stärkere Auseinandersetzung mit der Funktion einiger Thesen Geigers als Abgrenzung vom orthodoxen Judentum interessiert. Und es wäre durchaus lohnend gewesen, auch jene Entwürfe christlicher Theologen kurz anzureißen, die sich selber positiv kritisch und konsequent der Frage nach der Bedeutung des Judeseins Jesu für das Christentum stellen, gerade ohne das Judentum zu diffamieren. Hinter der Heldenfigur Geiger verblassen mitunter ein wenig seine ideologischen Schlagseiten und eine kritische Auseinandersetzung mit der Gültigkeit mancher Thesen. Doch war es nicht die Aufgabe des Buches, Geigers Jesusdeutung auf der Basis moderner exegetischer Entwürfe kritisch zu hinterfragen, sondern sein Werk im zeitgenössischen Kontext zu lesen und als bahnbrechend zu würdigen. Das ist H. zweifellos gelungen - das Buch ist ein Muss.