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Ausgabe:

Juni/2002

Spalte:

634–636

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Bedenbender, Andreas

Titel/Untertitel:

Der Gott der Welt tritt auf den Sinai. Entstehung, Entwicklung und Funktionsweise der frühjüdischen Apokalyptik.

Verlag:

Berlin: Institut Kirche und Judentum 2000. 310 S. 8 = Arbeiten zur neutestamentlichen Theologie und Zeitgeschichte, 8. Geb. ¬ 15,20. ISBN 3-923095-90-2.

Rezensent:

Werner Zager

Mit seiner von der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität Berlin im Sommersemester 1999 angenommenen und von Peter von der Osten-Sacken betreuten Dissertation sucht Andreas Bedenbender der nach seinem Urteil stagnierenden Apokalyptikforschung neue Impulse zu geben. Angesichts der strittigen Definition von "Apokalyptik" wählt er als Ausgangspunkt seiner Arbeit in ihrem Entstehungsprozess verbundene und mit der Johannesoffenbarung verwandte Texte. Diese lassen sich zwei Gruppen zuordnen, wobei die erste mit der makkabäischen Erhebung im Jahre 167 v. Chr. und die zweite mit der Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 n. Chr. in Zusammenhang steht. Bei seinen Untersuchungen zu Entstehung, Entwicklung und Funktionsweise der frühjüdischen Apokalyptik beschränkt sich B. auf die apokalyptischen Texte der makkabäischen Zeit - eine Entscheidung, die zwar arbeitsökonomisch vertretbar, im Blick auf die traditionsgeschichtlichen Verbindungen zwischen den beiden Schriftkomplexen aber zu bedauern ist.

Nach der Bestimmung des Themas der Arbeit und der Erörterung von Methodenfragen (11-31) bietet B. innerhalb des mit "Erklärungsmuster" überschriebenen ersten Teils (32-142) zunächst einen problemorientierten Überblick über verschiedene Perspektiven der neueren Apokalyptikforschung - und zwar zum einen anhand der Definition der Begriffe "Apokalyptik" und "apokalyptisch" (32-61), wobei er die Positionen von Ph. Vielhauer, K. Koch, P. D. Hanson, J. J. Collins, J. Carmignac und H. Stegemann kritisch bespricht. Zum anderen diskutiert er die in der Forschung begegnenden traditionsgeschichtlichen Ableitungsversuche der Apokalyptik (62-87) - sei es aus der Weisheit (G. von Rad), der Prophetie (P. von der Osten-Sacken) oder der mantischen Weisheit (H.-P. Müller, J. C. VanderKam). Mit von der Osten-Sacken, O. Plöger und Hanson plädiert B. für die "sachliche Nähe zwischen Prophetie und Apokalyptik" (69).

Für B.s Apokalyptikverständnis ist kennzeichnend die historische Verortung der frühjüdischen Apokalyptik "im Rahmen des vorderorientalischen Widerstands gegen den Hellenismus" (88-142). Dabei macht er die traditionsgeschichtlich nicht zu erklärende Eschatologisierung politischer Hoffnung sowohl in den iranischen Orakeln des Hystaspes und dem ägyptischen Töpferorakel als auch in Dan 2 geltend, welche aus der "Erfahrung radikaler Perspektivlosigkeit im politischen Bereich" resultiere (94). Die Ausbildung der Apokalyptik im Frühjudentum bringt er speziell mit der Religionsverfolgung unter Antiochos IV. Epiphanes zusammen, die von dem damaligen jüdischen Hohenpriester Menelaos initiiert worden sei (95-98). In dieser Situation äußerster Bedrohung der eigenen religiösen Identität schloss sich die jüdische Opposition zu einem Bündnis auf breiter Basis zusammen. Neben der von den Makkabäern geführten politisch-militärischen Koalition erhob sich ein "geistiger Widerstand", dem B. zwei Gruppierungen zurechnet: "zum einen eschatologisch interessierte Kreise, die von Hause aus auf die mosaische Tora und auf das prophetische Schrifttum hin ausgerichtet waren, zum anderen Gefolgsleute des Vorzeitweisen Henoch" (260).

Wie B. in seinen Analysen der Tiervision (äthHen 85-90), der Zehnwochenapokalypse (äthHen 93,1-10; 91,11*.12-17) und der Kap. 7-12 des Danielbuchs zeigt (107-142), erklärt sich der Anschluss der mit deuteronomistischem Gedankengut vertrauten mosaischen Kreise nicht zuletzt daraus, dass sie immer mehr an der Heilsgeschichte Israels verzweifelten und ihre Überlieferung und Heilshoffnung nun mit der vorisraelitischen Henochgestalt verbanden, für deren Offenbarungen man einen höheren Rang als selbst für die Mosetora beanspruchte (260). B. lässt offen, "ob bei dem Zusammengehen von Henochitern und Tradenten der biblischen Überlieferung auch Danielkreise eine wesentliche Rolle gespielt haben" (263). Anders als die Henochgruppen und mosaischen Kreise unterstützten wohl die Danielkreise nicht den makkabäischen Kampf (272 f.). In der Folgezeit aber ist eine Rezeption der Danielüberlieferung in henochitisch geprägten Kreisen zu beobachten (Menschensohnerwartung in äthHen 37-71, Wertschätzung des Danielbuchs in Qumran).

In dem der Vorgeschichte der Henoch- und Danielapokalyptik gewidmeten zweiten Teil der Arbeit (143-207) legt B. dar, inwiefern die Apokalyptiker der Makkabäerzeit an die ihnen überkommenen Henoch- (Grundbestand des Astronomischen Buchs [äthHen 72-82] und des Wächterbuchs [äthHen 1-36]) und Danieltraditionen (Dan 1-6) anknüpfen und sie in den Gesamthorizont apokalyptischer Theologie stellen konnten. Während die Danielapokalyptik sich als Weiterentwicklung vorhandener Ansätze verständlich machen lässt, waren für die Henochapokalypsen Impulse von Seiten der deuteronomistischen Theologie und der prophetischen Eschatologie konstitutiv (206 f.). Nur so erklärt sich, dass die Eschatologie zur alles beherrschenden Größe avancierte.

Unter dem Titel "Konvergenz und Entfaltung" weist B. im dritten Teil (208-258) in Bezug auf das Wächterbuch, das Astronomische Buch, Sach, Dan 9, Jub und AssMos nach, dass die in der Tiervision und der Zehnwochenapokalypse zu beobachtende Verschmelzung deuteronomistischen und henochitischen Gedankenguts sich in einem über ein Jahrhundert währenden Konvergenzprozess apokalyptischen und mosaischen Denkens fortsetzte (208). Das "mit Abstand eindrucksvollste Beispiel für die Angleichung der Henochtradition an Tora und Propheten als die konstituierenden Texte eines deuteronomistisch und eschatologisch bestimmten Denkens" erkennt B. in äthHen 1,4: "Der Gott der Welt wird (zum Gericht) auf den Sinai treten" (222). Dieses Wort hat B. nicht zufällig als Titel seines Buchs gewählt, kann er doch darin das von ihm entwickelte traditionsgeschichtliche Modell der Entstehung der frühjüdischen Apokalyptik ausgedrückt finden. Vom Konvergenzprozess apokalyptischen und mosaischen Denkens nur am Rande betroffen bzw. unberührt beurteilt B. TestXII bzw. OrSib 3 und slHen (251-258).

In einem abschließenden Teil gibt B. zuerst eine zusammenfassende Darstellung über Entstehung, Entwicklung und Funktionsweise der frühjüdischen Apokalyptik (259-268), in welcher er das Paradoxon hervorhebt, dass einerseits die Apokalyptik aufkam, als mosaischen Kreisen der Rückbezug auf Mose und den durch ihn vermittelten Bund Gottes mit Israel nicht mehr genügte, während andererseits später apokalyptische Schriften Mose und die Tora in den Mittelpunkt rückten (265 f.). In einem zweiten Abschnitt (269-275) zeigt B., dass nicht nur in der Henochapokalyptik, sondern auch sonst im Frühjudentum - bei Philo, in Qumran und im rabbinischen Judentum - eine "Dialektik von mosaischem und außermosaischem Normsystem" (269) begegnet. Diese Einsicht macht er in dem abschließenden Ausblick (276-279) geltend, wenn er die im NT festzustellende Uneinigkeit in der Beurteilung des Gesetzes als "Indiz für die bleibende jüdische Signatur des Christentums" (278) bewertet. - Technische Bemerkungen (281 f.), Literaturverzeichnis (283-298), Autorenregister (299-302), Stellenregister (303-307) und Sachregister (308-310) runden den Band ab.

Zweifellos hat B. ein anregendes und gut lesbares Buch geschrieben, das einen Zugang zu einer unvoreingenommenen religionswissenschaftlichen Erforschung der Apokalyptik eröffnet. Ob das hier entwickelte Apokalyptik-Modell tragfähig oder gegebenenfalls zu modifizieren ist, darüber muss nicht zuletzt die Miteinbeziehung der auf die zweite Tempelzerstörung folgenden Apokalyptik entscheiden.

Einige kritische Anfragen seien noch angeschlossen:

1. Genügt der Hinweis auf die Fürbitterfunktion der Engel und deren Verunreinigung durch den Kontakt mit Frauen und durch Blut in der Geschichte vom Wächterfall für die Behauptung, in dieser "artikuliere sich eine wachsende Unzufriedenheit mit dem priesterlichen Establishment in Jerusalem" (182)?

2. Handelt es sich nicht um eine den Boden historischer Kritik verlassende Interpretation von äthHen 80, wenn darin im Sinne Barthscher Theologie die Aporie entdeckt wird, "von Gott reden zu müssen in gleichzeitigem Wissen darum, daß nicht von Gott geredet werden kann" (234)?

3. Trifft es wirklich zu, dass sich die himmlische Offenbarung in Dan 9,22-27 gegenüber dem durch deuteronomistische Sprache und Theologie geprägten Gebet in Dan 9,4-19 "einfach taub stellen kann" (272)? Oder wird nicht vielmehr die deuteronomistische Geschichtsdeutung als gültig vorausgesetzt?