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Ausgabe:

Juni/2002

Spalte:

629–631

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Vermeylen, Jacques

Titel/Untertitel:

La loi du plus fort. Histoire de la rédaction des récits davidiques de 1Samuel 8 à 1 Rois 2.

Verlag:

Leuven: Peeters; Leuven: University Press 2000. XIII, 746 S. gr.8 = Bibliotheca Ephemeridum Theologicarum Lovaniensium, 154. Kart. ¬ 81,00. ISBN 90-429-0919-6 u. 90-5867-067-8.

Rezensent:

Martin Rose

Jacques Vermeylen, Professor an der Université Catholique de Lille, gehört zweifellos zu den Großmeistern redaktionsgeschichtlichen Arbeitens. In seiner Studie zu Jesaja ("Du prophète Isaïe à l'apocalyptique", 2 Bde., 1977-1978) hat er in wegweisender Weise für Jes 1-35 eine Fortschreibungsgeschichte gezeichnet, die vom 8. bis ins 3. Jh. reicht ("un demi-millénaire d'expérience religieuse en Israël" [so der Untertitel]). Jetzt hat er ein zweites redaktionsgeschichtliches Monumentalwerk vorgelegt, das ebenfalls ein halbes Jahrtausend überspannt: von der David-Salomo-Zeit bis in die persische Epoche. Der erste Teil (7-465) ist "Lecture cursive et critique littéraire" überschrieben und bietet eine fortlaufende Kommentierung von 1Sam 8 bis 1Kön 2 unter literarkritischer Fragestellung; der zweite Teil setzt die Beobachtungen in eine "Histoire de la rédaction" um (469-690). Eine umfangreiche Bibliographie (695-730), ein "English summary" (731-733), sowie Autoren- und Bibelstellenverzeichnisse (735-746) beschließen das Werk.

Von Anfang an sind die Karten auf dem Tisch: V. übernimmt von Rudolf Smend und seinen Schülern ("école allemande"; 3) die Siglen DtrH, DtrP und DtrN für drei Redaktionsschichten innerhalb der deuteronomistischen Schule (4 f.). Diese Deuteronomisten haben ausschließlich mit schriftlichen Dokumenten und Texten gearbeitet, z. B. mit einer "Histoire de David" aus salomonischer Zeit, wobei noch zwischen der "édition principale" (548-601) aus den ersten Regierungsjahren (462, Anm. 87; 596) und einer "deuxième édition" (602-611) etwa 20 Jahre später (611) zu unterscheiden wäre. Diese salomonische Schrift ("sans doute apparenté à J"! [78; vgl. 86, 108, 535, 611 u. ö.]) sei ihrerseits aus einer Reihe von älteren "documents" zusammengestellt worden: vor allem aus einer "Histoire de Saül et David" (in 1Sam 11-2Sam 7 enthalten; 471-500) und aus einer "Histoire d'Absalom" (in 2Sam 13-20 enthalten; 500- 515). Als drittes Hauptdokument (731) habe ein ursprünglich antisalomonisches Pamphlet (440, 463 u. 470) vorgelegen, das in schonungsloser Weise von Salomos Machtergreifung berichtete (in 1Kön 1-2 enthalten; 519-532); Punkt für Punkt habe der salomonische Redaktor die Details aufgenommen, um die radikalen Maßnahmen Salomos zu Beginn seiner Regierung zu rechtfertigen (464). Ein weiteres Dokument habe zwei Texte aus der Frühzeit Davids umfasst (519): die Tradition der vier philistäischen Harafa-Söhne und ihrer judäischen Bezwinger (in 2Sam 21,16-22 enthalten; 516 [irrtümlich mit falscher Verszählung]) sowie die Liste der dreißig Helden Davids (2Sam 23,8.24-38; 517-519). Unter Rückgriff auf diese vier Dokumente sei am Jerusalemer Hof "in majorem gloriam Salomonis" (L. Rost [1926], 128) eine "uvre majeure" geschaffen worden (554), die zusätzlich die Figur des Propheten Samuel einführt (554, 572) und zwischen die beiden Hauptquellen Kriegserzählungen einfügt (in 2Sam 8-12 enthalten; 260-322), die David auf dem Höhepunkt seiner Macht zeigen (555). V. rechnet entsprechend mit einem Großwerk, das mit der Geburtsgeschichte Samuels (1Sam 1) begonnen (554-555) und mit der Notiz in 1Kön 2,46b seinen Abschluss gefunden hätte: "So war die Königsherrschaft fest in Salomos Hand" (460).

Diese Propagandaschrift (487-489; 600-601) der Salomo-Ära sei dann über alle Jahrhunderte hinweg bis ans Ende der Königszeit (587) ohne jede Modifikation überliefert worden (625). Weder der Verlust der bedeutenden israelitischen Territorien, die sich der Judäer David unterworfen hatte ("c'est le minuscule pays de Juda qui s'est emparé du royaume d'Israël, beaucoup plus important que lui-même, comme le petit David a vaincu le géant Goliath" [681]), noch die militärische Schwäche der Nachfolger Salomos (1Kön 12,18; 14,30), die zeitweise geradezu Züge von Vasallität annehmen konnte (vgl. 1Kön 22,1; 2Kön 8,18.26-29; 9,16), haben offensichtlich irgendwelche interpretierenden Korrekturen hervorgerufen. V. sieht auch keinen Grund, eine redaktionelle Überarbeitung nach der Jehu-Revolution (625, mit Anm. 1) oder nach dem Sturz der Athalja (2Kön 11) anzunehmen. Auch in der Hiskia-Zeit, für die Prov 25,1 eine literarische Tätigkeit am Königshof nennt, soll keine relecture vorgenommen worden sein (3; 495, Anm. 31); selbst die Blütezeit unter Josia (vgl. 2Kön 23,25!) wird von V. regelmäßig ausgeschaltet (z. B. 3, 496, 595). Das ergibt mehr als drei Jahrhunderte ohne jede redaktionelle Intervention in Salomos Propagandaschrift!

Dieses Resultat kontrastiert erheblich mit der Annahme von immerhin drei Redaktionen in der Zeit des Babylonischen Exils, diese drei überdies noch aus derselben (dtr) Schule erwachsen. Gegenüber dem Smend-Schüler Walter Dietrich, der alle drei Schichten zwischen 580 und 560 datiert, versucht V., die zeitlichen Abstände etwas auseinanderzuziehen (655 f.: "au début [DtrH], au milieu [DtrP] et à la fin [DtrN] de la période exilique"); das Grundproblem dieses Ansatzes jedoch bleibt bestehen: Dergleichen redaktionelle Überarbeitungen sind wohl kaum einfach aus Freude am Interpretieren entstanden, sondern sollten unbedingt im Zusammenhang mit einschneidenden Erfahrungen gesehen werden, die zum grundsätzlichen Überdenken des Tradierten herausforderten. Ein solcher radikaler Einschnitt war ohne Zweifel mit den massiven Deportationen von 598 (4, Anm. 6) und 587 gegeben. Ob dasselbe für die "Mitte" der Exilsperiode (560, DtrP; vgl. 3 u. 4 mit Anm. 5, 648) gilt, ist eher zu bezweifeln. Und ob entsprechend der Darstellung im Chronistischen Geschichtswerk der Einmarsch des Perser-Königs Kyrus in Babylon (539) wirklich das "Ende" des Exils und den unmittelbaren Beginn eines Exodus der Deportierten (Jes 40) brachte, ist alles andere als historisch sicher. V. hat auch ziemlich Mühe, seinen drei Redaktionen ein klares inhaltliches und theologisches Profil zu geben. Für DtrH gibt er zunächst an, dass dieser Redaktor seine Dokumente moralisierend interpretiere (640), eine Bundestheologie vertrete (461) und die göttliche Vergeltung betone (640 f.). Im Teil zu DtrP (642-651) aber fällt dieses Unterscheidungskriterium hin: Alle drei Redaktoren zeichneten sich gleichermaßen durch eine "lecture moralisante de l'histoire" aus; jedermann werde nach den Bundesbedingungen be- und verurteilt (650). Nur in der Eindringlichkeit der Paränesen gehe DtrP über DtrH hinaus (650 f.). Die redaktionellen Eingriffe von DtrN seien wesentlich seltener, aber von einer äußerst radikalen Kritik an Königtum und Tempelkult geprägt (651-655; vgl. 45 u. 53). Hier kündigten sich schon die Konflikte der nachexilischen Zeit an.

In der Perser-Zeit habe das Großwerk seine Endredaktion ("un projet de grande envergure"; 469) erlebt, vermutlich um das Jahr 400 herum, unmittelbar vor Esras Eintreffen in Jerusalem (669). Sie sei geprägt von einer auf Tempel und Liturgie ausgerichteten Gemeinschaft ("milieux sacerdotaux", 159); entsprechend sei mit 1Sam 2 (Lied der Hanna) und mit 2Sam 22 (Psalm Davids) ein liturgischer Rahmen gebildet und am Höhepunkt in 2Sam 7,18-29 [nicht 17-29; 659-660] ein langes Gebet Davids eingeschaltet worden (660), in dem V. eine "sacerdotalisation de David" zu erkennen meint (256), so dass damit die Dynastie-Verheißung des Nathan-Orakels nun als Zusage an die Jerusalemer Priesterschaft und ihren Hohenpriester gelesen worden sei (672 u. 689).

Nachdem V. diesen langen redaktionsgeschichtlichen Weg abgeschritten hat, stellt er abschließend noch die Frage, was "der Historiker" zu den Anfängen der Monarchie in Israel-Juda sagen könne (673-685). Für V. ist die Sache klar: Insofern als mit schriftlichen Dokumenten aus der David-Salomo-Zeit zu rechnen sei, bestünde prinzipiell die Möglichkeit, bis zu historischen Tatsachen ("faits") vorzudringen (674; vgl. 470). Erstaunlich rasch und nebenbei schiebt er die Anfragen beiseite, die heute besonders von Archäologen kommen: ob man wirklich schon vor dem 8. Jh. mit einem Staatswesen und mit einer Literatur in Israel und Juda rechnen dürfe (499, Anm. 41; 688, Anm. 3). Grundsätzlich sei - so V. - dem biblischen Text Vertrauen zu schenken (673), auch wenn natürlich die propagandistischen, polemischen oder idealisierenden Tendenzen in Anschlag gebracht werden müssten ("manipulation de l'histoire" [491; vgl. 489, 495 mit Anm. 29; 500, 512 u. ö.]). Selbst für die Saul-Zeit können dennoch einige herausstechende Ereignisse ("quelques faits saillants", 676 f.) zusammengestellt werden, die als historisch glaubwürdig angesehen werden dürfen (674).

Ich bin der Meinung, dass V. ein redaktionsgeschichtliches Meisterwerk vorgelegt hat. In äußerst souveräner Weise hat er eine Fülle von Impulsen aus der exegetischen Literatur aufgenommen und literarkritische Beobachtungen aus Hunderten von Einzelstudien in eine großartige Synthese eingebracht. Diese bleibt freilich einseitig (und der Autor ist sich dessen sehr wohl bewusst): z. B. Fragestellungen der mündlichen Überlieferung, der Sagenstoffe, des Motivmaterials und der Legendenbildung kommen kaum in den Blick und werden en passant schnell erledigt (z. B. 167, Anm. 30; 307, Anm. 192). Vermutlich handelt es sich hier um den Schwanengesang eines ausschließlich literarkritisch-redaktionsgeschichtlichen Arbeitens am Deuteronomistischen Geschichtswerk. Er verdient den Applaus des beeindruckten Publikums (die Seiten 472-500 sind allerdings nicht Premiere, sondern wörtliche Übernahme aus einer Veröffentlichung von 1999). Danach wird sich der Vorhang schließen.