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Ausgabe:

Juni/2002

Spalte:

623–625

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Kratz, Reinhard G.

Titel/Untertitel:

Die Komposition der erzählenden Bücher des Alten Testaments. Grundwissen der Bibelkritik.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000. 336 S. m. 15 Tab. 8 = UTB für Wissenschaft, 2157. Kart. ¬ 19,90 ISBN 3-8252-2157-1.

Rezensent:

Ernst Axel Knauf

Der Titel ist eine Wiederaufnahme von Wellhausens "Composition des Hexateuchs und der historischen Bücher des Alten Testaments" mit der heute unabdingbaren Modifikation des "historischen" als "erzählenden" (dies macht S. 9, Anm. 1 nötig: an Rut und Ester ist hier nicht gedacht). Die Bibel enthält nicht die "Geschichte Israels", wie auch K. immer wieder deutlich macht, sondern ein überaus problematisches Bild derselben. Der Anschluss an Wellhausen richtet sich polemisch - nicht in Worten, sondern der Sache nach - gegen Noths "Überlieferungsgeschichte", um den zweiten Vorgänger zu nennen, in dessen Nachfolge K. sich sieht (13). Es scheint, als habe die theologische Wissenschaft auf dem Gebiet der (ersten) Bibel am Anfang des 3. Jahrtausends die Aufgabe, die Wolkenkuckucksheime, die das 20. Jh.1 dort errichtet hat, zu planieren, um erneut bei den nüchternen Befunden einzusetzen, die sich am Ende des 19. Jh.s bereits in aller Deutlichkeit abgezeichnet haben: Dies jedenfalls ist die Aufgabe, der sich K. mit Engagement und weitgehendem Erfolg stellt. Dabei geht er empirisch und über kanonische Grenzen wie verbreitete Hypothesen hinweg von der Beobachtung aus, dass Gen bis Kön einerseits, Chr und Esra/Neh andererseits jeweils einen unteilbaren Erzählzusammenhang bilden (jedenfalls im Endtext).

Didaktisch geschickt (und in der Nachfolge de Wettes wie Wellhausens) setzt die Untersuchung bei den "Chronistischen Schriften" ein (14-98) und kommt bei der Frage eines "chronistischen Geschichtswerkes" zum nicht bestreitbaren Schluss: "Die Hypothese eines chronistischen Geschichtswerkes ist also richtig und falsch zugleich, je nachdem, auf welcher Redaktionsstufe man sich bewegt" (93). Unter "Tora und Vordere Propheten" (99-225) werden "Das Gesetz im Pentateuch", "Die Bearbeitung der vorderen Propheten unter dem Einfluß des Gesetzes" und "Der Enneateuch" abgehandelt. Die Vorstellung eines "Deuteronomistischen Geschichtswerks" von (Dtn-)Jos-Kön wird vollends destruiert, K. lässt davon einen DtrG in Sam-Kön übrig, der eine nach dem Untergang Israels 720 v.Chr. entstandene Saul-David-Salomo-Geschichte2 mit Hilfe von Annalenexzerpten bis zum Untergang des Staates Juda fortgeschrieben hat, wobei der größere Anteil am Endtext auf (diverse) DtrS zurückgeht. Auf deren Ebene liegt auch die Redaktion in Jos und Ri3: DtrR. Schon mit der Feststellung der Uneinheitlichkeit des DtrG, sei es nach dem Block-, sei es nach dem Schichtenmodell, war diese Hypothese im Grunde hinfällig, "nur hat man dies offenbar nicht bemerkt oder will es nicht wahrhaben" (219)4.

Die erzählenden Partien des Hexateuch werden unter dem Titel "Der Mythos Israels" (226-313) abgehandelt; der Begriff mag kerygma-theologisch orientierte Leserinnen beunruhigen, ist aber sachlich vollkommen angebracht: Über Ursprünge kann man nur mythisch reden, die Wissenschaft sieht in der Geschichte nichts als den kontinuierlichen Wandel. Gesichert ist die Abgrenzung der Priesterschrift P, der Grundschrift der Penta-/Hexateuch-Redaktion; darum macht ihre Betrachtung den Anfang. Schon ungesicherter ist die Unterscheidung von PG, PS und RP; K. schließt sich hier den "Minimalisten" an und lässt PG mit Ex 40 enden - zu erklären, warum es dann eine Tora von fünf und nicht sechs Büchern gibt, wird dann freilich schwieriger.5 Im "nP"-Bestand - nicht-P und damit sowohl vor- wie nach-P - unterscheidet K. an P vorgegebenen Textkomplexen eine Schöpfungs- und Vätergeschichte J6 in Gen und eine Exoduserzählung E in Ex-Jos. Man kann sich fragen, ob damit die terminologische Verwirrung auf dem Gebiet der Pentateuch-Kritik nicht weiter vorangetrieben wird, haben wir doch schon diverse "Jahwisten" verschiedenen Umfangs und Alters, Blums KD und KP statt Wellhausens JED und P, Zengers Je(rusalemer Geschichtswerk) statt Wellhausens Je(hovisten). Andererseits stellt K. einleitend fest: "Auf den Begriff kommt es mir nicht an, es wird sich aus dem Zusammenhang ergeben, was gemeint ist" (11, Anm. 8). Es mag erzieherisch durchaus wertvoll sein, im Studium früh angehalten zu werden, Begriffe nicht für bare Münze zu nehmen, sondern darauf zu achten, wie sie explizit oder implizit jeweils definiert sind; denn auch die "großen Wörter" wie "Gott", "Geschichte" und "Glaube" bezeichnen bei verschiedenen Sprechern bzw. Autoren durchaus Verschiedenes. Eine religions- und theologiegeschichtliche Zusammenfassung (314-330) beschließt das Werk.

K. stellt zu Recht fest: "Die Epoche der Richter ist [...] kein geschichtliches Faktum, sondern eine redaktionelle Konstruktion" (195), kolportiert dann aber die Eierschalen einer anderen Legende, wenn er (passim) darauf insistiert, Israel habe nach 720 v. Chr. in Juda überlebt. Diese moderne Legende setzt implizit die Hypothese von israelitischen Flüchtlingsmassen voraus, die, quasi als frühe Hugenotten, ihre Traditionen in den Süden brachten. Für diese Hypothese gibt es keinerlei historische oder archäologische Anhaltspunkte.7 Das nach-staatliche Israel überlebte primär in seinem Land (vgl. Ez 27,17), jedenfalls bis zum Samaritaner-Massaker Justinians 529 n. Chr., und die u. a. am Heiligtum von Bet-El gepflegte israelitische Literatur kam dadurch nach Juda, dass Juda unter Joschija nach Bet-El kam und dass Bet-El nach der Zerstörung Jerusalems 586 v. Chr. das einzig verbleibende (Kult- und) Kulturzentrum Judas wurde.8

K. fürchtet einleitend, "die Zeit für eine neuerliche Synthese auf dem Feld der Kritik der biblischen Erzählüberlieferungen sei vielleicht noch nicht reif" (5). Der Rez. hält es für möglich, dass sie es nie mehr sein wird. Angesichts der immer kürzeren Halbwertzeit wissenschaftlicher Literatur hat K. eine notwendige und willkommene Ergänzung zur Zengerschen Einleitung (31998) vorgelegt. Die Diskussion geht weiter.

Fussnoten:

1) Das 20. Jh. der Geschichtswissenschaft war ein so genanntes "kurzes Jahrhundert" (im Gegensatz zum "langen" 19. Jh.: 1789-1914), es dauerte von 1914 bis 1989; also vom Verstummen Wellhausens bis zur zweiten Auflage von A. de Pury ed., Le Pentateuque en question (MoBi 19; Genf 1989).

2) Das Verhältnis dieser postulierten Geschichte zu N. Na'amans "History of Early Kings" wird leider nicht ins Auge gefasst; cf. N. Na'aman, Sources and Composition of the History of David, in: V. Fritz und P. R. Davies [Eds.] The Origins of the Ancient Israelite States, JSOT.S 228, Sheffield, 1996, 170-186; ders., The Contribution of Royal Inscriptions for a Re-Evaluation of the Book of Kings as Historical Source, JSOT 82, 1999, 3-17.

3) Warum in Ri (schriftliche) "Heldenerzählungen [...] aus der israelitischen Königszeit" (218) verarbeitet sind, die immerhin "verwandte Einzelüberlieferungen" darstellen (210) [und ziemlich systematisch ein einigermaßen wohldefiniertes Territorium abdecken], aber kein "Retterbuch" bilden dürfen (201), ist dem Rez. nicht ganz nachvollziehbar. Eine Redaktionsgeschichte des Richterbuches ohne die Annahme eines DtrG, aber mit der eines "Retterbuches" hat Ph. Guillaume im Winter 2001/2002 in Genf als Dissertation eingereicht.

4) Immerhin zwei von denen, die das bereits auch bemerkt und wahrgenommen haben, nennt K. an anderer Stelle: E. Würthwein und K. Schmid.

5) Cf. Ch. Frevel, Mit Blick auf das Land die Schöpfung erinnern (HBS 23; 2000), und gegen die Ausscheidung von Gen 10* aus P (K. folgt hier C. Levin) u. a. C. Uehlinger, Weltreich und eine Rede (OBO 101; 1990), 576-583.

6) Der Rez. will nicht verhehlen, dass ihm dessen Einheitlichkeit keineswegs einleuchtet; er findet K. Schmids Theorie von einer ursprünglichen Jakob-Geschichte überzeugender, die stufenweise erst um eine Abrahams- und schließlich um eine Schöpfungsgeschichte erweitert wurde.

7) Vielmehr erklärt sich das Wachstum Jerusalems, das Ende des 8. Jh. v. Chr. einsetzt und erst unter Manasse seinen Höhepunkt erreicht, aus der makro-ökonomischen Situation wie aus Bevölkerungsverschiebungen innerhalb Judas im Zusammenhang mit den Ereignissen von 701; cf. B. Halpern, Jerusalem and the Lineages in the seventh Century BCE: Kinship and the Rise of Individual Moral Liability, in: B. Halpern and D. W. Hobson [Hrsg.], Law and ideology in monarchic Israel (JSOT.S 124; 1991), 11-107.

8) Cf. J. Blenkinsopp, The Judaean Priesthood during the Neo-Babylonian and Achaemenid Periods: A Hypothetical Reconstruction, CBQ 60, 1998, 25-43.