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Ausgabe:

Mai/2002

Spalte:

576–586

Kategorie:

Literatur- und Forschungsberichte

Autor/Hrsg.:

Hübner, Hans

Titel/Untertitel:

Der Begriff "Wahrheit" in der Theologie*

Diese Rezension ist eine der wichtigsten, die ich in den letzten Jahrzehnten für die ThLZ geschrieben habe. Es ist geradezu "die Stunde der Wahrheit"; denn wenn es in den hier zu rezensierenden Büchern um die Wahrheit geht, die philosophische und die theologische, dann geht es um das Wesen von Philosophie und Theologie, dann geht es, was die Theologie betrifft, fundamental um das Sein der Kirche, um das Sein des Christen und sein Sich-selbst-Verstehen. Und es geht des Weiteren um das enge Band von Philosophie und Theologie.

1. Zunächst zu den Dissertationen von Eberhard Martin Pausch (P.) und Christoph Landmesser (L.), die dem Rez., überhaupt jedem Leser, hohen Respekt für ihre Autoren abverlangen, einerlei wie dieser inhaltlich zu ihren - z. T. entgegengesetzten - Ergebnissen steht. In beiden Studien wird theologisch argumentiert. In ihnen lassen sich beide Autoren aber auch ernsthaft und kritisch auf philosophisches Denken ein, vor allem auf Martin Heideggers "Sein und Zeit" (SuZ).

1.1 Zu Martin Eberhard Pausch. Er hat seine Dissertation als systematisch-theologische Arbeit bei Wilfried Härle in Marburg geschrieben. Er gesteht eine doppelte Außenperspektive zur Philosophie Heideggers (15) ein: 1. Er ist Theologe, 2. er steht der analytischen Philosophie nahe - also: "von vornherein eine fundamentale Schwierigkeit". So ist der Rez. genötigt, schon aus Gründen der Fairness, auch seine Außenperspektive einzugestehen: 1. Er hat sich intensiv mit Heideggers Philosophie auseinandergesetzt, wobei sich ihm gerade in seiner Kritik an ihrem Denken die Nähe des eigenen Denkens zu ihr erschloss. 2. Er steht in Distanz zur analytischen Philosophie. Aber wie es P. trotz seiner eingestandenen doppelten Außenperspektive für angebracht hielt, sich mit Heidegger und Bultmann intensiv auseinander zu setzen, so scheint es mir sinnvoll, von meiner philosophischen und theologischen "Position" aus den Dialog mit P. aufzunehmen. Immerhin gibt es eine entscheidende Übereinstimmung zwischen ihm und mir: Beide verstehen wir uns als lutherische Theologen und sehen in der Rechtfertigungslehre den articulus stantis et cadentis ecclesiae. P. nennt in dieser Hinsicht seine sachliche Nähe zu Bultmanns Theologieverständnis (5). Der Dialog mit P. kann im Rahmen einer Rez. nur fragmentarisch erfolgen.

Die Dissertation bringt im I. Hauptteil hermeneutische und wahrheitskonzeptionale Überlegungen, im II. Hauptteil Heideggers philosophische Wahrheits-Konzeption: Ein kritischer Rekonstruktionsvorschlag, und im III. Hauptteil Bultmanns Konzeption von Wahrheit im Kontext seiner Theologie. Ein Schlussteil enthält abschließende Überlegungen. Nach 1, einer hermeneutischen Vorbesinnung, bringt 2 den Versuch einer terminologischen Klärung der Wahrheits-Frage. P. unterscheidet in ihr unterschiedliche Strukturebenen ( 2.1.2). Der 2.4 ist überschrieben "Vom Wahrheits-Verständnis zur Ebene der Wahrheits-Theorie" (darin die bekannten Wahrheits-Definitionen von Korrespondenzrelation, Konsensusrelation usw.), 2.5 "Meta-Kriterien von Wahrheits-Theorien". Zur Unterscheidung von Wahrheits-Theorie und Fundamental-Aletheiologie in 2.6 s. u. Der II. Hauptteil, der Heideggers philosophische Wahrheits-Konzeption thematisiert, bringt nach einer kurzen Einleitung in 3 die existenzialontologische Wahrheits-Auffassung: Heideggers Wahrheits-Theorie. Dabei interpretiert er verständlicherweise vor allem 44 aus SuZ. Seine Interpretation hängt an den sechs "Bedeutungen" (synonym mit "Intension" = Sinn), die er in Heideggers Wahrheits-Konzeption von SuZ findet (111):

Wahrheit als "Richtigkeit" von Urteilen (traditionelle Korrespondenztheorie) = W1; als "Entdecktheit" oder "Unverborgenheit" von weltlich Seiendem = W2; als "Entdeckendsein", Verhalten des Daseins = W3; als das Existential der "Erschlossenheit" des Daseins = W4; als "Entschlossenheit", d. h. "Erschlossenheit" im Modus der Eigentlichkeit = W5; als mit "Sein" gleichursprüngliches Phänomen = W6. P. fragt, ob diese 6 Bedeutungen in Heideggers Konzeption von der Wahrheit konsistent sind (z. T. in Auseinandersetzung mit Tugendhat). Er will Heideggers Wahrheits-Konzeption in eine sinnvolle Beziehung zur analytischen und semiotischen Philosophie bringen. Deshalb untersucht er dessen Wahrheits-Konzeption stets vor dem Hintergrund des gegenwärtigen Wahrheits-Diskurses. Das Eigentümliche und Besondere von Heideggers Neuansatz will er in einem vorwiegend divinatorischen Verfahren (vgl. Schleiermacher!) rekonstruieren, und zwar im Blick auf den Bezug seiner Wahrheits-Konzeption zum "Keimentschluß" seines Werkes (114). M. E. bezweifelt P. zu Unrecht, dass der fundamentale Begriff der Ontologie der Seinsbegriff sei (119-122).

P. sieht in Heideggers Wahrheits-Konzeption Züge einer pragmatistischen Theorie der Wahrheit, verstanden als vorrangige bzw. ausschließliche Thematisierung der Dimension menschlichen Handelns in Hinblick auf Konstitution und Geltung von Wahrheit (144 f.). Da W1-2 in W3 fundiert sind - W3 das Entdeckendsein des Daseins (SuZ, 219) als das entscheidende definiens -, könne Heideggers Theorie als pragmatistisch bezeichnet werden, da ein theoretischer Zusammenhang von W1-3 gegeben sei (148-150).

Ob der Terminus "pragmatistisch" ganz zutreffend ist, sei dahingestellt, er indiziert aber eine richtige inhaltliche Tendenz. P. gesteht Heidegger zu, "dass das Postulat des rekonstruktiven Charakters der Theorie der Wahrheit von Heideggers Theorie teilweise, ja großenteils erfüllt ist" (161). Doch sei sie, am Postulat der inneren Widerspruchsfreiheit gemessen, inkonsistent (wegen der ausdrücklichen Ablehnung des principium contradictionis und komplementären Nichtbehandlung der Wahrheits-Paradoxie) (157-163).

In Anlehnung an und teilweiser Absetzung von Emil Kettering (101-103) unterscheidet P. bei Heidegger dessen Theorie der Wahrheit (Aletheiologie) und Fundamental-Aletheiologie (Explikation der existential-ontologischen Möglichkeitsbedingung[en]). In dieser Fundamenatal-Aletheiologie geht es nun um W4-6.

Die Erschlossenheit (W4) beurteilt P. unter Berufung auf zutreffende Stellen aus SuZ als notwendige, nicht aber hinreichende Bedingung der Möglichkeit von Wahrheit im Sinne von W1-3; ebenso lasse sich divinieren, dass das mit Wahrheit konvertible Sein (W6) die sowohl notwendige als auch hinreichende Bedingung der Möglichkeit von Wahrheit sei. Die differenzierende Wertung von W4 und 6 ist P.s eigenständige Explikation. Die so charakterisierte Erschlossenheit als W4 ist "das Zentrum und eigentliche Anliegen von Heideggers Wahrheits-Konzeption". So bestehe seine Leistung "in der Entdeckung des existenzialontologischen Phänomens der Erschlossenheit als notwendiger Bedingung der Möglichkeit von Wahrheit" (168 f.). Doch gerade in diesem Zusammenhang spricht er von einem "transzendentalontologischen Fehlurteil", das er in SuZ 44, S. 220, finden will (169 f.): "Wahrsein als entdeckend-sein ist eine Seinsweise des Daseins. Was dieses Entdecken selbst möglich macht, muß notwendig in einem noch ursprünglicheren Sinne wahr genannt werden." Es ist dieser Komparativ, den P. als Fehlurteil bezeichnet: Heideggers These gelte nur, wenn die ontologische Möglichkeitsbedingung einer Sache immer identisch mit der Sache wäre (170). Aber es geht doch gar nicht um die Bedingung irgendeiner Sache, sondern um die der Wahrheit. Die Vergleiche, die P. hierzu bringt (z. B. über das Verhältnis von Wasser und Regen), liegen doch nicht auf derselben ontologischen Ebene wie Wahrheit. Hängt es nun an seinem Philosophieverständnis, dass er hier die ontologische Dimension der Wahrheit nicht berücksichtigt und so m. E. ein Fehlurteil über ein Fehlurteil fällt? Ich vermag jedenfalls die Widerlegung der drei in SuZ gefundenen und aufgelisteten ontologischen Implikationen (119) nicht zu teilen.

Für P. ist die Entschlossenheit (W5) die eigentliche Schwierigkeit in Heideggers Wahrheits-Konzeption. W5 passe nicht zwischen W4 und 6, denn für beide sei "der Grundzug menschlichen Handelns" nicht kennzeichnend. Die Inkonsistenzen und Unvollständigkeiten der pragmatistischen Theorie der Wahrheit sprächen gegen einen von Heidegger intendierten "geschlossenen konzeptionellen Zusammenhang" (186). Die Frage ist aber, ob nicht Heidegger in seine, nämlich existentiale Grundkonzeption von Wahrheit, verstanden als "pragmatistische Konzeption", das Ineinander von Sein und Dasein integrieren kann. Ist das eine Frage, die die Reichweite der analytischen Philosophie überschreitet?

Nach 80 Seiten zu SuZ folgen nur knapp 20 Seiten über die Zeit danach. In einem Exkurs über Heideggers designatorische Wahrheits-Konzeption seit 1930 geht P. recht kursorisch auf die postum (1989) herausgegebenen "Beiträge zur Philosophie" (1937-38)1 ein, akzentuiert aber die retractationes des späten Heidegger in "Zur Sache des Denkens" (Vortrag 1964, publiziert 1969). Er sieht richtig, dass in den "Beiträgen" die in SuZ nur angedeutete Konvertibilität von Sein und Wahrheit nun expressis verbis ausgesprochen ist. Er verweist auch auf die Identifizierung des Seyns als der Wahrheit des Seyns mit dem Ereignis. Doch er wird für Bultmann nicht die Frage stellen, ob das seynsgeschichtliche Denken Heideggers die Intention Bultmanns weitertreiben könnte, auch wenn dieser nicht in diese Richtung hinein gefragt hat.

Es ist schade, dass er auf diesen Seiten nicht auf das Verhältnis von Seyn und Da-sein (das vom Seyn er-eignete Dasein) eingeht. Denn hier zeigt sich, wie Heidegger bei leicht geänderter Terminologie die in SuZ noch unzureichend gedachte Relation von Dasein, Sein und Wahrheit nun als Ineinander dieser Komponenten expliziert, wenn auch immer noch in einer gewissen Vorläufigkeit. Gerade die so schwer lesbaren "Beiträge" eröffnen den Weg von der Wahrheits-Konzeption in SuZ zur Philosophie der Er-eignung des Da-seins durch das Seyn und der Angewiesenheit des Seyns auf das Da-sein, zu einer Philosophie also, in der Seyn und Wahrheit des Seyns bis hin zur Synonymität sprachlich zum Ausdruck gebracht sind. M. E. löst sich manche Schwierigkeit in SuZ, die sich vielleicht aus dem Blickwinkel der analytischen Philosophie ergibt, wenn man versucht, seynsgeschichtlich aus dem Seyn zu denken. Die Sequenz der 6 Bedeutungen von Wahrheit ist ein sinnvoller Ansatzpunkt zur Diskussion von Heideggers Wahrheits-Verständnis. Die hier nicht mögliche Diskussion mit P. müsste darüber geführt werden, ob nicht ein anderes Zueinander als W1-3 und W4-6 die Wahrheits-Problematik bei Heidegger besser erfassen könnte - gerade aus dem seynsgeschichtlichen Denken der "Beiträge". Leider hat sich aber in P.s Augen der spätere Heidegger "aus der Gemeinschaft rational Argumentierender verabschiedet" (125).- Auf die retractationes gehe ich hier nicht mehr ein, weil der Weg von SuZ, 219 zu S. 76 ff. von "Zur Sache des Denkens" mit dem dortigen Bezug auf die SuZ-Stelle ein umstrittenes, abendfüllendes Thema ist.

Nun zu P.s Bultmann-Teil. Bis heute ist umstritten, in welcher Weise er Heideggers Fundamentalontologie übernahm. Die gängige Auffassung, wonach sein geschichtliches Denken als Dialog mit der Geschichte, wie es in seinem Jesusbuch (1. Aufl. 1926) zum Ausdruck kommt, also die gedankliche Voraussetzung seiner später "existentiale Interpretation" genannten Methode, auf Heideggers existentiales Denken mit dem Dasein als Geschichtlichkeit zurückgehe, hat er in einem vieldiskutierten und umstrittenen Brief an mich (1972) als falsch erklärt.2 P.s Darstellung und Beurteilung von Bultmanns Wahrheits-Konzeption im Kontext seiner Theologie - ein in sich richtiger thematischer Angang zu dieser Problematik! - zeichnet sich durch eine eigenständige und recht interessante Sicht aus. Er fragt, wie es sich aus seiner Heidegger-Darstellung konsequent ergibt, nach Bultmanns Rezeption bzw. Nichtrezeption der sechs Wahrheits-"Bedeutungen" in SuZ.

Die Überschriften des Bultmann-Teils signalisieren sein methodisches Vorgehen, das ich im Prinzip bejahe, als kritische Rezeption. Einleitung: Die Strittigkeit der Wahrheits-Frage; 5 Bultmanns kritische Rezeption von Heideggers Theorie der Wahrheit; 6 Bultmanns Transformation der Fundamental-Aletheiologie Heideggers.3 Damit wird in 5 Bultmanns Stellung zu Heideggers W1-3 und in 6 zu W4-6 thematisiert. Dass P. Bultmanns "Theologische Enzyklopädie" heranzieht, gibt seiner Darstellung festere Fundierung.

Zu 5: P. will Bultmann als Systematiker lesen und als solchen aus systematischer Perspektive interpretieren. Richtig! Er beurteilt ihn "gerade aus der hier eingenommenen Aussenperspektive [...] als ein[en] sehr profilierte[n] und hochkarätige[n] Wahrheitstheoretiker", was "als Grundthese dieses Paragraphen überraschen" dürfte (210 f.). Zutreffend stellt er die Genese dieser Systematischen Theologie Bultmanns heraus: Anschluss an Luther, Kierkegaard und Wilhelm Herrmann (211 f.): "Seit Mitte der 20er Jahre kommt das Lernen im Dialog mit Heideggers Philosophie hinzu. In ihr fand Bultmann begriffliche Mittel, um bestimmte Intentionen der Theologie Wilhelm Herrmanns, die die Tatsache der Geschichtlichkeit des Daseins [...] betreffen, zur gedanklichen Klarheit zu bringen." P. hat also erkannt, dass für Bultmann mit der Heidegger-Rezeption kein grundsätzlicher Neuanfang des theologischen Denkens gegeben war, sondern ihm nur zur terminologischen Klärung und gehaltlichen Vertiefung verholfen wurde. Was sein Verständnis von Wahrheit betrifft, so sieht P. bei ihm wie bei Heidegger verschiedene Bedeutungen von Wahrheit, bei Bultmann vor allem zwei Hauptbedeutungen: Wahrheit der Theologie und Wahrheit des Glaubens. Erstere falle als Wahrheit der Wissenschaft mit der Satzwahrheit zusammen, letztere sei als "Erschlossenheit des Gegenstandes" deren existentialontologische Voraussetzung.

Mit den beiden Hauptbedeutungen von Wahrheit ist aber die eigentliche Problematik bei Bultmann gegeben. Da ist vor allem die Frage nach dem Gegenstand der Theologie, auf die er drei Antworten gibt: 1. Gott, 2. die von Gott bestimmte menschliche Existenz, und 3. der Glaube. Wie kann aber Gott Gegenstand der Wissenschaft mit Namen Theologie sein? Nun ist es allerdings Aufgabe der Wissenschaft, ihren Gegenstand zu verobjektivieren. Aber der unverfügbare Gott kann doch nicht zum Objekt wissenschaftlicher Erkenntnis gemacht werden. Die Präzisierung, Gott als Gegenstand der theologischen Wissenschaft sei der die Existenz des Menschen bestimmende Gott, führt auch nicht aus der Schwierigkeit heraus. Diese Schwierigkeiten sieht P. klar; er vermisst mit Recht bei Bultmann die mangelnde Präzisierung (220). Nun fordert ja Bultmann für alles Verstehen den Lebensbezug des Verstehenden zur Sache. Damit sind wir aber schon bei der Wahrheit des Glaubens - richtig dazu P. (222): "Erst im Glauben ist dem existierenden Dasein ein vollständiges Verstehen und eine hinreichende Wahrheits-Erkenntnis der christlichen Kreuzesbotschaft möglich." Da der Glaube in seiner Wahrheit nicht auf eine vorprädikative Daseinsstruktur im Sinne von Heideggers W2-5 zurückführbar sei, zeige sich, "daß Bultmann die von Heidegger auf diese Wahrheits-Stufen applizierten Begriffe zwar verwendet, aber nur in charakteristischer mehrfacher Brechung" (222). Damit hat P. überzeugend gezeigt, dass Bultmanns Trennung von der Wahrheit der Theologie und der Wahrheit des Glaubens aporetisch ist. Ist nämlich Theologie die Wissenschaft von der Wahrheit des Glaubens, dann kann per definitionem angesichts dessen, wie Bultmann beide Wahrheiten wissenschaftstheoretisch voneinander absetzt, das theologische Verstehen die Wahrheit des Glaubens nicht in derjenigen Tiefe verstehen, wie es per definitionem das glaubende Verstehen vermag! Denn die Wahrheit des Glaubens als Wahrheit der Existenz (GuV II, 269.291; bei P. 223) ist wissenschaftlich nicht verfügbar.

Hier habe ich auch meine Schwierigkeiten mit Bultmanns Vortrag "Theologie als Wissenschaft" vom 21. April 1941 (ZThK 81, 1984, 447 ff.). Habe ich P. richtig verstanden, dass seine und meine Kritik an diesem Punkte konvergieren? Von Bultmann habe ich gelernt, dass Wahrheit des Glaubens Wahrheit der Existenz ist. Aber gerade darum kann ich ihm nicht folgen, wie er die "Wahrheit der Theologie" definiert. Vielem, was P. in diesem Zusammenhang noch sagt und das hier aus Platzgründen unerwähnt bleiben muss, kann ich weithin oder wenigstens im Ansatz folgen. Ich habe zwar Bedenken, wie er hier wieder die Theorie der Wahrheit von der Fundamental-Aletheiologie unterscheidet. Ich stimme ihm aber im Wesentlichen zu, wie er im Blick auf Bultmann vom Begriff Wirklichkeit spricht, vor allem, wenn er wie dieser ein bestimmtes Wirklichkeitsverständnis mit der Rechtfertigungslehre gegeben sieht (267).

Dies ist aber auch der Grund, warum ich in Heidegger II (in P.s Terminologie der Heidegger des seynsgeschichtlichen Denkens) mit seiner Äquivalenz von Sein und Wahrheit "eine mögliche Affinität zwischen Bultmann und dem Heidegger der Kehre" sehe (EWNT, mein Art. aletheia), ein Urteil übrigens, in dem mir P. ausdrücklich zustimmt (309, Anm. 66). Allerdings kann der Theologe dem, wie Heidegger das Verhältnis von Seyn/Sein und Gott gerade in den "Beiträgen" denkt, nicht folgen. Bultmanns Modifikation der Wahrheits-Konzeption(en) Heideggers im Sinne des NTs ist einesteils sicherlich, wie P. annimmt, eine bewusste Modifikation des Theologen Bultmann, andererseits aber auch, wie ich wiederholt dargelegt habe,4 sein partielles Missverständnis der Fundamentalontologie Heideggers. Der "Sache" nach ist aber die durch Bultmann vorgenommene Modifikation berechtigt, und zwar im Namen der Theologie! Zu bedauern ist, dass P. zwar auf Heidegger III mit seiner retractatio eingeht, nicht aber auf die durch Heidegger II gebotenen Möglichkeiten einer fruchtbringenden Weiterführung der Wahrheits-Konzeption - auch wenn in der Auseinandersetzung mit ihm das Nein zu wesenhaften Gedanken des seynsgeschichtlichen Denkens dominant würde.

1.2 Die Dissertation von P. ist ein systematisch-theologisches Werk, die von Otfried Hofius betreute von Christof Landmesser hingegen ein neutestamentliches. Thematisch überschneiden sich beide - ein Zeichen dafür, dass theologisch von Wahrheit nur disziplinenübergreifend gesprochen werden kann, will man es nicht im unzulänglich verengten Horizont tun. Beide Autoren haben ja auch bewusst die Grenzen ihrer eigenen theologischen Disziplin überschritten. So ist es nicht marginal, dass der Korreferent von L.s Dissertation kein Geringerer als der Systematiker Eberhard Jüngel war. Auch mit L. kann hier der Dialog nur fragmentarisch geführt werden.5

Das Buch ist in 4 Teile gegliedert: Teil I: Der semantisch-ontologische Wahrheits-Begriff, in dem L. zunächst auf Austins bekannte Theorie der Sprechakte, danach auf die syntaktische und die semantische Sprachebene eingeht und schließlich die Grundlagen des Kontextprinzips untersucht: Kompositionalitätsprinzip, das Kontextprinzip nach Frege und das Kohärenzprinzip nach Rescher. Nach der Klärung des Begriffs der Proposition und ihrer ontologischen Konsequenzen behandelt er Proposition, Satz und kognitive Instanz als Wahrheitsträger und thematisiert den semantisch-ontologischen Wahrheits-Begriff. Teil II: Der existential-ontologische Wahrheits-Begriff - der längste und m. E. wichtigste Teil des Werks (212 Seiten) - bringt Darstellung und Kritik des Wahrheits-Begriffs Heideggers und der Wahrheits-Vorstellung Bultmanns. Teil III referiert kritisch Beispiele für den Umgang mit der Wahrheits-Frage in der gegenwärtigen neutestamentlichen Hermeneutik (P. Stuhlmacher, K. Berger, H. Weder). Teil IV: Der semantisch-ontologische Wahrheits-Begriff; hier stellt L. seinen eigenen Wahrheits-Begriff vor. Ich konzentriere mich in der Rez. auf die Teile II und IV.

Zu L.s Heidegger-Darstellung. Er referiert ausführlich, in der Regel zutreffend und kompetent, die Grundbegriffe in SuZ. Wichtig sind seine Ausführungen über Wahrheit als Existential. Mit Recht wehrt er eine subjektivistische Deutung ab. Zu diskutieren sind jedoch seine Ausführungen über Heideggers "doppelten Wahrheits-Begriff" nach SuZ (158 f.). Vom Heidegger nach SuZ wird leider nur der Vortrag "Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens" (1964) kurz thematisiert, in dem er die in SuZ vorgenommene Verknüpfung der traditionellen Wahrheits-Frage mit der Frage nach der Existenz als nicht mehr aufrechtzuerhalten erkannt habe (159-161; s. das zu P. Gesagte). Während P. immerhin kurz auf die "Beiträge zur Philosophie" eingegangen ist, spart sie L. leider ganz aus. Dabei wäre gerade das, was Heidegger dort über das Verhältnis von Wahrheit und Da-sein sagt, bedenkenswert für das Weiterdenken des in SuZ 44 Gesagten. Weiterführend ist L.s kritischer Exkurs zu P.

L. sieht in Bultmanns Wahrheits-Begriff zwei äquivoke Begriffe unterstellt, ohne dass dieser es erkannt hätte. Einerseits sei für ihn Wahrheit die Existenz-Wahrheit im Sinne der Eigentlichkeit, andererseits habe er auch für die Satz-Wahrheit dieselbe Vokabel benutzt (322). Trifft aber der Äquivokations-Vorwurf zu? Oder gibt es einen inneren, sachlich begründeten Zusammenhang der zwei Aspekte der einen Wahrheit? Zur Existenz-Wahrheit im Sinne Bultmanns gehört die in der Theologie begrifflich dargestellte Glaubens-Wahrheit. Eine theologische Exegese ist, wie L. Bultmanns Auffassung zutreffend darstellt, nur dem möglich, der schon "in der Tradition der Kirche des Wortes steht" (274; nach Bultmanns Aufsatz "Das Problem einer theologischen Exegese des NT" [1925]). Also: Ohne Glaube keine Theologie! L. sieht aber gerade darin die Unterbestimmtheit der Wahrheits-Vorstellung Bultmanns in semantischer Perspektive. Werde die semantische Ebene der Sätze transzendiert und das Wahrheits-Kriterium auf der Ebene der Existenz angesiedelt, so wäre ein solches Kriterium für die Theologie als Wissenschaft unzureichend. Denn innerhalb der Theologie als Wissenschaft müsse ein intersubjektiv kommunikables Wahrheits-Kriterium gefunden werden, das eine rational gerechtfertigte Entscheidung über die Wahrheit theologischer Sätze ermögliche (321). Aber das ist ja gerade das Problem! Wenn nämlich Theologie als Explikation des Glaubens gefasst wird, die Wahrheit des Glaubens aber Wahrheit der Existenz ist, wie kann dann die Wahrheit der den Glauben und also die glaubende Existenz explizierenden Theologie intersubjektiv kommunikabel und rational gerechtfertigt sein? Die Wahrheit der Theologie ist ja nach dem Neuen Testament die Wahrheit Gottes. Gott ist aber weder intersubjektiv kommunikabel noch rational erfassbar! Ein so erfassbarer und theoriefähiger Gott kann uns doch nicht interessieren, da er nicht Gott ist, sondern Konstrukt einer bloßen ratio! Der Einwand, dass die Wahrheit des Glaubens und die auf dieser Wahrheit beruhende Wahrheit der Theologie semantisch unterbestimmt sei, trifft nicht zu. Denn es gibt ja, wenn ich es so sagen darf, die semantische Gemeinschaft der Glaubenden, die semantische Gemeinschaft der Kirche.

Die Qualität der Dissertation L.s ist in ihrer guten Darstellung der Philosophie Heideggers und der Theologie Bultmanns begründet - auch wenn inhaltliche Fragezeichen zu setzen sind. Diese Qualität kann auch nicht dadurch gemindert werden, dass ich im folgenden gegenüber Teil IV Vorbehalte äußere. Folgenden Sachverhalt verstehe ich nicht: L. hat die philosophische und theologische Wahrheits-Problematik kompetent an Heidegger und der Heidegger-Rezeption Bultmanns bedacht. Teil IV bringt nun seine eigene Wahrheits-Konzeption. Aber das, was er in Auseinandersetzung mit Heidegger und Bultmann in Teil II dargelegt hat, entschwindet nun völlig aus der Perspektive. Ist das nur ein Bruch in der Darstellung oder sogar in der Sache? Besteht das Band zwischen Teil II und Teil IV nur in dem Faktum, dass Bultmanns existential-ontologische Wahrheits-Konzeption unzureichend sei und deshalb L. bei Ignorierung dieser Konzeption für seine eigene Auffassung nur den semantisch-ontologischen Wahrheits-Begriff thematisiert? Selbst wenn er mit dem Vorwurf der Defizienz in semantischer Hinsicht recht hätte - ich gebe ihm hierin, wie gesagt, nicht recht-, enttäuscht in Teil IV die Ausblendung der Heidegger- und Bultmann-Problematik.

In Teil IV beginnt er mit der "Grundeinsicht", dass innerhalb der neutestamentlichen Wissenschaft kein anderer Wahrheits-Begriff vorausgesetzt werden könne als in allen anderen Wissenschaften auch (428). Damit wird er bei vielen Zustimmung finden. Trotzdem frage ich zurück: Wenn wirklich, was allerdings L. bestreitet, eine semantisch verantwortbare Wahrheits-Konzeption für die die Glaubens-Wahrheit reflektierende Theologie als Wissenschaft möglich ist, wenn somit die Rede von Gott verstanden ist als Rede von der Wirklichkeit Gottes - denn das Verstehen des Begriffs "Gott" ist ja kein Verstehen der Wirklichkeit Gottes als Deus pro me! -, ist dann das Wahrheits-Verständnis dieser so begriffenen Theologie noch allgemein kommunikabel? Verstanden im eigentlichen Sinne des Wortes ist ja das im NT zum Ausdruck kommende Evangelium nicht, wenn nicht Gott als die den Menschen angehende Wirklichkeit verstanden ist. Wollte man sich an L.s "Grundeinsicht" halten, so müsste man das eigentliche Verstehen, also das, worum es im NT geht, aus der Definition von Wissenschaft ausklammern.

Diese Problematik lässt sich an dem veranschaulichen, was er über das Intelligibilitätspotential oder semantische Potential neutestamentlicher Texte sagt. Er meint damit die Erkennbarkeit und Kommunikabiltät des Sprachpotentials der semantischen Sprachebene. Jetzt ist er es, der in diesem Zusammenhang von Wirklichkeit spricht, nämlich der Wirklichkeit im Sinn von Welt. Die neutestamentlichen Texte seien zum einen auf diese Wirklichkeit bezogen, zum anderen hätten sie Anspruch auf intersubjektive Kommunikabilität und Intelligibilität, da sie ja etwas von der Welt zu verstehen geben wollten. (Fast wie ein Motiv durch eine Wagneroper zieht sich in Teil IV die Wendung "etwas von der Welt zu verstehen geben".) Aus dieser "Welt-Sprachlichkeit der neutestamentlichen Texte" ergibt sich für L. "die Einsicht, daß die neutestamentlichen Texte in keiner [!] Weise von einer Sonderwirklichkeit oder einer eigenen Welt etwa der Glaubenden sprechen" (442). Wenn man freilich dieses Axiom voraussetzt, wird einiges selbstverständlich, was ich um der Sache der Theologie willen bezweifle.

Freilich kommt dann doch noch eine Aussage, die der von der neutestamentlichen Theologie Herkommende als Schritt in die richtige Richtung verstehen könnte. L. schreibt nämlich (451 f.): "Was die neutestamentlichen Texte von der Welt zu verstehen geben wollen und zu verstehen geben können, wird nur - so der Anspruch - im Kontext des Christusgeschehens intelligibel [...] Wird das mit den neutestamentlichen Texten intendierte Neue nicht erreicht, dann verfehlt die Auslegung das semantische Potential dieser Texte gerade in seiner entscheidenden, weil erkenntniserweiternden Dimension." Und ebenso stelle ich eine Affinität zwischen L.s und meinem theologischen Denken fest, wenn er schreibt (461; Kursive durch mich): "Die theologische Wissenschaft hat damit als Ziel ein Welt-Verständnis unter den Bedingungen des christlichen Glaubens."

Ich belasse es für Teil IV bei diesen Überlegungen. Möglicherweise habe ich an der einen oder anderen Stelle L. ein wenig missverstanden, so dass meine Kritik abgeschwächt werden müsste. Die Reaktion auf diese Rez. wird es vielleicht zeigen. Auf jeden Fall werde ich in anderem Kontext noch ausführlicher, als es hier möglich war, auf das von L. Gesagte zurückkommen. Trotz aller Kritik im Einzelnen: Wer in Zukunft über Wahrheit in theologischer Sicht spricht, wird um die intensive und kritische Lektüre dieses hervorragenden Buches nicht herumkommen. Die Auseinandersetzung mit ihm lohnt sich. Und eins hat er, unbeschadet aller Differenzen, deutlich gemacht: Wahrheit ist Grundbegriff neutestamentlicher Wissenschaft!

3. P. und L. habe ich kritisiert, weil sie das Denkpotential von Heideggers "Beiträgen zur Philosophie" ungenutzt ließen, obwohl gerade diese Schrift mit ihrem seynsgeschichtlichen Denken in der Wahrheits-Frage weiterführen könnte. Paola-Ludovica Coriando (C.) füllt mit ihrer bei Friedrich-Wilhelm von Herrmann angefertigten Dissertation diese Lücke zunächst einmal in philosophischer Sicht. Da aber in Heideggers Philosophie die Gottesfrage virulent ist und sein philosophisches Denken die Gottesfrage trotz seiner Polemik gegen die christliche Theologie ernsthaft impliziert,6 ist ihr Werk auch für den Theologen, will er wirklich dem theologischen Wahrheits-Denken auf den Grund gehen, unverzichtbar. Ich übertreibe nicht: Die Struktur des seynsgeschichtlichen Denkens für das theologische Denken fruchtbar zu machen, bedeutet für dieses einen neuen Parameter. Es sind die Entsprechungen als Strukturparallelen theologischen und seynsgeschichtlichen Denkens - nicht inhaltliche Parallelen! -, die Innovationen im theologischen Denken, gerade auch im neutestamentlichen Denken, erbringen können, und zwar mit dem Denken einerseits aus der Offenbarung und somit aus dem sich erschließenden Gott als dem Deus hermeneuticus und andererseits aus dem Seyn. Insofern leistet C. der Theologie einen unschätzbaren Dienst. Aber auch das in aller Deutlichkeit: C.s Buch ist keine Lektüre für jedermann! Lesen kann es nur, wer bereits mit Heideggers philosophischem Denkweg gut vertraut ist. Wer nur SuZ kennt, wird terminologisch und denkerisch sehr schwer einen Zugang zu den "Beiträgen" gewinnen. Das ist kein Vorwurf gegen C., sie könne nicht verständlich schreiben (so leider zuweilen sogar in Rezn.). Denn sie hat sich mit diesem Buch auf eines der am schwierigsten zu lesenden Werke Heideggers eingelassen und sich dabei gekonnt in seine Sprache eingefügt. Das zeigt ihre Sachkompetenz, bedeutet aber für ihre Leser oft größte Mühe. Ihr Lehrer von Herrmann war früher Assistent Heideggers, C. war von Herrmanns Assistentin. Sie ist also in Heideggers Schülergeneration dessen "Enkelin". Und ihre Dissertation beweist, dass sie sich wirklich als seine Enkelin betrachten darf! Sie hat die "Beiträge" voll und ganz verstanden.

Heidegger hat die "Beiträge zur Philosophie" 1936-38 geschrieben, nachdem er nach anfänglicher Täuschung über das NS-System dessen verbrecherisches Wesen durchschaut hatte, und zwar in dessen Tiefendimension. Schon allein diese "Beiträge" zeigen, wie töricht die Angriffe auf ihn als einen der NS-Ideologie verfallenen Mann waren!7 Ihr Inhalt ist in einer gewissen inhaltlichen Brechung auch aus seinen Nachkriegsschriften ersichtlich, vor allem aus dem Humanismusbrief.8 Trotzdem ist es geboten, auf die "Beiträge" zurückzugreifen. Denn in ihnen finden wir den späten Heidegger in statu nascendi. Die Mühe bei der Lektüre der "Beiträge" hat zum Lohn ein wesentlich besseres Verstehen der philosophischen Intention Heideggers.

Wegen der mit Heideggers Spätphilosophie nicht Vertrauten müsste ich eigentlich vor der inhaltlichen Besprechung von C.s Buch erst einmal eine Skizze seines Denkwegs vom fundamentalontologischen Denken in SuZ zum seynsgeschichtlichen Denken nach der "Kehre" bieten und in dieser Perspektive den Inhalt der "Beiträge" referieren.9 Das ist im Rahmen einer Rezension nicht möglich. Ich beschränke mich auf entscheidende Aussagen C.s zum "letzten Gott" und hoffe, damit zumindest die Grundrichtung des Denkens Heideggers und C.s zu verdeutlichen.

Zum Aufbau von C.s Buch: Nach der Einleitung über die thematisch-methodische Abgrenzung der Untersuchung folgen Abschnitte: 1. Vorbereitende Einsicht in die Ereignis-Struktur umwillen der Klärung des seinsgeschichtlichen Wink-Begriffs mit den beiden Kap. Das kehrige Denken und das Er-eignis und Das ursprüngliche Zeit-Raum-Gefüge und der Wink in das Da-sein. 2. Die Zu-kunft der Sterblichen und der letzte Gott mit den beiden Kap. Wink, Zu-künftigkeit und Tod und Der äußerste Bezug. Von diesem 2. Kap. seien die genannt: 21 Sein, Seiendes und Gott. Zum versuchten Weg in den Wesungsbereich des letzten Gottes. 22 Der metaphysische Gott als das summum ens (Thomas von Aquin ...). 23 Das seinsbedürftige Gotthafte im Er-eignis. 24 Der Wesungsbereich des letzten Gottes. 25 Das zeit-räumliche An-Spiel des Gotthaften. 26 Ausblick: Der letzte Gott als Anfang (s. Titel des Buches!). Heideggers "Beiträge" sind in sechs Fügungen gegliedert: Nach dem Vorblick: 1. Der Anklang, 2. Das Zuspiel, 3. Der Sprung, 4. Die Gründung, 5. Die Zukünftigen, 6. Der letzte Gott.

C. will sich in ihren Ausführungen über den "letzten Gott" nicht darauf versteifen, eine Antwort auf die Frage nach ihm zu geben. Wichtig ist ihr, sich nicht die Erfahrbarkeit des Bereichs seiner an- und vorgedachten Wesung zu verbauen. In der Grunderfahrung des Seyns vollziehe sich die ins Äußerste gehende Umwandlung des Gedankens der theologischen Differenz zwischen dem Seyn und dem Gotthaften, d. h. die Befreiung dieses Gotthaften "von der metaphysischen Belagerung durch den der Seiendheit des Seienden entnommenen Begriff des summum ens [...]: den göttlichen Gott denken heißt zunächst, ihn von der Begründungskette der Seiendheit loszusprechen" (143). Damit hat sie einen grundlegenden Gedanken Heideggers adäquat erfasst. Diesem ging es nämlich darum, Gott aus der Kausalkette des Seienden herauszunehmen: Gott ist kein Seiendes, auch kein höchstes Seiendes. Heideggers Irrtum war, dass er den jüdisch-christlichen Gott als Schöpfer im metaphysischen Denken der Kausalität gefangen sah und somit die creatio ex nihilo als so gefasste Kausalität interpretierte. Insofern hatte er aber recht, als er diese Art von Kausalität aus dem Gedanken des "göttlichen Gottes" absentierte. Kausalität kann nicht in den Bereich Gottes bzw. des Gotthaften greifen! Denn sonst wäre ja Gott als ein diesseitiges Seiendes gesehen. Heideggers Kampf gegen den christlichen Gott ist also paradoxerweise seiner eigentlichen Intention nach mit der Intention des Traktats De Deo der christlichen Dogmatik identisch. In 22 bringt C. exemplarisch für die Vorstellung des metaphysischen Gottes als summum ens die quinque viae des Thomas von Aquin, vor allem: secunda via est ex ratione causae efficientis, also Gott als erste Wirkursache. Inwieweit der Vorwurf Thomas wirklich trifft, bleibe hier undiskutiert. Schade, dass C. nicht reflektiert, dass der "metaphysisch" vorgestellte Gott nicht der christliche Gott der dogmatischen Gotteslehre ist, auch nicht ohne weiteres der Gott der umstrittenen Definition des Vaticanum Primum. Aber wir sollten bedenken, dass C. nicht Theologin, sondern Philosophin ist.

Das eigentliche Problem bei Heideggers Denken des "göttlichen Gottes" ist die von ihm neben der ontologischen Differenz von Sein/Seyn und Seiendem10 behauptete theologische Differenz von Gott und Seyn. In 23 hat C. diesen Gedankenkomplex gut nachgezeichnet. Es ist aber auch derjenige Denk-Ort bei Heidegger, an dem das intensive Gespräch des Theologen mit seinem seynsgeschichtlichen Denken geführt werden müsste und auch einsetzen sollte (s. Anm. 4). Ich beschränke mich auf diesen Problemkomplex, weil sich an ihm exemplarisch Heideggers und C.s Intentionen aufzeigen lassen und zitiere in diesem Sinne (153): "Die Absetzung vom metaphysischen Gottes-Denken, das die Göttlichkeit des Gottes in der ins Höchste gesteigerten Seiendheit sucht und so den Gott als den ersten Grund und Ursache des Seienden, als das Un-bedingte, Un-endliche, Absolute denkt ([GA 65,] S. 438), ist das springende Moment im seinsgeschichtlichen Gottes-Denken. [...] Als ereignetes Denken weiß es sich zugehörig dem sichzuwerfenden Sein, dem es im nicht mehr vor-stellenden, sondern sein-lassenden Wort entspricht."

Eine Zwischenbemerkung: Heidegger spricht sowohl im Singular von Gott, dem letzten Gott oder dem Gotthaften als auch im Plural von den Göttern. Völlig falsch wäre es, diesen Plural polytheistisch zu interpretieren. Mit seinem alternativen Reden will er Begriffe wie Monotheismus, Polytheismus oder Atheismus als vorstellend-metaphysisches Reden über Gott überwinden. C. macht auf diese Intention aufmerksam.

Zurück zum Problem des Verhältnisses von Gott und Seyn! C. verweist mit Recht für diese Frage auf Abschnitt 259 Die Philosophie im 8. Kap., wo Heidegger erklärt, der Abspruch des Seins an die "Götter" bedeute zunächst nur, dass das Sein nicht "über" ihnen stehe, diese aber auch nicht "über" ihm. Die Götter brauchen aber das Seyn, "um durch dieses, das ihnen nicht gehört, doch sich selbst zu gehören" (GA 65, 438). Sie verweist auch auf sein Diktum (ib. 437) von der Fragwürdigkeit, "ob überhaupt dergleichen wie Sein den Göttern zugesprochen werden darf". Zentral scheint mir der Satz Heideggers (ib. 280) "Das Er-eignis übereignet den Gott an den Menschen, indem es diesen dem Gott zueignet", von ihr S. 159 zitiert. Denn hier wird das Zueinander von Gott/Göttern und Mensch im Zusammenhang mit dem Zentralbegriff der "Beiträge", nämlich Ereignis bzw. Er-eignis, genannt. Vom Er-eignis wird das Übereignen und Zueignen ausgesagt. Es ist die Vierheit "Ereignis - Seyn - Götter (Gott) - Da-sein", die C. in hervorragender Weise thematisiert (157 ff.), u. a. im Rückgriff auf GA 65, 470, wo Heidegger das Ereignis so umschreibt: "Die Er-eignung, daß in der Notschaft, aus der die Götter des Seyns bedürfen, dieses zur Gründung seiner ihm eigenen Wahrheit das Da-sein er-nötigt und so das Zwischen, die Er-eignung des Daseins durch die Götter und die Zueignung der Götter zu ihnen selbst zum Er-eignis wesen läßt."

C. verdeutlicht die Gefügtheit dieser Geschehensweise des Ereignisses: 1. Die Er-nötigung des Da-seins durch das Seyn, d.h. der ereignend-er-nötigende Zuwurf. Das Seyn bringt also zuwerfend das geworfene Da-sein (s. schon SuZ: Geworfenheit des Daseins; dort allerdings noch nicht gesagt, dass es das Sein ist, das das Dasein in seine Geworfenheit wirft) in die Nötigung. 2. Es ist die Nötigung, die Wahrheit des Seyns zu gründen, d. h sie ereignet-er-nötigt zu entwerfen. 3. Die Gotthaften sind des Seyns bedürftig, nämlich im Bezug (Notschaft der Götter!) zur sichzuwerfend-entworfenen Wahrheit des Seyns. 4. Das Zwischen wird interpretiert als die daseinsmäßige Eröffnung der Notschaft der Götter. Als kehrige Struktur stellt C. dementsprechend den ereignenden Zuwurf als er-nötigend und den ereigneten Entwurf als er-nötigt heraus.

In das Da-sein des Menschen als geworfenes und entwerfendes gehört also der Bezug zum Seyn und der Bezug zu Gott bzw. den Göttern. Die Frage des Theologen an dieses seynsgeschichtliche Denken ist es nun, wie das in ihm gedachte Zueinander von Gott und Seyn der theologischen Frage nach Gott und Sein Impulse zu geben vermag, wie das menschliche Dasein in das Gefüge von Gott und Sein hineingehört. Gott und Mensch stehen sich ja bei Heidegger und im theologischen Denken nicht einfach gegenüber. Worin gründet das Dasein? Hat es seinen "Grund" in Gott? Wie aber ist dann "Grund" - philosophisch und theologisch - zu verstehen? Es sind keine rein theoretischen Fragen, jedenfalls für den nicht, der nach sich selbst fragt. Wie gibt es Antwort auf diese Fragen, wenn im seynsgeschichtlichen Denken das Wort seinen philosophischen Ort hat? Was heißt es für Heidegger, aus dem Seyn denken? Was heißt es in Entsprechung dazu für die christliche Verkündigung, aus dem im Evangelium, im Wort präsenten Gott denken? Damit ist die Frage angesprochen, in welcher Weise das seynsgeschichtliche Denken ein eminent hermeneutisches Denken ist. Hingewiesen sei dafür auch auf den für die "Beiträge" so bedeutsamen Terminus des Winks. Belassen wir es aber dabei, die so fragmentarisch ausgewählten Aussagen zu C.s Ausführungen als exemplarisch für dieses Denken genannt zu haben. Die wenigen hier vorgestellten Aspekte aus C.s Überlegungen können die Gewichtigkeit ihrer Dissertation nur ahnen lassen. Will man mehr, so bedarf es dazu einer gründlichen, und das heißt mühsamen Lektüre ihres Buches - und der Lektüre von Heidegger selbst!11

Die drei hier rezensierten Bücher können ihre Leser zu vertieftem theologischen Denken anregen. Die Ermunterung zu solcher Lektüre ist freilich eine Zumutung - zumindest im Blick auf C. Aber man sollte schon denen, deren Aufgabe es ist, in geistig zerrissener und turbulenter Zeit theologisch zu denken und theologisch Gedachtes verkündigend und lehrend zu vermitteln, zumuten (= zu-Mut-en), beim theologischen Denken einiges zu investieren! Martin Eberhard Pausch, Christof Landmesser und Paola-Ludovica Coriando sei für ihre Arbeiten sehr herzlich gedankt! Und ich sage das nicht nur im Blick auf diejenigen ihrer Gedanken, denen ich zustimme!

Fussnoten:

* Pausch, Martin Eberhard: Wahrheit zwischen Erschlossenheit und Verantwortung. Die Rezeption und Transformation der Wahrheitskonzeption Martin Heideggers in der Theologie Rudolf Bultmanns. Berlin-New York: de Gruyter 1995. XIV, 373 S. gr.8 = Theologische Bibliothek Töpelmann, 64. Lw. ¬ 94,00. ISBN 3-11-014230-9.

Landmesser, Christof: Wahrheit als Grundbegriff neutestamentlicher Wissenschaft. Tübingen: Mohr Siebeck 1999. XVI, 586 S. gr.8 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 113. Lw. ¬ 99,00. ISBN 3-16-147103-2.

Coriando, Paola-Ludovica: Der letzte Gott als Anfang. Zur ab-gründigen Zeit-Räumlichkeit des Übergangs in Heideggers "Beiträgen zur Philosophie". München: Fink 1998. 206 S. 8. Kart. ¬ 32,60. ISBN 3-7705-3279-1.

1) M. Heidegger, Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), Hrsg. von F.-W. von Herrmann, Gesamtausgabe Bd. 65, Frankfurt am Main 21998.

2) Die neueste Bestreitung des Wahrheitsgehaltes dieser brieflichen Äußerung Bultmanns erfolgte durch seinen eigenen Schüler Walter Schmithals in ZThK 98, 2001, 29 ff. Dieser Versuch, Bultmanns Erinnerungsvermögen ausgerechnet an wesentliche Momente des Beginns seiner Zusammenarbeit mit Heidegger in Frage zu stellen, ist gescheitert. Ich werde mich dazu noch andernorts äußern. P. rekurriert S. 234, Anm. 54 auf diesen Brief, freilich sehr vorsichtig: "Wenn dies stimmen sollte, dann hätte Bultmann den kriteriologischen und wichtigen typologischen Aspekt seiner Wahrheits-Theorie unabhängig von Heidegger [...] entwickelt."

3) Die Kursiven natürlich durch mich.

4) Z. B. H. Hübner, Was ist existentiale Interpretation?, in: ders., Biblische Theologie als Hermeneutik. Ges. Aufsätze, Hrsg. von A. und M. Labahn, Göttingen 1995, 229-251. Zum seynsgeschichtlichen Denken Heideggers s. meine Aufsätze in: Schriften der Martin-Heidegger-Gesellschaft, Bd. 5, und in: Heidegger Studien 15 (1999) und 18 (2002).

5) Diskussionsbedarf zwischen L. und mir besteht vor allem für die Problematik der existentialen Interpretation bei Bultmann hinsichtlich der Termini ontologisch und ontisch (283, Anm. 517).

6) S. vor allem den von P.-L. Coriando herausgegebenen Bd. 5 (1998) der Schriftenreihe der Martin-Heidegger-Gesellschaft "Herkunft aber bleibt stets Zukunft. Martin Heidegger und die Gottesfrage." Darin auch ihr Beitrag (ib. 101-116): Zur Ermittlung des Übergangs. Der Wesungsort des "letzten Gottes" im seinsgeschichtlichen Denken.

7) Ich nenne hier nur das ungerechte Machwerk von Viktor Farías, Heidegger und der Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 1987, das auch seine Unfähigkeit dokumentiert, Heideggers Philosophie zu verstehen. Zu ihm hat, mir völlig unverständlich, Jürgen Habermas das Vorwort geschrieben. Gerade er hätte es besser wissen müssen! Zum Thema "Heidegger und der Nationalsozialismus", und zwar im Blick auf die "Beiträge", s. Schriftenreihe der Martin-Heidegger-Gesellschaft, Bd. 5, Frankfurt am Main 1998, 153 f.

8) S. M. Heidegger, Wegmarken, Hrsg. von F.-W. von Herrmann, GA 9, Frankfurt am Main 21996, (313-364) 313, Randbem. a.

9) Zur Information über Heideggers Denkweg, vor allem zum seynsgeschichtlichen Denken auf diesem Wege, nenne ich O. Pöggeler, Der Denkweg Martin Heideggers, Pfullingen 31983; zur ersten Hinführung: F.-W. von Hermann, Weg und Methode. Zur hermeneutischen Phänomenologie des seinsgeschichtlichen Denkens, Frankfurt am Main 1990; zur Vertiefung: ders., Wege ins Ereignis. Zu Heideggers "Beiträgen zur Philosophie", Frankfurt am Main 1994.

10) Dass Heidegger später gegenüber dem Begriff der "ontologischen Differenz" skeptisch war, braucht hier nicht zu interessieren.

11) Ergänzend zu GA 65 sollten auch die postum herausgegebenen Schriften Besinnung (GA 66) und Die Überwindung der Metaphysik (GA 67) herangezogen werden. Vielleicht ist gerade, was den Gottesgedanken Heideggers angeht, manches in GA 67 zugänglicher geschrieben als in GA 65 (s. meinen in Anm. 4 genannten Aufsatz in Heidegger Studien 2002).