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Ausgabe:

Mai/2002

Spalte:

564–566

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Autor/Hrsg.:

Kempf, Rolf

Titel/Untertitel:

... damit der Mensch göttlich werde. Auf ostkirchlichen Wegen zum geistlichen Leben.

Verlag:

Metzingen: Franz u. Sternberg 2000. 348 S. 8. Kart. ¬ 20,00. ISBN 3-7722-0381-7.

Rezensent:

Wolfgang Wünsch

Mit seinem o. g. Buch hat Dr. Rolf Kempf einen ernstzunehmenden und insgesamt erfreulichen Beitrag zur Ostkirchenkunde vorgelegt und reiht sich somit - nach seinem Buch "Kerzen, Chöre und Ikonen. Geistliches Leben in den orthodoxen Kirchen", Gießen/Basel 1999 - ein zweites Mal in die große Zahl derer ein, die einem breiteren deutschsprachigen Lesepublikum ostkirchliche Spiritualität nahe bringen wollen. Wenn der Rez. auch nicht die das Buch über weite Passagen prägende Vorstellung von "den sich zersetzenden Volkskirchen des neuen Jahrtausends" (324) teilt, so erschließt sich doch auf den vom Vf. erwanderten Wegen ostkirchlichen Denkens eine erfrischende Weite und Fülle geistlichen Lebens.

Eine große Rolle spielt für den Vf. die Spiritualität des Herzens, wie sie besonders in der - in Rumänien vor allem durch die Übersetzungsarbeit von Dumitru Staniloae bekannten - Philokalie, dem Hesychasmus und dem damit verbundenen Jesusgebet entfaltet wird.

Die Philokalie ist eine aus den Schriften der asketisch-mystischen Väter des christlichen Ostens über einen Zeitraum von elf Jahrhunderten (vom 4. bis zum 15. Jh.) zusammengestellten Anthologie und legt "unter Berufung auf die heiligen Väter und Gotteskämpfer der Ostkirche die orthodoxe Lehre vom Wesen des Menschen, von Methoden und Wegen seiner Vervollkommung, vom Streben nach hohen ethischen Zielen und von der geistigen Freiheit" dar.

Ein Leitmotiv der Philokalie ist die ostkirchliche Bewegung des Hesychasmus, einer schon zur Zeit der Alten Kirche verbreiteten Richtung geistlichen Lebens, deren Ziel in der Geistesruhe (griechisch: hesychia), in der von den Leidenschaften gereinigten Verfassung der Seele (Leidenschaftslosigkeit), in der geistigen Nüchternheit, in der Schau Gottes und der Vereinigung mit Gott besteht. Bei der Vorbereitung dieses Zustandes unterwirft sich der Hesychast einem sorgfältigen körperlichen, seelischen und geistigen Training, bei dem das Jesusgebet eine besondere Rolle spielt. Dieses Gebet besteht in den Worten: "Herr Jesus Christus, du Sohn Gottes, sei mir Sünder gnädig."

In den ersten beiden großen Kapiteln seines Buches führt der Vf. seine Leser anhand einiger Väter der Philokalie und der russischen Starzen in diese vom Mönchtum geprägte geistige Welt ein, die gleichwohl, vor allem in Russland, weit über die Klostermauern hinaus - wenngleich auch modifiziert - Bedeutung erlangt hat. Bemerkenswert ist hier vor allem der Abschnitt über Johannes von Kronstadt, der als verheirateter Weltpriester nicht nur ein bedeutender Seelsorger war, sondern auch eine beachtliche diakonische Tätigkeit entfaltet hat.

Das Ziel des Vf.s ist es allerdings nicht, einen thematischen oder frömmigkeitsgeschichtlichen Aufriss zu bieten, sondern eine Aktualisierung der Spiritualität der Väter der Philokalie für das Christsein heute, um den Leser einzuladen, "durch vorurteilsfreies Prüfen [...], mit ganzer Wendung den schmalen Pilgerpfad zu betreten, der zum himmlischen Jerusalem führt, oder eben jene Paradiesesleiter, die bis zum Himmel reicht."

Dieser Weg wird dann in den folgenden Kapiteln: (III) Vom Sündenfall zur Kehrtwendung des Glaubens, (IV) Von den Leidenschaften und Tugenden, (V) Der Aufstieg zu Gott - oder: Die Paradiesesleiter (im Anschluss an Johannes Klimakos) - hier ist besonders der Abschnitt über das Gebet bemerkenswert -, und (VI) Die Stufen der Liebe (im Anschluss an Pawel Florenski) entfaltet.

Unterwegs macht der Vf. dabei immer wieder auf Zusammenhänge und Bezüge zwischen ostkirchlichem Denken und evangelisch-pietistischen Ansätzen aufmerksam, die er in seinem Schlusskapitel über den Gedanken der Theosis (Vergöttlichung) im Raum des Protestantismus überblicksartig noch einmal anreißt. Dabei kehrt auch seine wiederholt geäußerte Kritik an Luthers Zurückweisung einer Mitwirkung des Menschen am Heil (Synergismus) nochmals wieder. Eine Kritik, die dem Rez. im zweiten Jahr nach der Unterzeichnung der Gemeinsamen Erklärung (GE) zur Rechtfertigungslehre allerdings ein wenig theoretisch klingt (vgl. die zustimmenden Bemerkungen zur GE, 178 f.). Als schwer nachzuvollziehen erschien dem Rez. auch die heftige Polemik des Vf.s gegenüber der Kindertaufe, die er mit der Notwendigkeit einer Büßerhaltung des Täuflings und dem bei den zu taufenden Kindern fehlenden Glauben begründen möchte.

Bedenklich stimmen müssen auch die Äußerungen des Vf.s, die den evangelischen, wenn nicht den abendländischen Frömmigkeitsstil insgesamt, als oftmals "kopflastig und gefühlsscheu" bezeichnen, und m. E. an den heutigen kirchlichen Realitäten völlig vorbeigehen. Es sei nur daran erinnert, dass beispielsweise schon Dietrich Bonhoeffer die stark von mystischem Denken geprägten Exercitia spiritualia des Ignatius von Loyola herausgegeben und bevorwortet hat. Und auch Luther kann kaum mit Recht ein rationalistisches Denken angelastet werden. Eine Zuordnung von Mystik zur Ostkirche und Rationalismus zu evangelischer und katholischer Kirche scheint mir insgesamt zu klischeehaft.

Druckfehler hat der Rez. folgende bemerkt: S. 98 muss es heißen: Paisij Welischkowskij, nicht: Welischkoiskij; S. 155: neutestamentlich, nicht neutestamentalich; S. 340, Anm. 13: Studienheft 25: nicht Studienheft 15; S. 342, Anm. 10: Jungclaussen, nicht Jungelausen.

Das Literaturverzeichnis (346 f.) ist nicht einheitlich gestaltet, die Zuordnung der Titel zu den einzelnen Bereichen (1. Zum Themenkreis Philokalie ("Dobrotoljubie"), 2. Theologische Beiträge, 3. Philosophische Darstellungen, 4. Vergleichende Religions- und Konfessionskunde, 5. Kirchengeschichte) überzeugt nicht in jedem Fall, ein Register ist nicht vorhanden.

Gleichwohl bleibt es ein großes Verdienst des Buches, ein weites Gebiet eben ostkirchlicher Spiritualität für deutschsprachige Leser und Leserinnen erschlossen und viele Hinweise für ein weitergehendes Studium gegeben zu haben.