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Ausgabe:

Mai/2002

Spalte:

557–559

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Jacobs, Christoph

Titel/Untertitel:

Salutogenese. Eine pastoralpsychologische Studie zu seelischer Gesundheit, Ressourcen und Umgang mit Belastung bei Seelsorgern.

Verlag:

Würzburg: Echter 2000. XXIII, 719 S. gr.8 = Studien zur Theologie und Praxis der Caritas und Sozialen Pastoral, 19. Kart. ¬ 40,90. ISBN 3-429-02225-8.

Rezensent:

Reinhard Schmidt-Rost

Ist die Berufsgruppe der katholischen Priester tatsächlich so krank, wie man der Presse und den Fallstudien von Eugen Drewermann (Die Kleriker, 1989) entnehmen konnte? Die - in doppelter Hinsicht - vielseitige Studie des Paderborner Pastoraltheologen Chr. Jacobs leugnet die Belastungen der Seelsorge nicht (vgl. 8 u. ö.), zielt aber auf eine positive Beantwortung der herausfordernden Leitfrage: "Darf ein Priester glücklich werden?" (VII) und entfaltet deshalb ein "innovatives Konzept für eine Pastoralpsychologie gelingenden Lebens", das sowohl "handlungsorientiert" als auch "spirituell begründet" ist (ebd.). Ein fundamentaler Unterschied zu Drewermanns Studie besteht in der Verwendung einer anderen psychologischen Theoriebildung, die "aktuelle wissenschaftliche Psychologie" wird - endlich - ins Gespräch gezogen, die Tiefenpsychologie gibt nur noch Stichworte (vgl. 7).

Mit dem Titel "Salutogenese" - ein von M. Antonovsky geprägter Begriff für sein gesundheitspsychologisches Konzept - löst J. die Pastoralpsychologie aus der therapeutischen Engführung und fokussiert die seelische Gesundheit; er wertet diesen Vorgang als einen Paradigmenwechsel, als eine "wesentliche Akzentverschiebung von einer einseitigen Krankheits- und Krisenzentrierung hin zur umfassenden, individuell und strukturell ganzheitlichen Theorie und Praxis der Förderung des Lebens" (5). Als pastoralpsychologisches Fundament wählt er das "Paradigma der heilenden und befreienden Seelsorge" (18 u. ö.), das er von seinem Mentor I. Baumgartner übernimmt und dynamisch und systemisch weiterentwickelt. In der ausführlichen Einleitung (1.) werden die Konturen der folgenden Forschungen und Interpretationen angesprochen, wobei der Begriff der "Fremdprophetie der Psychologie für die Theologie" besonderes Interesse verdient, weil er eine spezifische Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Psychologie und Theologie impliziert.

Im ersten der drei umfangreichen Teile (Abschnitt 2. bis 5.) stellt J. das Salutogenese-Konzept vor und entwickelt daraus sein eigenes Modell seelischer Gesundheit, das er alsbald um Theorien zur Frage von Ressourcen und Belastungen erweitert. Der zweite Teil (6. bis 9.) bietet drei empirische Studien, die auf den bisherigen Überlegungen aufbauen: 1) Seelische Gesundheit und Wohlbefinden bei Priestern und Ordensleuten, 2) eine Therapiestudie an Priestern und Ordensleuten, 3) empirische Einblicke in den Umgang mit Belastungen in der Seelsorge. Der dritte Teil (10. und 11.) ist der theologischen Reflexion und pastoralpsychologischen Praxis des Salutogenesemodells gewidmet.

Im Umfang Drewermanns "Klerikern" vergleichbar, ist J.s Studie schwerer zugänglich; er argumentiert als empirischer Psychologe mit Hypothesen und statistischen Daten anstelle von Fallgeschichten, was der Darstellung viel an Anschaulichkeit nimmt, obwohl die Nähe zum Alltag gerade eine wesentliche Intention dieser Betrachtungsweise ist. Aber die Aufgliederung allgemeiner Begriffe wie "seelische Gesundheit" in einzelne Indikatoren und Items verlangt vom Leser ein gerüttelt Maß an psychologischer Fachkenntnis und synthetischer Kraft, so sehr sich J. auch um eine alltagsgerechte Übersetzung der psychologischen Konstrukte (vgl. z. B. 191) bemüht. Auch die Fülle von Gliederungen und Schaubildern dient erkennbar dem Zweck, Datenmaterial und Hypothesenbildung in ihrer Fülle durchsichtig zu machen.

Der theologischen Leserschaft aber bieten die Leitgedanken des "gelingenden Lebens" und der "seelischen Gesundheit" sowie die abschließenden Thesen zu einem pastoralpsychologischen Modell der Salutogenese (ab 592) auch ohne differenzierte Kenntnisse des empirisch-psychologischen Werkzeugs genug Diskussions-, wenn nicht Zündstoff. J. zufolge sind "Horizont und Perspektive des [salutogenetischen] Modells und viele seiner entscheidenden Annahmen durchaus kompatibel zum christlichen Menschenbild und zu wesentlichen Modellen der Theologie" (80). Aber die dreiteilige Versicherung, (a) "heilende und befreiende Seelsorge [sei] nicht identisch mit medizinischer oder psychologischer Defizitbeseitigung", sie wehre sich (b) "auch gegen die selbstzentrierten Heilslehren und das Ganzheitlichkeitspathos einer bestimmten Art von Pastoralpsychologie, die Menschwerdung Gottes und individuelle Selbstverwirklichung des Menschen einfach parallelisiert und dadurch letztlich Leid- und Krisenerfahrungen personalisiert und ungerechte Strukturen freispricht", und sie sichere sich (c) gegen solche Abwege erfolgreich, "weil sie sich zur Fragmenthaftigkeit des Menschen bekenne" (19), vermag s. E. die Frage nach Gestalten gelingenden Lebens unter den Bedingungen der Gegenwart nicht befriedigend zu beantworten - zumal wenn "die Sehnsucht des Menschen nach Glück, Gelingen, Ganzheit, Sich-ganz-Verwirklichen" als "Zeichen seiner Berufung zum Heil - und seiner Heilsbedürftigkeit" (22) interpretiert und der Pastoralpsychologie die Aufgabe gestellt wird, "der umfassenden Heilwerdung des Menschen und dem Gelingen seines Lebens auf dieser Erde und angesichts des Himmels [zu] dienen" (23).

Welche Rolle in dem erneut angebahnten Diskurs zwischen Theologie und Psychologie letztlich die Theologie spielt, lässt sich nicht leicht beurteilen: Es sprechen aber doch gewichtige Indizien dafür, dass die "Fremdprophetie" der Psychologie die hier entwickelten Vorstellungen von Gesundheit derart dominiert, dass der theologischen Interpretation der Leitbegriffe allenfalls die zweite Stimme bleibt; die theologische Auslegung der Leitbegriffe erfolgt jedenfalls erst nach der detaillierten gesundheitspsychologischen Aufschlüsselung (vgl. z. B. 189), im zehnten Kapitel (ab 447). Diese Äußerlichkeit hat durchaus einen Sachgrund in einer zentralen Gedankenfigur, die die soteriologische Spannung des "Noch nicht" auflöst in eine anthropologische Bestimmung von Heil. Gebannt von der - hierzulande kaum noch angebrachten - Sorge, Bilder himmlischen Heils könnten zur Vertröstung eingesetzt werden (vgl. 476.531 u. ö.), begibt sich der Autor - entgegen seiner eingangs erklärten Absicht - in die in einer an Gesundheit und Erlebnis orientierten Gesellschaft nicht minder ernste Lage, irdische Vorstellungen von Erfüllung, Glück und Gesundheit in die Soteriologie einzutragen. Unter Berufung auf Thomas von Aquin (und damit auf der Basis des aristotelischen Glücksbegriffs) verschmelzen Heilswirken Gottes und menschliches Handeln im Interesse des Heils ununterscheidbar: "Wenn der Mensch für den Zweck der Verwirklichung seines Heils auf dieser Erde handelt, stellt er sich in jenes schöpferische, kreative, heilschaffende Handeln hinein, das von Gott ausgeht" (476) und: für "eine Pastoralpsychologie der Salutogenese ist die Korrelation zwischen den Alltagssehnsüchten der Menschen und der Tat Gottes offensichtlich" (480).

Die Konsequenzen liegen dann auf der Hand: "Aus theologischer Sicht braucht Salutogenese die Orientierung an der Erfahrung eines ganzheitlichen Menschseins, an Fülle, an Glück, an Lebendigkeit, aber auch die Orientierung an der Befreiung aus den Unheils- und Belastungszusammenhängen destruktiver Strukturen" (481). Was aber, wenn solche Veränderungen nicht richtig gelingen oder - trotz Salutogenese - gar nicht in Reichweite kommen? Müsste nicht angesichts der Überforderung des Gesundheitswesens durch individuelle Ansprüche deutlicher an die Grenzen menschlicher Handlungs- und Erlebnismöglichkeiten erinnert und z. B. die Vorstellungen von Gesundheit und Krankheit dialektisch miteinander vermittelt werden (vgl. z. B. 461 f.). In einer ohnehin auf gegenwärtiges Glück ausgerichteten Gesellschaft ist das Denkmodell der Überbietung wenig geeignet, eine realistische Vorstellung von Glück oder Gesundheit zu fördern, oder wie anders denn als Überbietung sollte man die folgenden Sätze verstehen: "Rein innerweltlich konzipierte salutogenetische Denksysteme haben Schwierigkeiten mit der Zerbrechlichkeit des menschlichen Daseins. Die theologische Perspektive der Salutogenese besitzt die Kraft, die lastenden Erfahrungen des Menschseins ohne Verzicht auf die Perspektive von Glück, Wachstum, Gelingen und Ganzheit zu integrieren. Der Glaube ist der neue, umwertende Kontext des Menschseins: Schwachheit wird zu Kraft, Bedrängnis zu Trost, Kreuz zu Leben. Heilwerdung im Fragment ist das Stichwort erlöster Salutogenese. Dies ermöglicht eine Ganzheit, die im Fragment das Ganze leben kann" (533).

Die Vorliebe des Autors für den Begriff "Baustein" zeigt auch noch im sprachlichen Gewand, dass selbst bei einem derart verdienstvollen Bemühen um neue Wege in der Begegnung von Humanwissenschaften und Theologie fugenlose Verbindungen nicht leicht zu erreichen sind.