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Ausgabe:

Mai/2002

Spalte:

535–538

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Noss, Peter

Titel/Untertitel:

Martin Albertz (1883-1956). Eigensinn und Konsequenz. Das Martyrium als Kennzeichen der Kirche im Nationalsozialismus.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2001. 632 S. gr.8. Kart. ¬ 49,90. ISBN 3-7887-1843-9.

Rezensent:

Folkert Rickers

Die voluminöse Arbeit versöhnt durch ihre gute Lesbarkeit. Der Vf. stellt nicht nur dar, sondern versucht, die Geschichte einer Gestalt der Zeitgeschichte auch anschaulich zu machen. Er versteht es, die Fülle der quellenmäßig exzellent recherchierten biographischen Details mit den theologischen und politischen Zeitströmungen so zu verknüpfen, dass - im groben Rahmen - auch so etwas wie eine Geschichte des dahlemitischen Flügels der Bekennenden Kirche entstanden ist, fokussiert in einer Biographie. N. bedient sich dazu der "zeitgeschichtlich-biographischen Methode" (18).

In ähnlicher Weise verfährt N. auch in der Schilderung der lokalen Ereignisse. So wird etwa die Darstellung der "Kreissynode in Spandau im Juni 1933" (158-164) eng verbunden mit der geschichtlichen Entwicklung der Anfänge der BK (164-180.217-228). Hier kommt dem Vf. allerdings auch die Gunst des Ortes entgegen; denn die zentralen Konflikte der Zeit spielten sich eben in Berlin ab. Was die nicht ganz unkomplizierten konfessionellen Fronten und Querelen der BK angeht, in denen der reformierte "Eigensinn" von Albertz von Anfang bis Ende seinen gehörigen Part spielte, lässt sich die Arbeit durchaus als kleines Nachschlagewerk nutzen, dessen Möglichkeiten allerdings begrenzt sind, weil ein Sachregister fehlt; ein Personenregister ist vorhanden.

Martin Albertz hat nach 1945 diesen reformierten Part in der konsequenten Verfolgung der notkirchlichen Linie von Dahlem nicht weiterspielen können. Es setzte sich bekanntlich das restaurative Kirchentum von Dibelius durch. Die notkirchlichen Erfahrungen waren hier nicht mehr gefragt, was Albertz mit einer gewissen Bitterkeit registrierte. Eine kirchenleitende Funktion beim kirchlichen Wiederaufbau nach 1945 wurde ihm von Dibelius nicht angetragen. Aber von 1933 an stand er in der ersten Reihe der Auseinandersetzungen mit den DC, die von den Spandauer Nationalsozialisten unterstützt wurden. Er war Erstunterzeichner des Pfarrernotbundes; noch 1933 trat er dem "Coetus reformierter Prediger" bei; er war Mitglied der "Freien Evangelischen Synode in Berlin-Brandenburg" vom 7.3.1934, Mitglied der Bekenntnissynoden von Barmen und Dahlem, Mitglied der 1. und 2. VKL (in letzterer hatte er eine "Schlüsselposition"; 228); er war Leiter des Ausbildungs- und Prüfungsamtes der BK und war maßgeblich beteiligt an der Ausarbeitung der Denkschrift an Hitler im Jahre 1936; er organisierte und praktizierte "Notgemeinde" in Spandau und war darüber hinaus vielfältig engagiert. Umso erstaunter ist man, dass Albertz bisher nicht durch eine eigene Biographie gewürdigt worden ist. Dieses Defizit ist von N. nun durch seine materialreiche, viele neue Quellen erschließende Darstellung geschlossen worden.

Seine Sympathie nicht verhehlend, schildert der Vf. Albertz als einen Kirchenmann, dem die mühsam im Protestantismus der Weimarer Republik errungene Selbständigkeit der Kirche, in der das Evangelium von Jesus Christus frei und unabhängig von staatlichen Einwirkungen verkündigt werden kann, die oberste Norm seines Verständnisses von Pfarramt und kirchenleitendem bzw. -politischem Handeln war. Mit dieser Position musste er notwendigerweise in Konflikt mit den DC geraten. N. kann zeigen, dass sich dieser oppositionelle Part, radikalisiert durch die Beschlüsse von Dahlem, nährt aus dem Geist reformierter, sich wesentlich an Karl Barth orientierender Theologie sowie aus presbyterial-synodalem Kirchenverständnis. Daneben habe Albertz spezielle Vorstellungen betont herausgestellt. So habe er bereits 1931 das Martyrium als Kennzeichen von Kirche angesehen (62 ff.); in nationalsozialistischer Zeit habe sich dieser Gedanke bei ihm radikalisiert (365 ff.); schließlich habe er ihm durch die Haft existentielles Gewicht verliehen (453 ff.). Der ihm befreundete Paul Schneider sei für ihn das leuchtende Beispiel für die notwendige Standhaftigkeit im Glauben gewesen (403 ff.). Insofern hat der Untertitel des Buches seine Berechtigung. Weiter sei Albertz besonders an der reformierten Auffassung des Verhältnisses von Kirche und Staat gelegen gewesen. Schon 1931 - so hebt N. heraus - habe er vertreten, dass die Kirche zur "Überparteilichkeit" verpflichtet sei (82) und politische Fragen nicht auf die Kanzel gehören (194f.). Aus diesem Grunde sei Albertz aus der DNVP wieder ausgetreten. Weiter habe er deutlich machen wollen (134 ff.; Auseinandersetzung mit Kracht), dass von Seiten des Evangeliums Stellung bezogen werden müsse, wenn der Führung des Staates religiöse Verklärung entgegengebracht werde wie ab 1933 in der Rede von der göttlichen Sendung Hitlers.

Soweit kann man dem Autor gut folgen. Wenn er aber behauptet, Albertz habe sich von der Auffassung vom "Wächteramt" der Christen/der Kirche gegenüber der Obrigkeit leiten lassen, wird die Argumentation schwierig und widersprüchlich. Der hier entscheidende Satz von N. lautet: "Bei dieser Regierung (Hitler-Regime; FR) handelte es sich nicht um eine von Gott eingesetzte Obrigkeit, sondern um eine solche, der gegenüber das Wächteramt auszuüben war" (138 u. ö.).

Die von N. angeführten Texte beweisen allerdings das genaue Gegenteil. Albertz begrüßt das Altonaer Bekenntnis, in dem expressis verbis "jede Obrigkeit" als von Gott gewollte akzeptiert wird, "ganz abgesehen davon, ob sie [die Obrigkeiten; FR] uns gefallen" (138; Fußn. 186). Die Regierung Hitler war für Albertz nicht die beste aller Obrigkeiten, und insbesondere mit der völkischen Ideologie konnte er wenig anfangen; aber er stellt sie als Obrigkeit nicht in Frage. Man müsse eben - so Albertz - auf die Stunde warten, "die Gott schenken wird, wann er will", "wenn wirklich eine Obrigkeit aufgerichtet wird, die über den Parteien steht, die jedem das Seine gibt und der Nation sich zu gutem Dienste verpflichtet weiß" (134). Zugleich wird in dieser Aussage deutlich, was Albertz von Demokratie und Parlamentarismus hielt, nämlich nichts. Er war darin ein typischer Vertreter des herrschenden Protestantismus der Weimarer Republik. Vom "Volkswillen" erwartete er nach dem Ende der Weimarer Republik jedenfalls nichts mehr und setzte ohne weitere Einschränkungen auf den "autoritären Staat" (121). Zum Tag von Potsdam fand Albertz eine überaus positive und emotional hochgestimmte Einstellung (139), was N. - wächteramtsorientiert - irritiert. Er "erlag" keineswegs (bzw. nicht nur) "der Täuschung" von Hitler und Goebbels, sondern wusste sich mit ihnen im autoritären Staatsprinzip und dem durch dieses angestrebten "Werden der Deutschen Nation zu [...] Einem Reich" (140) einig. Dies berücksichtigend, hätte sich N. auch nicht weiter wundern müssen, dass Albertz 1933 ganz unbekümmert davon geredet hat, dass "der Staat unter der Diktatur eines Staatsmannes" stehen könne (154 f.); er müsste Albertz auch keine "Inkonsequenzen" im Verhalten gegenüber dem Staat unterstellen, wie häufig betont wird (vgl. z. B. 186.196. 377 ff.380 ff.396 ff.559).

Der Begriff des Wächteramts wird von N. zunächst ohne weitere Klärung und ohne genaue Bestimmung seiner Reichweite als ein scheinbar konsensfähiger Begriff reformierter Theologie im Sinne obrigkeitskritischer Haltung eingetragen und dann faktisch als Leitkategorie angewendet (134.137.153: die Forderung kirchlicher Unabhängigkeit impliziert keineswegs bereits ein Wächteramt gegenüber dem politischen Bereich!). Aber diesen Sinn deckt der Begriff in der Anwendung durch Albertz selbst keineswegs. Denn er nutzt ihn ausschließlich, um gegen den Totalitätsanspruch des Staates zu intervenieren, sofern dieser kollidiere mit dem von Christus (273). Aber diese Verwendung des Begriffs war vollkommen konform mit der der betonten Unabhängigkeit der Kirche vom Staat. Es war mit ihm keine obrigkeitskritische Position als solche verbunden, obwohl Albertz (als Mitglied der 2. VKL) sich mit der Denkschrift der BK von 1936 kritisch gegen einzelne Maßnahmen des Regimes exponiert hatte.

Wegen der unzureichenden Klärung der Rede vom Wächteramt muss N. auch mit Begriff und Sache von "Opposition, Resistenz, Widerstand, Martyrium" (11 ff.) erheblich ins Schlingern geraten. (Mehr als problematisch ist bereits die selbstverständliche Einordnung des "Martyriums" als eines Begriffs mit oppositionellem Gehalt). Das Resümee, Albertz habe seit 1933 "konsequent in Opposition, Resistenz und Widerstand gegen das NS-Regime" (559) gestanden bzw. er habe sich um die "Zurückdrängung, Eindämmung und Beendigung des nationalsozialistischen Einflusses und Herrschaft während des Dritten Reiches im Raum von Kirche, Staat und Gesellschaft" (561f.) bemüht, ist durch die Quellen nicht hinreichend gedeckt bzw. äußerst missverständlich. Zwar hat sich der Verfasser in seinen methodischen Vorüberlegungen im Hinblick auf das Verhalten von Albertz für den Begriff "Resistenz" entschieden als der "dem reformierten Selbstverständnis am nächsten" (15) kommende und ihn abgehoben gegen "Widerstand" (als politischem Begriff), ihn aber nicht konsequent zur Anwendung gebracht (s. o.).

So steht z. B. auch das 8. Kapitel unter der irreleitenden Überschrift: "Widerstand in den Jahren deutscher Kriegerfolge" (417), obwohl es eigentlich hätte "Resistenz" heißen müssen (wie z. B. 446). Problematisch ist dabei, dass N. mit solchen Opposition suggerierenden Begriffen den allgemeinen Eindruck vermitteln möchte, dass sie jedenfalls teilweise eine grundsätzlich staatskritische und politisch intendierte oppositionelle Haltung anzeigen. Das aber war nicht der Fall. Die Widersetzlichkeiten von Albertz bezogen sich ausschließlich auf Sachverhalte, in denen der Staat in irgendeiner Weise in und auf das kirchliche Leben einwirken wollte (vgl. z. B. 164 ff.). Das von N. erhobene Material zeigt Albertz als Prototyp eines Kirchenmannes, der in nationalsozialistischer Zeit mit erheblicher Konsequenz für die Rechte und für die weltanschauliche wie politische Unabhängigkeit der Kirche eingetreten ist. Er war Exponent im "Kirchenkampf", nicht aber der Opposition gegen den Nationalsozialismus oder gar gegen die nationalsozialistische Regierung. Dazu fehlten ihm - wie im Übrigen auch vielen anderen in der BK - schlicht die politischen Mittel, nachdem er der Demokratie zu Gunsten eines autoritären Staatsprinzips abgeschworen hatte (s. o.).

N.s Buch breitet in üppiger Fülle das Material zur Zerstörung der Legende vom politischen Widerstand der BK aus. Aber dazu muss man es - jedenfalls z. T. - gegen die systematischen Kriterien lesen, mit denen der Vf. dieses Material aufbereitet hat.