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Ausgabe:

Mai/2002

Spalte:

531–535

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Kunter, Katharina

Titel/Untertitel:

Die Kirchen im KSZE-Prozess 1968 - 1978.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 2000. 262 S. gr.8 = Konfession und Gesellschaft, 20. Kart. ¬ 25,95. ISBN 3-17-015977-1.

Rezensent:

Ralf Hoburg

Welche Bedeutung und Funktion die KSZE-Konferenz von Helsinki hatte, wurde mir erstmals vor einigen Jahren in einem persönlichen Gespräch mit dem damaligen EKD-Oberkirchenrat Helmut Zeddies über die Stellung der Kirchen in Europa deutlich. Die ökumenischen Bemühungen des Kirchenbundes der DDR, ihr frühes Engagement für die Leuenberger Kirchengemeinschaft (LKG) sowie die Arbeit der Konferenz europäischer Kirchen (KEK) lassen sich kaum ohne eine Hintergrundkenntnis des politischen Einflusses der KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975 und ihrer kirchlichen Rezeption verstehen. Sie erst macht deutlich, wie es zum kirchlichen Engagement um Frieden und Menschenrechte quer durch das Europa des sog. Kalten Krieges seit Mitte der 70er Jahre kam. Zur Transparenz der DDR-Kirchengeschichte bis 1989, aber auch zum Verstehen der vielen bilateralen ökumenischen Kontakte des ÖRK und der Einordnung der Ökumene in das politische Umfeld des Ost-West-Konfliktes schließt die vorliegende und von dem führenden Vertreter der kirchlichen Zeitgeschichtsforschung, Martin Greschat, betreute Dissertation von Katharina Kunter eine empfindliche Lücke. Die Arbeit zeigt an einem Beispiel der internationalen Politik die praktischen Hintergründe der ökumenischen Konferenz- und Gremienarbeit, bietet geradezu ein Lehrstück für das "Totlaufen" der binnenkirchlichen Verhandlungsökumene und zeigt darüber hinaus eher indirekt das nicht unerhebliche protestantische Kompetenzgerangel.

Deutlich wird aber auch die kirchliche Reaktion der EKD auf die zeitgeschichtlichen politischen Prozesse und die Verschränkung von Staat und Kirche in zentralen gesellschaftlichen Themenfeldern nach 1945. Mit dem Thema der KSZE-Konferenz ist generell das Feld der Interdependenz zwischen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen und kirchlichen Reaktionen darauf angeschnitten, deren öffentliche Auswirkungen bekanntlich Akademietagungen einerseits und EKD-Denkschriften andererseits bilden. Welch schwieriges Terrain mit der Fragestellung der kirchlichen Rezeption eines politisch komplexen Bereiches wie der KSZE-Konferenz beschritten ist, zeigt allein die Quellensuche. Die Verflechtung der kirchlichen Ebenen zeichnet sich schon allein an der faktischen Anzahl der von der Vfn. benutzten Archivalien aus den Archiven der EKD, der KEK, des ÖRK sowie LWB und RWB ab. Am Ende der Dissertation steht dann allerdings auch die nüchterne Bilanz eines eher mäßigen Erfolges der ökumenischen Bemühungen um die KSZE mit dem kritischen Urteil der Vfn. einer geringen politischen Kompetenz kirchlicher Organisationen (231). Überzeugend ist auch in diesem Zusammenhang ihre Beobachtung, dass am Beispiel der KSZE-Thematik die sich seit den 60er Jahren immer mehr professionalisierende ökumenisch-institutionelle Struktur evident wird, wobei sich beim Lesen der Arbeit aus der heutigen Sicht dann schon die Frage nach der Effizienz der Mittel und den Doppelstrukturen der ökumenischen Institutionen stellt.

Die Vfn. geht in ihrer Dissertation historisch rekonstruktiv vor, indem sie in ihrem ersten Kapitel den KSZE-Gedanken in den gesamteuropäischen Rahmen einpasst und, sozusagen die Vorgeschichte klärend, das Themenfeld entsprechend den vier Phasen der KSZE absteckt (22). Sie wählt über die gesamte Studie den methodischen Weg, den Fortgang der politischen Geschichte an Schwerpunktthemen des KSZE-Prozesses zu beschreiben, dem dann in der Darstellung die kirchliche Rezeption - abgestuft nach Institutionen in die Ebenen des ÖRK, der KEK, des LWB, des BEK und der EKD folgt. Dabei wird dem Leser im Nachvollzug der politischen Entwicklung schnell deutlich, wie die Machtinteressen der Supermächte USA und UdSSR die Entwicklung des KSZE-Konferenzthemas über Jahre hinweg steuerten. Getrieben von der Notwendigkeit einer Zusammenarbeit waren es lange Zeit sowjetische Vorstöße, die eine gesamteuropäische Sicherheitskonferenz forderten. Es zeichnete sich bereits in den 50er Jahren ab, dass die Klärung der deutschen Frage als die zentrale Vorbedingung für den Ost-West-Dialog angesehen wurde (31). Je weiter die Verhandlungen um Frieden und Abrüstung kamen, um so mehr rückten die Fragen der Anerkennung der DDR sowie die Menschenrechte in den Vordergrund der KSZE-Verhandlungen. Vor allem der letzte Aspekt bildete dann zunehmend den Schwerpunkt der kirchlichen Arbeit im Verlauf der 70er Jahre.

Auf der Grundlage der präzisen historischen Erfassung der außenpolitischen Komponenten wendet sich die Vfn. dann den kirchlichen Reaktionen in dieser ersten Phase zu. Dabei nimmt sie zunächst den ÖRK, die KEK und den LWB unter die Lupe und kommt zu dem - für mich durchaus überraschenden - Befund, dass nicht primär der Weltkirchenrat wie sich vermuten ließe, sondern der Lutherische Weltbund die schärfere politische Analyse und Beobachtung lieferte. Die Vfn. sieht dies darin begründet, dass für den ÖRK mit seiner Kommission der Kirchen für internationale Angelegenheiten (KKIA) die Berlin-Frage und die Situation der DDR-Kirche in dieser frühen Zeit der 60er Jahre gegenüber dem Thema einer Europäischen Sicherheitskonferenz zurücktrat. Ganz schlüssig ist für mich die Vermutung nicht. Vermuten ließe sich vielmehr, dass der ÖRK als Institution seit den 60er Jahren bis hin zur Vollversammlung in Nairobi globalere politische Themen, etwa den Nord-Süd-Konflikt, in den Vordergrund stellte. Spannend finde ich die von der Vfn. vorgenommene zusammenfassende Bewertung der politischen Rolle des LWB gerade auch in Hinsicht auf die Begleitung der DDR-Kirchen sowie das Zusammenspiel auf dem Gebiet der "Hintergrundinformationen" zwischen den verschiedenen kirchlichen Ebenen. Immerhin verfügte der LWB vom Exekutivkommitee ausgehend über einen dezidierten Beschluss, die Entwicklung der KSZE zu verfolgen und beauftragte damit eine Arbeitsgruppe. Zwischen den Zeilen wird in der Darstellung der Vfn. immer neu evident, wie vergleichsweise gut die kirchlichen Kreise sowohl auf europäischer wie nationaler Ebene jeweils über aktuelle außenpolitische Vorgänge informiert waren und wie die Informationen dann in konkretes kirchenpolitisches Handeln einflossen. Gerade die Passagen der Arbeit über die EKD und auch den regen brieflichen Gedankenaustausch beteiligter Personen geben Einblicke in das Informationsgeflecht kirchlicher Institutionen. Wer wie die Vfn. den verschlungenen Wegen der kirchlichen Archivalien nachgeht, wird hier vermutlich über den hohen Grad von in-offiziellen politischen und gesellschaftlichen Informationen zwischen Kirche und Staat nur immer wieder neu ins Staunen geraten.

Als Themen der kirchlichen Zeitgeschichte liegen vermutlich auf dem Feld der praktischen Kooperation zwischen kirchlichen und staatlichen Dienststellen enorme Ressourcen, die es mit ähnlicher Methode, wie sie die Vfn. bei dem KSZE-Thema mit der synchronen Analyse von politischen und kirchlichen Fragestellungen angewandt hat, in naher Zukunft verdienten, bearbeitet zu werden. Erinnert sei nur an eine Rezeptionsgeschichte der EKD-Denkschriften oder gar an das Thema des NATO- Nachrüstungsbeschlusses und seiner Bedeutung für die kirchliche Friedensbewegung.

Klar wird aber auch am Beispiel der KSZE-Konferenz und ihrer kirchlichen Rezeption, wie schwierig gerade in Hinsicht auf eine zukunftsorientierte Struktur des Protestantismus im europäischen Kräftespiel der EU die Koordination der unterschiedlichen ökumenischen Ebenen ist. An dieser Stelle ist es schade und gerade aus heutiger kirchenpolitischer Sicht ein Defizit, dass die Vfn. über die enge Ebene der historischen Darstellung ihrer Dissertation nicht hinausgeht und auf der Basis des historischen Quellenmaterials durchaus mutig Konsequenzen künftiger kirchenpolitischer Strategien oder Organisationsformen aufzeigt. So bleibt die Arbeit über weite Strecken in der historisch korrekten Darstellung der Aktenlage ökumenischer Konferenzplanung und Nachbereitung stecken und traut sich zu wenig bewertende Urteile zu, obwohl der Autorin an verschiedenen Stellen klar wird, mit welchen strukturellen Mängeln die KEK - besonders in Bezug auf die orthodoxen Kirchen- aber auch der ÖRK behaftet ist. Auch wenn die politischen Vorgaben seit dem Zusammenbruch des Kommunismus heute andere sind, wird doch aus der historischen Analyse der Vfn. beim KSZE-Thema deutlich, wo die eigentlichen Probleme der KEK sitzen. Gerade für die Überlegung, wie im Europa der Zukunft die kirchlichen Strukturen ausfallen müssen, liefert die Studie wichtiges historisches Basiswissen und es bleibt zu hoffen, dass die Arbeit der Vfn. auch im EKD-Kirchenamt gelesen wird!

Neben dem LWB interessierte sich naturgegebener Maßen auch die KEK für das Thema der KSZE-Konferenz, da durch die Beteiligung der orthodoxen Kirchen an der KEK der Ost-West-Konflikt unmittelbar in die Institution der KEK hineinspielte. Hierbei bestätigt in vielfacher Hinsicht die vorliegende Studie die auch von mir selbst am anderen Ort beschriebene Skepsis gegenüber der KEK als einem kirchenpolitisch geeigneten Instrumentarium. Die KEK tut sich, was die KSZE angeht, schwer, muss sich selbst als Institution in ein Verhältnis zur Christlichen Friedenskonferenz setzen (CFK) und es deutet sich immer mehr - nicht zuletzt durch die Sonderrolle der orthodoxen Kirchen - ihre kirchenpolitische Ineffizienz an. Die Schwierigkeiten basieren, so stellt die Vfn. vielfach schlüssig dar, auf "unterschiedlich motivierten politischen Zwängen" (46). Ein Erbe, das eben durch eine andere staatskirchenrechtliche Verankerung der Orthodoxie bis heute ein gravierender Hemmschuh bleibt. Dennoch gewann das Thema der europäischen Sicherheit bei der KEK seit 1970 an Gewicht, wobei der Gedanke der friedlichen Koexistenz in unterschiedlichen politischen Systemen im Vordergrund stand.

Während die 1. politische Phase der KSZE-Verhandlungen Themen der Sicherheit in den Vordergrund stellte, erhielt in der Phase der Konsolidierung auch die Thematik der Abrüstung mehr Gewicht und damit rückte das Thema der Stabilisierung und Erhaltung des Friedens in den Mittelpunkt. Die Sowjetunion dachte dabei an eine völkerrechtlich verbindliche Friedenskonferenz, die das gleichberechtigte Miteinander der östlichen und westlichen Systeme sicherstellen könnte, womit dann auch eine völkerrechtliche Anerkennung der DDR verbunden war. West und Ost waren dann aber unterschiedlicher Meinung was das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten der Staaten angeht.

Die Vfn. zeigt im Verlauf ihrer Arbeit, dass gerade auf dem Gebiet der Menschenrechte die gegenseitige Anerkennung und die Nichteinmischung politische Prinzipien waren, die auch die kirchlich ökumenischen Gespräche stark beschäftigten. Von besonderer Bedeutung wurden politisch dann im Verlauf der KSZE-Verhandlungen die humanitären Aspekte. Auch hier zeigte sich, dass das in Körben von 1-3 gesammelte Themenspektrum in den kirchlichen Verhandlungen mit nur geringer Zeitverzögerung ebenfalls abgehandelt wurde. Einen interessanten Seitenaspekt behandelt die Autorin durch den Blick auf den Beitrag des Vatikans, der zeigt, dass dessen Aktionen sehr wohl politisch als "ein unterstützendes Signal für die Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa" gesehen wurde (71). Anders als ökumenische Vertreter konnte der Vatikan beim Europäischen Außenministertreffen im Juli 1973 dabei sein. Und die Vfn. stellt sachlich fest: "Der Auftritt des Vatikans auf der europäischen Bühne war also erfolgreich gewesen" (73). Diese historische Faktizität sollte im Hinblick auf heutige Problemstellungen den protestantischen Kirchen zu denken geben!

Die protestantische Ökumene brillierte stattdessen mit einer Vielzahl von Ausschusssitzungen und Konferenzpapieren. So spannend die Dissertation auch ist, an dieser Stelle stöhnt der Leser einfach über die Verworrenheit und Komplexität der kirchlichen Ebenen. Deutlich wird, wie sehr der ÖRK mit seinem damaligen Generalsekretär Philipp Potter ins Fahrwasser politischer Propaganda kam und dass die Themen von Religionsfreiheit und Menschenrechten zwischen den ökumenischen Delegierten aus Ost und West sich mehr und mehr festfuhren. Trotz der Behandlung des KSZE-Themas auf der Vollversammlung des ÖRK in Nairobi 1975 konnte sich die Fragestellung nicht so recht etablieren. Immer klarer tritt aber auch zu Tage, dass sich die KEK mit ihrem Anspruch, kirchliche Vertreterin in Europa zu sein, überschätzt hat (100). Durch den LWB und seine Arbeitsgruppe gewann die Trias der Themen von "Frieden, Gerechtigkeit und Menschenrechte" an Bedeutung und der Leser ahnt, wie sich ein gewisser Faden dann zu dem Thema des sog. konziliaren Prozesses spannen lässt, der in der Kirche der DDR zu Beginn der 80er Jahre vermutlich eine Frucht der KSZE-Verhandlungen war. Auch hier wünscht sich der Leser, dass die Vfn. ab und zu den Pfad der Tugend rein historischer Darstellung verlassen und Hinweise auf große theologische bzw. kirchliche Zusammenhänge gewagt hätte. Auf dem Gebiet der Anerkennung der DDR kulminierte dann ja der Anspruch der Kirche in der DDR, Kirche im Sozialismus zu sein, und es ging letztendlich auch um die Zusammenarbeit von Christen und Marxisten.

So bleibt die Frage, wie denn jenseits der großen Konferenz-Ökumene das Thema etwa in breiteren Kirchenkreisen oder an der Basis rezipiert worden ist, außerhalb des Horizontes der Dissertation. Nur ein kleiner Hinweis wird auf die für manche Menschen in der DDR und auch für manche Theologen notwendig gewordene Praxis der Häftlingsfreikäufe gegeben und in der Beschreibung des Umgangs der DDR mit Dissidenten wie Biermann oder Bahro wird überdeutlich, welche politische Schubkraft in der KSZE-Konferenz historisch steckt. Bei alldem, so gewinnt der Leser den Eindruck, arbeiten die unterschiedlichen ökumenischen Institutionen zwar intensiv am Thema, aber es gelingt ihnen kaum, sich gegenseitig zu vernetzen und bis auf persönliche Einzelkontakte strategisch zwischen den Ebenen auszutauschen.

Der Vergleich zwischen der EKD und dem BEK in der DDR zeigt - wie ich finde über die gesamte Darstellung der Arbeit hinweg, dass es der Kirche im Osten besser gelang als der Kirche im Westen, das Thema der KSZE zu verankern. Für die politische Seite im Osten wurde die Kirche seit Mitte der 70er Jahre als Verhandlungspartnerin ernster genommen, aber die Vfn. zeigt auch, wo die Gefahr zur Instrumentalisierung gegeben war. Immerhin fand 1978 das legendäre Gespräch zwischen Erich Honecker und Kirchenvertretern in der DDR statt - zwar nicht nur, aber vielleicht auch eine Wirkung der KSZE-Thematik? Für beide Kirchen allerdings war das Thema der KSZE der Beginn einer intensiveren Beschäftigung mit den Menschenrechten seit Mitte der 70er Jahre. Hierzu ergaben sich, wie die Vfn. darstellt, durch die Vollversammlung des ÖRK verschiedene Impulse. In praktischer Hinsicht eröffnete die KSZE den Kirchen in gewisser Weise eine Erleichterung von Kontakten. Es gehört für mich zu den sehr eindrücklichen Passagen der Arbeit, wie die Vfn. die Bemühungen um den Osteuropaexperten des LWB Hansen und seine Intensivierung der menschlichen Kontakte beschreibt (206 ff.). An dieser Stelle wird letztendlich deutlich, dass sowohl die politischen wie ökumenischen Verhandlungen im Dienst der Verständigung von Menschen stehen.

Als Quintessenz bleibt festzuhalten: Die Dissertation von Katharina Kunter bietet eine sehr detailreiche und exakte historische Analyse des kirchlich-ökumenischen Rezeptionsprozesses der KSZE, die - wenn man sie für die ökumenische Gegenwart fruchtbar zu machen versucht -, viele Informationen enthält, wie sich der Protestantismus im heutigen Europa besser positionieren ließe.